Kapitel III
Ich versuchte dieses unbehagliche Gefühl loszuwerden, zu ignorieren, aber egal was ich tat, nichts funktionierte. Das Gespräch der zwei Männer wiederholte sich andauernd in meinem Verstand.
«Der Vampir aus Zelle 1, hat er sich blicken lassen?»
«Nichts, aber das nervige ist, ich erreiche auch seinen Peilsender nicht.»
«Glaubst du, er hat es sich abgenommen?»
«Nein, jemand muss einen Code eingeben, um den Peilsender abzunehmen.»
«Nun, wenn wir Glück haben, kommt er zurück.»
«So wie ich ihn kenne, ist es wahrscheinlicher, dass wir ihn tot aufwinden, als dass er zurückkehrt.»
Ich saß in meiner Zelle und überlegte lange, was ich tun sollte. Ich konnte nicht wegschauen, ich kannte ihn, es war kein beliebiger Vampir. Sollte ich mich wieder freiwillig melden und ihn suchen? Es könnte aber sein, dass sie es ablehnen, weil sie Angst hatten, dass ich auch verschwinden würde. Nicht weil sie sich Sorgen machen würden, sondern weil es nicht gut aussieht, wenn zwei Vampire abhandenkommen. Ich musste nachsehen, ich musste ihn suchen, deshalb tat ich etwas, was ich bisher nur geträumt hatte.
Als die Nacht einbrach und alle nach Hause gingen, verließ ich meine Zelle. Wie man in Märchenbüchern und Gruselgeschichten erzählt, ist die Nacht der Tag für die Kreaturen, deren Angesicht die Menschen in Angst und Schrecken versetzen. Das bedeutet, dass wir erwachen und das Revier praktisch uns gehört.
Ich öffnete meine Zelle und trat in die dunkle Halle. Ich war nicht die einzige auf den Beinen. Vampir aus Zelle Nummer 3 kam auch langsam aus seinem Gefängnis raus. Er war so groß wie ich und dürr. Seine weißen Haare glänzten in dieser dunklen Nacht. Seine gelben Augen trafen meine und er lächelte.
«Dich sehe ich zum ersten Mal draußen.» Sagte er gelassen. Ich nickte ihm zu. Er hatte Recht, ich mochte es nicht, bei Nacht draußen zu sein, denn die Dunkelheit ließ mich noch einsamer fühlen. Aber hier ging es um etwas anderes, etwas Wichtiges.
«Wie kommt es dazu?» Fragte er mich und kam gelassen auf mich zu. Sein Geruch erinnerte mich an Vanille.
«Hast du gehört, was mit Derrick passiert ist?» fragte ich ihn. Er kratzte sich nachdenklich am Kopf und sagte dann: «Er ist nicht zurückgekommen, oder?» Ich nickte. Ich wollte mehr Informationen aus ihm rausholen, daher fragte ich: «Glaubst du, dass er abgehauen ist?».
Er grinste und sagte. «Ja klar, wer würde nicht abhauen.»
«Aber er hat einen Peilsender, das macht das abhauen nutzlos.» Sagte ich verwirrt. Er lachte kurz und sagte sehr überzeugt: «Die Peilsender kann man ohne Problem abnehmen, der haltet ihn nicht auf.» Er ging dann an mir vorbei und zur Cafeteria. Ich folgte ihm auf Schritt und Tritt. Die Cafeteria war nicht so groß, es passten vielleicht zwanzig Menschen hier rein. Es hatte eine lange Glasvitrine mit Essen, das die Offiziere tagtäglich verputzen. Es hatte einige lange Tische mit vielen Stühlen. Die Fenster waren riesig, und das ganze Zimmer wurde vom Mond beleuchtet.
Der Vampir schlenderte durch die Cafeteria und ging zur Vitrine. Die hatte ein Schloss. Ich stellte weitere Fragen. «Man braucht doch einen Code, um den Peilsender abzunehmen.»
Er nickte und verlängerte einen seiner Nägel, um das Schloss zu knacken.
«Die Menschen brauchen einen Code, um es abzunehmen. Einer von uns muss nur genug Mut haben, um das Ding abzureißen. Es brennt ein bisschen, aber dann ist es ab.» Er öffnete dann die Vitrine und fing an, all das Essen zusammenzustellen. Er packte Sandwiches, Pizzastücke und Donuts.
«Wenn der Peilsender aber ohne Code ab ist, sollte doch ein Alarm losgehen?» fragte ich dann.
Er lachte laut und ging mit seiner Beute zum Fenster. Auch da knackte er das Schloss und ich fing an, neugierig zu werden.
«Was machst du eigentlich?»
