3. Kapitel
Die kühle Glasscheibe ließ mich zusammenzucken, als meine Wange im Halbschlaf auf sie knallte.
Sofort richtete ich mich wieder auf. Hatte ich vorher schon geschlafen oder war das nur ein Sekundenschlaf gewesen?
Ein Blick auf den Himmel beantwortete meine Frage. Obwohl alles um uns herum von einer weißen Schicht bedeckt war, strahlte die Sonne von einem grellen blauen Himmel auf die Landschaft hinab. Mindestens 10 Uhr morgens. Verwirrt versuchte ich mich weiter zu orientieren. Wo waren wir? Die nächste Kurve kam mir auf jeden Fall bekannt vor.
Das nächste Schild bestätigte meine Vermutung - das hier war die Autobahnausfahrt nach Perm.
«Braucht ihr meine Adresse oder so?», lenkte ich die Aufmerksamkeit auf mich.
«Nope, ich kenne sie noch.»
«Das war vor einem fucking Jahr. Wie kannst du dich noch daran erinnern?»
«Vor einem Jahr? Das glaubst nur du!»
Was sollte das jetzt heißen? Hatte Andrey in der Zwischenzeit meinen Eltern einen Besuch abgestattet?
Ich tauchte wieder in die Stille. Wie würden die nächsten Augenblicke vergehen? Es mussten sich schon alle Sorgen machen, dass ich mich nicht, wie versprochen, bei der ersten Möglichkeit gemeldet hatte. Waren Oleg, Nastja und Jana vor uns angekommen, da wir einen Umweg gemacht hatten? Die Geschichte, die sie über mich bereits verbreitet haben mussten, war sicherlich eine mitreißende.
«Jetzt dürfen wir sicher bei dir schlafen, oder?»
Trotz dem Sarkasmus in Nikolais Stimme, sprang ich fast auf. Ein Glück, dass ich angeschnallt war.
«Oder bei Oleg?», ergänzte Andrey.
«Bei dem bitte. Meine Eltern lassen nicht einmal den Freund meiner kleinen Schwester bei uns übernachten, zwei Soldaten kommen sicher nicht so gut an.»
«Na toll! Nikolai, ich habe doch gesagt, wir sollten sie in der Taiga lassen.»
«Danke, Andrey. Schon einmal etwas von Hotels gehört?»
Ich wusste selbst nicht, was ich wollte. Einerseits hinaus aus diesem Auto und einige ruhige Minuten für mich selbst, anderseits, dass sie mich nicht wieder alleine ließen.
Hinter Nikolai auf der Rückbank zu sitzen hatte sich erstaunlicher Weise wie ein Throwback nach Abu Dhabi angefühlt. Nein, meine Zeit dort war nicht eine schöne gewesen, aber eine die ich niemals vergessen würde.
«Verdammt, Leandra, du sollst ein Buch darüber schreiben!», hatte Österreichs Innenminister gesagt, nachdem ich ihm zum ersten Mal jedes Detail verraten hatte.
Um ein Buch zu schreiben war ich zu unkreativ, aber ihm konnte ich nur zustimmen.
Ein Ultimatum, eine Fluchtfahrt gefolgt von einem Crash, meine erste Begegnung mit Nikolai, unser gemeinsamer Fluchtversuch, der Mord seines Kameraden, die Zeit im Gefängnis - darüber konnte man nicht nur ein Buch schreiben, sondern eine ganze Serie verfilmen.
Und jetzt saßen wir schon wieder hier. Er, ein doppelter Verräter, der sich wieder an die Spitze zurückgekämpft hatte und ich, eine ehemalige Ministerin, die durch einen dummen Vorfall mit ihm im selben Auto gelandet war.
«Wer zahlt fürs Hotel?»
«Wer trägt eine Rolex an der Hand?», konterte ich Andrey.
«General Titarenko?»
«Möglicherweise ja, der Speznas Operator hier, aber auch!»
«Wir sind bei einer Übung, hast du es vergessen?»
«Deswegen muss ich euch zu mir lassen?»
Nur noch zwei Straßen bis zu meinem Haus und wir hatten immer noch keine einzige Entscheidung getroffen.
«Okey, wir hauen schon ab, aber glaub nicht, dass wir nichts dafür wollen.»
