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4. Kapitel

«Komm, Lea, ich fahre dich zum Flughafen.»

Meine Mutter wedelte mit dem Autoschlüssel vor meiner Nase herum.

Wir standen beide neben meinem viel zu schweren Koffer auf der Veranda und blickten auf ihren rote Kia SUV. In drei Minuten sollte Andrey mich abholen kommen - und das war ein sehr großes Problem.

Meiner Mutter irgendeine Lüge aufzutischen, würde ich nicht mehr schaffen. Doch was würde sie denken, wenn ein schwarzer Mercedes mit getönten Scheiben mich abholen würde? Immer noch, dass ich mich bei Gazprom bewarb?

Nervös strich ich über meinen schwarzen Mantel, der mein dunkelblaues Kleid komplett verdeckte.

«Es passt schon. Ein Freund holt mich ab.»

«Oleg?», Hoffnung machte sich in ihrer Stimme breit.

«Nein», ich verdrehte meine Augen, «Andrey.»

«Den kenne ich jetzt aber nicht.»

«Fix, du hast ihn sogar einmal getroffen!»

Dazu musste ich nicht einmal lügen. Letzten März hatte er gemeinsam mit Vasily eine Hausdurchsuchung vorgetäuscht, um mir zu helfen, nach einem Eklat mit meiner Familie mein Handy zu finden.

Nachdenklich musterte sie mich. Doch dazu, mich weiter auszufragen, kam sie nicht mehr. Ihr Mund blieb jedoch trotzdem offen stehen. Der sportliche Mercedes bog auf die immer noch verschneite Auffahrt, bevor er neben ihrem Kia zum Stehen kam. War das gestern nicht noch ein gigantischer Geländewagen gewesen?

«Wo soll ich ihn denn getroffen haben?», murmelte sie mit geweiteten Augen.

Doch sie war nicht dumm - das war ein Fakt. Ein paar Minuten und sie würde ganz genau draufkommen, welcher Andrey das sein sollte. Je schneller ich wegfuhr, desto geringer war die Gefahr, ihr einen Herzinfarkt zu verpassen.

«Also gut», ich drückte sie schnell an mich, «ich fahre dann mal.»

«Pass auf dich auf. Auch bei deinen kriminellen Angelegenheit in Wien.»

Ich ließ sie wieder los und blickte sie leicht grinsend an: «Zurück wird mich sicher die Speznas bringen müssen.»

Wir mussten beide lachen, während ich die Treppen hinunterschritt. Wenn wir damals nur wüssten, wie sehr sich dieser Satz bewahrheiten würde...

Mit etwas zu viel Schwung warf ich meinen Koffer in den Kofferraum, so dass das ganze Auto einen Wackler machte. Meine Mutter nun endgültig ignorierend, stieg ich durch die hintere Tür des AMG Mercedes ein.

Zu meiner Verwunderung, war der Beifahrersitz leer. Dafür hatte Andrey seinen Kopf zu mir gedreht und grinste belustigt.

«Magst du mich nicht, oder gibt es einen tieferen Grund, warum du nicht vorne sitzen willst?»

Seine tiefe Stimme ließ mich frösteln. Die Muskeln seines Unterarms, die unter seinem hochgerutschten Ärmel zu sehen waren, brachten mich dazu, meine Augen zu schließen. Was war der eigentliche Fehler gewesen? Im letzten Frühling aufgegeben zu haben, oder nun wieder in diesen Kreis geraten zu sein?

Es war nicht meine Schuld, redete ich mir ein. Wir waren gestern in einen Crash verwickelt gewesen. Es war um meine Sicherheit und mein Leben gegangen. Nicht um mehr und nicht um weniger.

«Leandra?»

Meine Augen wieder aufschlagend, traf ich seinen Blick.

«Mmh?»

«Ich habe gesagt, du kannst dich gerne nachvorne setzen, wenn du magst.»

«Wo ist denn Nikolai?», mein Kopf war immer noch nicht so ganz hier.

«Nach Abu Dhabi abgehauen.»

«Was?! Wie bitte?»

Abrupt richtete ich mich auf.

Andrey lachte in einem Ton auf, der jede Nervenendung in mir zu treffen schien. Wieso hatte ich mich damals ihm gegenüber so benommen? Dieser Mann, war damals 24/7 an meiner Seite gewesen und ich hatte mir niemals eingestehen wollen, dass er mir vielleicht doch mehr bedeutete als eine Nacht. Jetzt saß ich wie ein Opfer in seinem Auto und bereute die letzten 10 Monate mehr als sonst irgendetwas.