Er öffnete das Fenster und pfiff ein paar Mal. Auf der anderen Seite des Fensters hatte es ein paar Büsche um wohl das Revier hübscher aussehen zu lassen. Die Büsche fingen an zu rascheln und dann standen einige Streunende Hunde da, die erfreut mit dem Schwanz wedelten. Der Vampir drehte sich zu mir und sagte mit einem schelmischen Grinsen. «Ich vollbringe eine gute Tat.» Und dann beugte er sich nach draußen und verteilte das Essen an die hungrigen Hunde. Ich wollte ihm nicht dazwischen gehen und fragte auch nicht weiter. Was ich aber vorhatte, war Derrick suchen zu gehen. Dieses Gefühl ging nicht fort, und auch wenn dieser Vampir mir gesagt hatte, dass es wahrscheinlich war, dass Derrick abgehauen war, glaubte ich das nicht. Ich musste gehen, sonst wurde ich noch verrückt.
«Ich gehe ihn suchen.» Sagte ich zu ihm. Er nickte nur und ging ein wenig zur Seite. Er zeigte dann raus und sagte: «Viel Spaß.» Er schien sich überhaupt keine Sorgen zu machen.
Ich sprang aus dem Fenster und kämpfte mich zwischen fressenden und sabbernden Hunde durch, bis ich auf der Straße war. Ich drehte mich ein letztes Mal zum Vampir, der am Fensterrahmen lehnte und mir zuwinkte.
Dank meinem Orientierungssinn verlief ich mich nach ungefähr drei Minuten. Ich hatte versucht, der Richtung zu folgen, die er mir vor ein paar Tagen erklärt hatte. Aber ich kannte diese Zone nicht. Ich hätte an einer Schule vorbeikommen sollen, aber ich sah keine. Derrick hatte mir genau erklärt, wohin er gehen würde, aber auch mit der Hilfe dieser Anweisungen, hatte ich es geschafft, komplett falsch zu gehen. Ich blieb stehen und stand auf einem verlassenen Parkplatz hinter einem geschlossenen Einkaufszentrum. Wenn alles nicht klappte, musste ich halt meine Nase benutzen. Ich schloss meine Augen und konzentrierte mich auf die Gerüche, die mich umgaben.
Zuerst musste ich die Gerüche aussortieren, die nur im Weg waren. Tiere, Pflanzen, der stinkende Müll, Menschen, die vor kurzem hier vorbei gegangen waren. Dann musste ich seinen Geruch suchen. Ich versuchte mich zu erinnern, nach was er roch. Als er mit mir sprach, konnte ich trockenes Blut an ihm riechen, aber auch ein Hauch von Zimt, was eine sehr spezielle Kombination war. Ich fing dann an, diesen Geruch zu suchen. Mit geschlossenen Augen fing ich an, einem Geruch zu folgen, der Derrick sehr ähnelte. Ich ging langsam, denn mein ganzer Körper konzentrierte sich auf meine Nase, da waren meine anderen Sinne weniger stark. Vor meinen Augen sah ich mehrere Stränge von verschiedenen Farben. Jeder einzelne Strang stellte einen anderen Geruch dar. Einige waren grell und leuchteten förmlich, was bedeutete, dass der Geruch sehr stark war. Andere waren matt, fast unsichtbar, was bedeutete, dass der Geruch kaum wahrnehmbar war.
Ich folgte einem sehr blassen Strang, aber je weiter ich ging, desto mehr verfestigte sich die Farbe, bis ich Derricks Silhouette sah. Ich ging mit sicheren Schritten dem Derrick vor meinen Augen hinterher, als ein neuer Geruch sich mit ihm vermischte. Verbrannt.
Ich versuchte, mein klopfendes Herz zu ignorieren, und erhöhte mein Tempo. Aber meine Nase konzentrierte sich auf das “verbrannt” und die Silhouette verschwand vor meinen Augen. Ich öffnete sie und sah mich um. Ich konnte ihn nirgends sehen, aber ich hatte dieses unbehagliche Gefühl, dass er mich sehr gut sah.
«Ich hab dich schon gerochen, komm raus.»
Ich hörte leichtes Lachen, dann tauchte er aus dem Schatten der Nacht auf. Ich konnte nun in sein Gesicht blicken. Seine dunklen Haare hingen wie ein Vorhang vor seinen komplett weißen Augen. Die dank seiner etwas dunkleren Haut sehr stark herausstachen. Solche Augen waren selten bei den Vampiren, das bedeutete, dass er wohl ein Hochrangiger war, also ein Vollblut.
Es gab drei Arten von Vampiren: Vollblüter. Dessen Eltern waren beide Vampire und das machte sie mächtiger als alle anderen, sie hatten auch spezielle Kräfte. Diese Kraft wurde „Nux“ genannt, was Kern bedeutet. Sie war der Kern der Existenz dieser Vollblüter. Wenn du den Nux eines Vollblüters kanntest, dann kanntest du dessen ganzer Familienbaum und könntest sogar in der Lage sein, ihn auszulöschen.