Im Grunde genommen, war ich ihnen ziemlich viel schuldig. Sie hatten eine militärische Übung abgebrochen, um mich in die entgegengesetzte Richtung zu chauffieren.
«Spasibo.»
Was gab es ansonsten noch zu sagen?
Vor dem fast leeren Parkplatz eines Montagmorgens, an dem alle unsere Nachbarn arbeiten waren, brachte Andrey den Mercedes zum Stehen.
Innerlich flehte ich, dass meine Mutter einfach nicht aus dem Fenster schauen würde. Sie hatte schon genug mit meinen Speznas Leuten durchgemacht. Wenn sie mich wieder aus einem Mercedes mit getönten Scheiben steigen sehen würde, würde sie schlicht und einfach kollabieren.
Nikolai öffnet mit einem Knopfdruck den Kofferraum, der sich surrend nach oben bewegte. Auf dem schwarzen Lack waren die Spuren der Fahrt durch die Taiga sichtbar. Ein Merkmal, welches ganz und gar nicht zu den Diplomatenkennzeichen passte.
«Ihr seid sicher, dass ihr nichts braucht?»
«Nein, alles gut», lehnte Nikolai mit einem Lächeln ab, «aber glaub nicht, dass du uns jetzt los bist.»
«Mittlerweile lebe ich nur noch von Tatsachen, ich glaube nichts», winkte ich ab.
In Wirklichkeit glaubte ich trotzdem an vieles. Zum Beispiel daran, dass morgen ein ganz normaler Tag sein würde.
06:32 Perm, 24. Jänner
«Wenn die die Straße nicht bald mit einer Schneeräummaschine ausschaufeln, fahre ich morgen mit einem Panzer zur Arbeit.»
Die Stimme meines Vaters und das helle Lachen von Mitya ließen mich für eine einzige Sekunde den Blick von meinem Handy reißen.
«Jaaa, ich will mit!», rief mein kleiner Bruder, worauf meine Mutter und Lena zu kichern begannen.
«Wie viele passen den überhaupt in einen Panzer?», wandte meine Mutter schließlich ein, «Lea?»
«Drei bis vier.»
Mein Kopf war meilenweit von diesem Gespräch entfernt. Wie konnte es sein, dass ausgerechnet jetzt zwei unbeantwortete Nachrichten auf mich warteten, die mich unmittelbar dazu zwingen würden, meine Eltern anzulügen.
«Das ist unfair, warum darf Lea zu Hause bleiben, während ich zur Schule muss?»
Verdammt, konnte dieses Kind leise sein? Ich hatte momentan eindeutig größere Probleme!
«Sie muss Bewerbungen schreiben, das ist auch harte Arbeit», beruhigte mein Vater ihn.
Nein, daran war gar nicht zu denken. In spätestens zwei Stunden würde ich in einem Flugzeug sitzen - in welchem, das musste ich jetzt unmittelbar entscheiden.
«Ihr wisst ja, solche Sachen entscheiden über euer Leben», fügte meine Mutter hinzu, «Alina dachte auch, sie schickt nur einen Brief weg und jetzt verdient sie das Doppelte von eurem Vater.»
«Das stimmt», seufzte er, «Leandra, mach ihr nach, aber zieh bitte nicht wie sie nach Novosibirsk.»
Meine Geschwister starrten mich ehrfürchtig an. Sie konnten ja nicht wissen, dass ich gerade mit demjenigen schrieb, mit dem mir mindestens 3000 Prinzipien, die uns unsere Mutter eingeschärft hat, verboten zu kommunizieren.
«Detka, ich weiß es ist verflucht egoistisch, aber ich habe hier ein Angebot für dich», schrieb der österreichische Innenminister, «mir ist klar, dass du nicht meine Pressesprecherin werden willst, doch das schlage ich dir auch gar nicht vor. Es würde mich keine drei Tage kosten, um aus dir eine österreichische Diplomatin zu machen. Bitte denk darüber nach und sei dir bewusst, dass das kein Scherz ist. Ich schätze weitaus mehr in dir als du glaubst. Wir wissen beide, dass du weißt, wie Politik funktioniert - es liegt nur noch an dir zu entscheiden, ob du es willst.»
Zum Teufel, konnte er sich überhaupt vorstellen, wie sehr ich das wollte? Ich liebte Österreich, die Politik, den Kampf gegen die Korruption, vor allem aber ihn - auch, wenn ich es mir selbst niemals eingestehen würde.