«Jemand muss ja denn Wagen wieder zurück nach Moskau fahren. Der hier ist ja nur geliehen.»

«Oh.»

Vor meinen Augen spielte sich unsere letzte Begegnung ab. Er war mir damals mit brennender Kälte begegnet - wie würde ich die nächsten vier Stunden mit ihm alleine aushalten?

«Setzt du dich jetzt nach vorne?»

«Ist das ein Kommando oder ein Vorschlag?»

Verdammt, was redete ich und vor allem was tat ich? Meine Mutter stand immer noch auf der Treppe und beäugte das Auto mit zusammengezogenen Augenbrauen. Wie lange saßen wir schon hier? 3 Minuten? 4? 5? Sie hatte eindeutig das Recht, sich zu fragen, was wir gerade machten.

«Ein Kommando.»

Seine Stimme war staubtrocken.

«Ich bin kein Sold...»

Sofort brach ich den Satz ab und richtete meinen Blick auf den Fußboden. Nein, es war nicht der richtige Moment, um solche Sachen von sich zu geben.

«Du sollst mich einfach in Ruhe lassen und meine Entscheidung respektieren, Soldat», hatten meine letzten Worte an ihn gelautet.

Würde er jetzt auch daran denken müssen?

«Dann halt nicht.»

Seinen Kopf wieder nach vorne wendend, startete er den Motor.

«Warte!», er ließ die Kupplung so abrupt los, dass das Auto abstarb, «ich setze mich doch nach vorne.»

Den irritierten Blick meiner Mutter ausblendend, stieg ich aus, nur um vorne wieder einzusteigen.

«Leandra, du bist ja noch schlimmer als früher.»

Mittlerweile hatte er den Wagen wieder gestartet und wendete ihn in der Einfahrt.

«Was war denn früher so schlimm an mir?»

Das war eine sehr schlechte Frage. Eine sehr, sehr schlechte. Andrey war kein Idiot, er erinnerte sich zweifellos an noch mehr Details als ich.

«Früher wärst du aus Protest hinten sitzengeblieben. Um herauszufinden, warum du jetzt auf einmal doch nach vorne willst, braucht man ein ganzes Einsatzkommando.»

Ich lächelte kurz, jeglichen Augenkontakt vermeidend. Das war seine aufrichtige Art, Scherze zu machen. Hieß es, dass er mir vielleicht doch irgendwo im Unterbewusstsein verziehen hatte?

Wir bogen in eine der letzten Straßen Perms. Häuser mit hellen Fassaden reihten sich aneinander. Selbst im Winter konnte man klar und deutlich sehen, dass hier im Sommer unzählige Rosensträucher blühen würden.

Meine Augen fixierten einen Eiszapfen, der an der Rinne eines Hauses hing. In ihm wurde das Licht der strahlenden Sonne so sehr reflektiert, dass ich für einige Sekunden in die andere Richtung blinzeln musste. Doch, als ich zurückblickte, sah ich, dass das Licht aus dieser Perspektive in sein Spektrum aufgebrochen wurde. Auf dem Schnee unterhalb des Eiszapfen war ein Regenbogen entstanden.

Wieso, wusste ich nicht, aber mir wurde in diesem Moment mehr als klar, dass ich so schnell hierher nicht wieder zurückkehren würde.

Der Mercedes raste auf die Stadtautobahn und ich entschuldigte mich in Gedanken bei allen. Dafür, dass ich nicht Klartext reden konnte. Dafür, dass ich wieder gelogen hatte. Dafür, dass Perm für mich zu klein war. Und vor allem dafür, dass ich wieder in einem AMG Mercedes mit Diplomatenkennzeichen saß.

Meine Gedanken drehten sich in Spiralen. Ich hatte in den letzten Monaten meinen Abschluss gemacht, hatte zahllose Stunden mit meiner Familie verbracht und war, zumindest in den Augen der anderen, Oleg näher gekommen. Trotzdem waren es nur die Nächte in Wien, die mich mit einem inneren Feuer erfüllten. War dieses Leben wirklich das, welches ich mir erhofft hatte?

«Andrey?»

Er hob seinen Blick von der Straße.

«Ja?»

«Wie geht es dir?»