Dann gab es die Halbblüter. Wie der Name schon preisgab, war ein Elternteil menschlich. So einer war ich. Eigentlich sind die meisten von uns, Halbblüter. Wir Halbblüter haben kein Nux, aber wir haben stärkere Sinne als andere. Deshalb ließ ich mich oft von meiner Nase führen, denn sie war wie mein drittes Auge. Halbblüter teilten sich dann auch in zwei Kategorien auf: gelbäugig, das waren diejenigen mit ausgeprägten Sinne und rotäugige, die ausgeprägte Merkmale hatte. Wie zum Beispiel super schnell oder sehr stark, und so weiter.
Zu guter Letzt, gab es Mischlinge. Mischlinge waren am niedrigsten und waren verwandelte Vampire. Sie wurden Mischlinge genannt, weil ihr Menschenblut mit dem eines Vampirs vermischt wurde. Sie besaßen keine Kräfte und auch keine hervorragenden Sinne, sie waren nur Menschen, die sehr gern Blut tranken, und wurden deshalb in der Vampirgesellschaft nicht gut angesehen, auch weil sie sich besser unter den Menschen verstecken konnten.
Der Vollblütige vor mir beobachtete mich leise. Er hatte seine Hände in den Taschen seines langen Mantels und bewegte sich nicht vom Fleck. Er hatte eine bedrohliche Aura, aber ich konnte nicht einschätzen, ob ich in Gefahr war oder nicht.
«Du warst doch diejenige, die mich damals beobachtet hat, oder?» Fragte er mich aus dem Nichts. «Damals bei der Leiche. Was hast du da gesucht?» Diesmal machte er einen Schritt auf mich zu, aber ich zuckte nicht weg. «Das könnte ich dich auch fragen. Was hast du mit der Leiche gemacht? Wohin hast du sie gebracht?» fragte ich ihn.
«Dir werde ich überhaupt nichts sagen. Du bist doch einer der kleinen Jagdhunde der Polizei.» Er zeigte auf meinem Hals und sagte: «Dein kleines Halsband leuchtet so schön.» Da er anscheinend keine Lust hatte, meine Fragen zu beantworten, entschied ich mich, ihn zu ignorieren. Ich musste Derrick finden.
Ich schloss wieder meine Augen und konzentrierte mich auf Derricks Silhouette, auf seinen Geruch. Ich bewegte mich in diese Richtung, aber meine Nase zuckte heftig, weil der Gestank von Verbrannt mir folgte. Ich ignorierte es und folgte weiter Derricks Silhouette. Plötzlich hielt er an und ich beobachtete, wie er die Hand auf seinen Nacken legte und dann etwas Kleines in die Büsche schmiss.
Ich folgte dem Geruch von Zimt und fing an, mich durch die kurzen Ästen zu kämpfen, bis ich auf das stieß, was ich am wenigsten erwartet hatte. Ich hielt Derricks Peilsender in meiner Hand.
Ich starrte wortlos auf das kaputte Stück Metall in meiner Hand. Der Vollblütige näherte sich neugierig und fragte dann: «Was ist das?» Meine Antwort kam aus Reflex, denn meine Gedanken wanderten. «Peilsender.»
Wieso war er in dieser Gegend? Das war nicht die Zone, die er patrouillieren sollte. Wieso hat er sich den Peilsender rausgerissen? Wo war er hin?
«Wieso hatte er einen Peilsender?» fragte der Vollblüter verwirrt. «Wenn wir auf Patrouille gehen, müssen sie wissen, wo wir sind.» Etwas ergab aber keinen Sinn. Wenn er abhauen wollte, wieso hatte er es nicht bei Nacht getan, so wie ich? War es nicht riskanter den Peilsender abzureißen und damit zu rechnen, dass man ihn suchte?
Ich steckte mir den Peilsender ein, schloss meine Augen und versuchte herauszufinden, wohin er als nächstes ging, aber der Vollblüter fing an zu reden: «Darf ich dich fragen, wieso du ihn suchst?» Es klang nach einer genuinen Frage, daher antwortete ich: «Weil ich ein ungutes Gefühl habe. Normalerweise versuche ich mich aus allem rauszuhalten, aber diesmal konnte ich diesen Gedanken nicht aus meinem Kopf loswerden.»
Er nickte langsam und schien zu überlegen. Aber bevor er sprechen konnte, stellte ich ihm eine Frage. «Wieso hast du mich verfolgt?»
«Weil dein Geruch an der Leiche war, da musste ich nachsehen, ob du etwas damit zu tun hast.»
Das klang plausibel.
Die Silhouette vor mir lief nun weiter, als würde er genau wissen, wohin er gehen musste. Ich folgte, der Geruch von verbrannt war genau hinter mir. Dann geschah etwas Komisches. Die Silhouette von Derrick fing an, mit jemandem zu sprechen, aber ich konnte ihn nicht riechen. Diese Person hatte keinen Geruch.