Doch, wie konnte ich ohne Medienaufmerksamkeit zu erhalten auf einmal Österreich vertreten? Was würde ich meiner Familie darüber erzählen? Dass ich mich dort auch einfach so beworben hatte?
Und das größte Problem war immer noch die zweite Nachricht. Hätte ich Nikolais Drohung ein wenig ernster genommen, wäre ich vielleicht zumindest mental darauf vorbereitet gewesen.
«Kurz und knapp: General Titarenko will dich in Moskau sprechen. Wir würden aus Perm deinen Jet nehmen. P.S. Falls du nein sagst, nehmen wir deinen Jet trotzdem», so lauteten die Worte von Andrey.
Ich konnte eines machen, ich konnte beides, aber eine Sache konnte ich nicht: beides ignorieren. Zusammengefasst, das war der schnellste Weg in die nächste Katastrophe.
«Ich habe, um ehrlich zu sein, heute schon ein Gespräch in Moskau.»
Drei verwunderte Gesichter starrten mich an. Meins nahm den denselben Ausdruck an. Hatte ich diese Entscheidung gerade unterbewusst getroffen? Blyat, das würde nicht gut enden, das wusste ich. Erstens würde ich gleich wieder eine saftige Lüge auftischen müssen und zweitens wer wusste schon, was man dort von mir wollte?
«Seit wann weißt du davon?»
Ich strich mir seufzend eine Strähne aus dem Gesicht, bevor ich meinem Vater geradewegs in die Augen blickte.
«Seit 15 Minuten.»
Das war noch nicht gelogen.
«Und was für ein Job ist das?»
Meine Geschwister hatten anscheinend vor, mich heute umzubringen. Zuerst Mitya mit seinen Beschwerden und nun Lena mit dieser Frage.
«Das weiß ich nicht, die Firma will mich mal kennenlernen.»
Sogar die Krawatte meines Vaters musste wissen, dass das ein kompletter nonesense war.
«Welche Firma?»
Meine Mutter hatte ihre Augenbrauen misstrauisch hochgezogen und musterte mich mit ihrem Scanner-Blick.
Ein unglaublich gute Frage, so weit hatte ich noch nicht gedacht.
«Gazprom», brachte ich schließlich heraus.
Alle nickten respektvoll.
«Das ist die Chance deines Lebens, Leandra. Du hast doch immer von Moskau geträumt, wäre das nicht eine Möglichkeit für dich und Oleg?»
Der Optimismus in der Stimme meiner Mutter ließ mich beinahe meine eigene Lüge glauben.
Doch dann fiel mir wieder ein, dass zumindest Oleg schon aus dem Spiel war. Ich hatte weder mit ihm noch mit Nastja oder Jana seit gestern Kontakt gehabt. Ob sie sicher angekommen waren, konnte ich auch nicht sagen.
«Mama, ich war schon mal in Moskau.»
Ein leichter Gedankenanstoß an meine Zeit als Ministerin.
Sie zuckte mit den Schultern: «Nicht mit Oleg.»
«Ja, traurig. Ich gehe mich jetzt fertigmachen», wimmelte ich sie ab.
«Lenk nicht vom Thema ab!», rief mir mein Vater hinterher.
Wenn er bloß wüsste, von was ich in Wirklichkeit ablenkte!
Meine Geschwister verließen mit einer Spur zu viel Lärm das Haus, während ichmeinen Koffer unter dem Bett hervorzog. Würde das ein Kurztrip nach Moskau odereine Reise nach Wien sein? Konnte ich tatsächlich danach einfach weiter nachÖsterreich fliegen? Mit einigen tiefen Atemzügen versuchte ich mich zuberuhigen. Vor meinem inneren Auge visualisierte ich die nächsten Tage.
Egal, was Vasily von mir wollen würde, ich bräuchte für Moskau sicherlich nichtmehr als ein bis zwei elegante Kleider und einen Mantel. Oder doch was anderes?Ich schmiss ein dunkelgrünes Kleid wieder aus dem Koffer. Um ehrlich zu sein,ich hatte eine unglaubliche Angst vor diesem Treffen. Zwar hatten wir unsdamals in einem positiven Weg verabschiedet, aber der Kontakt war nach und nachabgebrochen - trotz seiner Bitte, ihn nicht zu vergessen.