Blyat, diese vier Wörter waren doch so belanglos - warum hatten sie sich jetzt so tief angehört?

«Wie kommst du auf die Frage?»

Wahre Verwunderung schwang in seiner Stimme mit.

«Ich habe gerade darüber nachgedacht, was mich in letzter Zeit glücklich gemacht hat und habe mich nun gefragt, wie es bei dir war.»

Stille. Ich hatte aus meinem Herzen gesprochen - da konnte ich mir zum ersten Mal seit Langem keinen Vorwurf machen.

Andrey atmete hörbar aus. Meine Hände krallten sich an meinem Mantel fest. Sollte ich mich entschuldigen und uns diese Frage einfach vergessen lassen? Ich begann die Worte in meinem Kopf zu formen, doch er kam mir zuvor.

«Scheiße, Leandra, scheiße.»

Mein Herz schien für einige Schläge auszusetzen. Was sollte ich jetzt tun? Mich aus der Tür werfen und hoffen, dass das nächste Auto mich erwischen würde? Wenn eine Freundin so etwas sagte, konnte man immer noch lachen und meinen, es würde alles wieder gut werden. Doch was machte man, wenn ein Mann wie Andrey es tat?

«Wieso?»

Seine dunklen Augen trafen meine und ich konnte die Antwort aus ihnen mühelos herauslesen.

«Das fragst genau du?», schien er tonlos zu flüstern.

«Ich...», er brach ab, «es ist kompliziert.»

«Kann ich helfen?»

Schade, dass man mich in Wien auf dem Ring nicht zu Tode gequetscht hatte - vielleicht wäre ich dann von dieser Demütigung verschont geblieben.

«Es ist anders als d...», wieder blieb er mitten im Satz stehen, «ach was rede ich. Das kann ich vielleicht zu meinem Bruder sagen, aber nicht... Verdammt, Leandra! Warum mussten wir gestern ausgerechnet mit dir zusammenstoßen?»

Den letzten Satz hatte er, im Gegensatz zu dem ruhigen, fast melancholischen Anfang, schon fast geschrien.

Doch als seine Worte verklangen, bildete sich eine unangenehme Stille in dem Innenraum. Was sollte ich sagen? Mich für etwas entschuldigen, was ich nicht getan hatte?

«Es tut mir echt leid, aber das war nicht meine...»

Er legte seine Hand auf meinen Arm, was mich sofort verstummen ließ.

«Ich beschuldige dich nicht - es ist nur, nur. Ach egal, besprechen wir dasnachher.»

Der Wagen hielt vor dem Terminal des Flughafens von Perm.

«Wer fliegt das Flugzeug?», lenkte ich, mich abschnallend, vom Thema ab.

«Gute Frage, ich vermute, derselbe, der dich immer geflogen hat.»

«Solange es nicht Vasily ist.»

Vasily hatte zwar darauf verzichtet, Verteidigungsminister zu werden, abertrotzdem war er als Oberbefehlshaber der Armee nun die zweitmächtigste Personin ganz Russland.

Andrey grinste geistesabwesend. Hatte er mir eigentlich überhaupt zugehört? Daswürde wohl für immer ein Rätsel bleiben müssen. Genauso wie, was diese Frau imAuto nebenbei machte.

«Halleluja, was hast du denn in deinen Koffer alles gesteckt? Drei Kalaschnikovs?»,unterbrach er meine Gedanken.

«Eh, Andrey?!», er stellte den Koffer ab und blinzelte mich verwirrt an, «drehdich nicht auffällig um, okey?»

«Was? Worüber redest du?»

«Versprich es nur, okey?»

«Ja, Frau Verteidigungsmin...»

Für Bruchteile von Sekunden schien das Blut in meinen Adern zu gefrieren. Wirbeide wussten, dass es nur ein dummer Ausrutscher war, doch trotzdem starrtenwir uns erschrocken an. Wie zum Hohn hatte er ausgerechnet heute seineSonnenbrille nicht aufgesetzt - so hätte ich zumindest nicht wissen können, wasin seinem Kopf vorging.

«Vergiss es, was ist jetzt hinter mir?»

Verdammt, die dumme Kuh hatte ihr Handy natürlich schon längst gesenkt.

«Die Frau im silbernen Honda hat uns ziemlich eindeutig gefilmt.»