Was konnte er von mir wollen, wo ich nun keine Rolle mehr in der Politikspielte? Gut, ich war im Oktober einmal im österreichischen Parlament, keinWort verstehend, gesessen. Das konnte er aber sicherlich nicht wissen.
Das Kleid landete wieder im Koffer. Es war langweilig, aber falsch konnte mannichts damit machen. Doch was war jetzt mit Österreich? Wollte ich wirklich ineiner Position landen, die ich mir keineswegs verdient hatte und dabei nocheine Familie Tag für Tag zerstören?
Ich warf ein rotes Spitzenkleid hinterher, bevor ich mich wieder auf mein Bettsetzte. Mit einem Griff packte ich mein Handy und drückte auf seine Nummer.Jetzt lag es an ihm, mich zu überzeugen.
«Hallo, ich fahre gerade mit Kathi zu ihrer Schwester. Was gibt es?»
Klasse Begrüßung, oder eher gesagt eine gelungene unterschwellige Warnung,nichts Falsches zu sagen.
«Es ist nicht wichtig. Ich wollte mich nur von dir überzeugen lassen.»
Hofften wir mal, dass er nicht über den Lautsprecher sprach.
«Du kannst Politik machen, das ist genug.»
Es faszinierte mich immer wieder, wie er sofort verstand, was ich meinte -egal, wie abstrakt die Aussage war.
«Aber wieso muss ich dafür so Vieles riskieren?»
«Was riskierst du denn? Du bist 24, du kannst machen, was du willst, auch ohne,dass dich deine Familie dabei unterstützt.»
«Ich riskiere nicht meine, sondern deine Familie!», spuckte ich förmlichheraus.
«Nein, das riskierst nicht du. Das riskiere ich.»
Die Ernsthaftigkeit in seinen Worten und die Ruhe in seiner Stimme ließ michschwer schlucken. So eine Geschichte hatte ich schon einmal durchgemacht undeine Frage hatte ich mir immer noch nicht beantworten können. Wer war amFremdgehen schuld? Derjenige, der es tat oder der, der einen dazu verleitete?
«Ich werde dir später Bescheid geben. Gut? General Titarenko will mich nämlichunbedingt in Moskau sprechen.»
«Natürlich, melde dich einfach wieder, wenn du Zeit hast.»
Würde seine Frau nicht neben ihm sitzen, hätte er mich schon längst nach jedemDetail gefragt und das Gespräch sicherlich nicht mit so einer trockenen Phrasebeendet.
Ich ließ mein Handy wieder auf das Bett fallen. Zuerst Moskau und dann Wien -so hieß mein Plan für jetzt.
Seufzend bückte ich mich über den Koffer. Das Leben war viel leichter gewesen,als ein Stylistin immer erreichbar gewesen war. Konnten sich meine Outfitsnicht wieder von selbst planen?
«Leandra?»
Meine Mutter kam, ohne meine Antwort abzuwarten, in mein Zimmer. Obwohl ichnichts Geheimes machte, sprang ich sofort von dem beigen Teppich auf.
Nach meiner Rückkehr aus Abu Dhabi hatte ich es nicht lassen können, meinehemalig pinkes Zimmer in ein schlichtes Weiß umzufärben. So hatten auch diebeigen Möbeln, sowie der Teppich ihren Weg hierher gefunden.
«Packst du schon?»
«Nein, ich verstecke meine Drogen.»
Diese Art von Scherzen konnte ich bei bestem Wille nicht lassen. Auch, wenn ichbereits 100-mal darüber informiert worden war, dass sie unnötig, unangenehm undein einfach unlustig waren.
Sie verdrehte ihre mit braunem Lidschatten geschminkten Augen.
«Und ich frage mich dann noch, woher Lena ihre Party-, Alkohol undalle-Regel-missacht-Phase hat.»
«Nicht von mir», ich sah sie gespielt beleidigt an, «mich lacht sogar Oleg aus,weil ich nie zu Feiern mitkomme oder was trinke.»
«Da weiß ich nicht einmal, welches Ende besser ist. Ihr könntet ja beide malversuchen die goldene Mitte zu finden. Aber was ich dich fragen wollte, mit wemhast du auf Englisch geredet?»
Ihr Frage ging innerhalb von Sekunden unter. Hatte sie gerade den goldenenMittelweg von Aristoteles erwähnt? Denselben über den ich mit Iskander kurz vormeinem Abflug diskutiert hatte?
«Der Mittelweg ist nie eine gute Lösung», begann ich meinen demagogischenAuftritt, «man wird sich selbst vielleicht damit für einen Augenblick bewahrenkönnen, aber man wird am Ende immer zwei Seiten als Feind haben.»
Was zum Teufel hatte ich überhaupt gesagt? Sie konnte ja nicht wissen, mit wasich ihre Aussage assoziiert hatte!
«Alles klar, Leandra. Man merkt, dass du eine sehr gut ausgebildete junge Fraubist, aber bitte versuch mich nicht zu verstören.»
«Sorry, Mama, ich hatte gerade nur eine komische Assoziation mit dem Ganzen.»
«Macht nichts», sie lachte kurz irritiert auf, «magst du mir trotzdem verratenmit wem du gerade geredet hast?»
Eigentlich nicht. Wie sollte ich das aber formulieren?
«Mit einem Bekannten aus Österreich.»
Einerseits hätte ich es neutraler nicht sagen können, anderseits würde sie beidieser wagen Antwort sofort Verdacht schöpfen.
«Oh, kenne ich ihn?»
Ich warf das letzte Stück Kleidung in den Koffer. Eine rosè Bluse, die niemalsfehl am Platz war.
«Glaube ich nicht.»
«Oh», ihre Augen flogen kurz zu dem Pass auf meiner Schublade, «wirst du ihndanach auch besuchen?»
Konnte dieses Frau seit Neuestem Gedankenlesen, oder war das pure Intuition,die ihr ihre Tarot-süchtige Freundin beigebracht hatte?
«Wie kommst du denn jetzt drauf?»
«Weil du deinen Pass vorbereitet hast.»
«Inland kannst du ja trotzdem nicht ohne fliegen», das war im Allgemeinen nichtfalsch.
«Du hast ja ein eigenes Flugzeug.»
Das war ein gutes Argument. Doch sie würde wohl nicht wegen einem einzigenReisepass auf die Wahrheit kommen können! Meinetwegen irgendein zu freizügigesKleidungsstück aus Spitze oder eine offensichtliche Lüge von mir, aber keinverdammter Pass!
«Ich möchte trotzdem auf Nummer sicher gehen.»
«Das ist nicht der Punkt.»
Was war dann der Punkt? Ich sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an.
«Glaub nicht, dass ich nicht merke, wie du mal wieder etwas verheimlichst.»
«Wieso?», versuchte ich sie zu unterbrechen.
«Weil du seit dem September dreimal mit Nastja irgendwo warst.»
Ihr Blick wechselte aus vorwurfsvoll zu auffordernd.
«Na, und?»
Ich biss mir auf die Lippe. Er hatte vorher klar und deutlich gesagt, dass mirmit 24 Jahren die Meinung meiner Eltern egal sein konnte. Das konnte ich bis zueinem gewissen Grad vertreten, was sollte ich jedoch tun, wenn sie mich nun zurRede stellte? Wie war es ihr aufgefallen? Doch nicht wegen diesem Pass jetzt!
«Nastja aber nicht mit dir.»
Blyat, das war es also. Wo und wieso hatten sie darüber geredet?
«Ich habe sie letzte Woche beim Juwelier getroffen, als ich meine Kette abholenwollte. Sie war mit ihrer Mutter dort und es waren beide übelst fasziniert zuwissen, dass sie in den letzten vier Monaten in Wien, Graz und Linz gewesensein sollte. Ein Zufall, oder, dass alle drei Städte in Österreich liegen?»
Totaler Stillstand in meinem Kopf. Kein einziges Argument kam mir in den Sinn.Kein einziges. Nicht einmal eine dumme Ausrede.
Es sollte mir doch egal sein, schaltete ich mich selbst. Trotzdem beschleunigtesich mein Puls schlagartig.
«Mama, ich bin 24. Hast du in diesem Alter deinen Eltern jedes Mal einenBericht über deine Reiseziele abgeliefert?»
«Du hättest mir ja auch keinen Bericht schreiben sollen. Wie wärs damit -Mama,ich fahre nächste Woche zu einem Freund nach Österreich - ohne Lügen. Ist dasso schwer?»
«Du hättest weitergebohrt.»
Stilvoller hätte ich mich selbst echt nicht verraten können.
«Und was ist daran so schlimm? Wenn du dort einen Liebhaber hast, bitte! Wie duselbst sagst, du bist 24, warst bereits an der Spitze unseres Landes - dukannst machen, was du willst. Doch solange du ein Geheimnis daraus machst,werde ich annehmen, dass du etwas Schlimmes machst, okey?»
Meine Hand rutschte von der Makeup-Tasche, die ich zu füllen versucht hatte.Sie hatte einen sehr akkuraten Punkt getroffen. Ich machte etwas Schlimmes.Etwas sehr Schlimmes. Aber wieso konnte etwas, was sich so richtig anfühlte, sofalsch sein?
Throwback Anfang
19:47 Wien, 3. November
Überraschungsbesuche waren ja eine Sache, eine andere waren sie, wenn zweiLeute sich gleichzeitig dazu entschieden. Zwei Leute, die sich besser nichttreffen sollten. Um genauer zu sein, ich und seine Frau.
Sie stand an ihre Autotür gelehnt und starrte mir regelrecht in die Augen.Zumindest fühlte es sich so an. Die Fensterscheiben des Autos, welches er mirgeliehen hatte, waren zum Glück getönt - der Effekt wurde dadurch nichtweniger.
Außer, wenn sie komplett von Intelligenz befreit war, musste sie schon längstbemerkt haben, dass das sein Wagen war.
Und das brachte mich in eine Zwickmühle. Würde ich jetzt wegfahren, würde sieregelrecht die Krise kriegen. Aber spätestens, wenn er hinauskommen und inseinen um die Ecke stehenden Maybach steigen würde, würde es ihr sowiesoauffallen.
Guten Abend, Wien. Falls ich hier lebend hinauskommen würde, würde ich eineKerze in der Kirche anzünden gehen.
Innerlich flehte ich sie darum an, einfach zu ihm hineinzugehen. Warum musstesie unbedingt draußen warten?
«Kannst du bitte der Kathi sagen, dass sie zu der hineinkommen soll?»
Statt zwei Überraschungsbesuchen bekam er nun keinen einzigen - dafür hatte ichmit einer einzigen WhatsApp gesorgt.
«Worüber redest du?»
Seufzend spielte ich mit meinem Armband. Wie sollte ich das jetzt erklären,ohne eine Masterarbeit schreiben zu müssen?
«Machs einfach. Wenn sie fragt, woher du das weißt, jemand hat es dir erzählt,okey?»
«Meinetwegen, aber ich erwarte eine Erklärung von dir!»
«Ja, ja. Danke, übrigens.»
Zwei Minuten - nichts rührte sich. Wer von ihnen veräppelte wen? Ungeduldig gabich mit dem Autoschlüssel Kontakt. Auf eine dümmere Idee hätte ich wahrhaftignicht kommen können!
«Wirds noch was?», hoffentlich konnte er meine Ungeduld in den Buchstabenerkennen.
Wie mit Absicht, blieb die Nachricht ungelesen. Ja, natürlich konnte er inseinem Job als Minister auf so einige unerwartete Sachen stoßen, aber wiesoausgerechnet jetzt? War das mein Karma? Oder hatte es einen höheren Sinn? Erhatte keine Schichten und keine Arbeitszeit, an der ich mich orientieren konnte.Mit etwas Pech konnte ich noch lange warten. Sehr lange.
Mit einem tiefen Atemzug drehte ich den Schlüssel bis zum Ende und schalteteauf den ersten Gang. Ein kontrollierender Blick aus dem Fenster bewies mir,dass seine Frau das Auto geschockt anstarrte. Verflucht. Trotzdem drückte ich auf das Gaspedal und begann mich zu entfernen.
Wohin eigentlich? Ins Hotel? Oder hinter dem Gebäude parken und dann durch dieGarage hineingehen? Nein, das war nicht die Lösung. Weg von hier, hieß dereinzige richtige Weg. Mein Herz klammerte sich zusammen, als ich auf den starkbefahrenen Ring fuhr. Autos stauten sich, hupten, überholten. Und ich - LeandraVorobjowa - hatte wohl immer noch nicht aus meinen Fehlern gelernt. Wiederbefand ich mich in einem fremden Land und immer noch ohne Führerschein. Würde ich hier lebendig herauskommen? Wenn nicht, dann wäre es ein sehr gerechteStrafe.
Throwback Ende