Natürlich vergass Andrey in diesem Moment sein Versprechen. Nach seiner Pistolegreifend, wandte er sich mit einem Satz dem Wagen zu. So schnell, wie diebesagte Frau ihren Honda von der Stelle brachte, konnte man meinen, sie wärefrüher in der Formel 1 aktiv gewesen. Adrenalin schien Menschen dochübermenschlich werden zu lassen und etwas anderes konnte nicht durch die Adernfließen, wenn ein Speznas-Operator seine Makarov auf dich gerichtet hatte.

«Suka», fluchte Andrey ihr nach, «ich wollte keine Aufruhr am Parkplatzverursachen, aber einen zerschossenen Reifen hätte sie sich schon verdient.»

16:18,Flughafen Sheremetyewo Moskau

«Viel Erfolg bei deinem Bewerbungsgespräch, Schatz.»

Schlechtes Gewissen durchzuckte mich, als die Nachricht meiner Mutter amBildschirm erschien. Ja, mit 24 Jahren musste ich mich nicht wegen solchenSachen rechtfertigen, aber zu lügen, war absolut keine Lösung.

«Bewerbungsgespräch, mmh?»

Andrey hatte seinen Kopf zu mir hinübergereckt und sah mich nun fragend an.Dieser hatte zwar den Großteil des Flugs im Cockpit verbracht, aber sich dannfür die restlichen 15 Minuten zu mir gesellt. Obwohl der Flug sich massivst indie Länge gezogen hatte, konnte ich keinen an meiner Langweile beschuldigen -Andrey schon gar nicht. Über was hätten wir auch fast drei Stunden redensollen? Kampfflugzeuge, die russische Opposition oder Vasilys Frauen?

«Ja, was hätte ich auch sagen sollen?»

«Gespräch mit General Titarenko, zum Beispiel?»

«Andrey!», ich rotierte meinen Oberkörper komplett zu ihm, «du weißt ja, dasses bei uns nicht so klappt.»

«Was hätte sie denn gemacht? Dich eingesperrt?»

«Wer, sie?», spielte ich dumm.

Mir war klar, dass er meine Mutter meinte. Jedoch wollte ich wissen, warum ersich genau auf sie bezog.

«Deine Mutter. Deinen Vater interessiert es ja ziemlich wenig, solange dukeinen Araber heiratest.»

Ich stöhnte gespielt auf. Diese Anspielungen würden mich jetzt wahrscheinlichein ganzes Leben lang begleiten. Den Antrag des Scheichs hatten wir zu Hausezum Glück kein einziges Mal angeschnitten.

«Sie hätte sich selbst und mir einen Herzinfarkt verpasst.»

Mein Gulfstream war neben einigen weiteren Jets zum Stehen gekommen, über dieich meinen Blick schweifen ließ. Mittlerweile wusste ich ganz genau, welcherwelchem Politiker oder Oligarchen gehörte. So bereitete es mir doch einegewisse Freude, mich zumindest für einige Sekunden damit abzulenken.

Die ganze Reihe mit getönten Fensterscheiben war eindeutig Vasilys. Der, mitder vergoldeten Nase gehörte zweifellos dem Pressesekretär des Präsidenten.Gut, ich hatte auch einen Jet mit goldenen Verzierungen gehabt, doch es warRosègold gewesen - das normale gelbliche Gold sah viel kitschiger aus.

Das Flugzeug daneben musste dem Ölminister gehören. Obwohl er gerne auf Machomachte, war zumindest seine Maschine einfach nur im schlichten Weiß gehalten.

Und was war eigentlich nächste letzte Jet? Ein Falcon? Es war ja nichtverwerflich, einen davon zu fliegen, aber damit verband ich eindeutig viel zuviele negative Gefühle. In der Nacht, wo ich zum ersten Mal in einen Falcongestiegen war, hatte ich Vasily für tot gehalten, mit dem arabischen Königssohnrumgemacht und schließlich seinen Heiratsantrag angenommen. Nur um sicher zugehen, beugte ich meinen Kopf nach links. War die Aufschrift wirklich aufRussisch? Ich schloss die Augen, atmete tief durch und öffnete sie dann wieder.Auf der Seite des grazilen Jets stand eindeutig etwas im arabischen Alphabet.Meine Augen fielen wieder, wie von selbst, zu.

«Herr Kommandant?!», rief der Pilot nach Andrey, «haben Sie kurz Zeit, damitich Sie was fragen kann?»

«Natürlich, Pavel! Was brennt schon wieder?»

Immer noch traute ich mich nicht, meine Augenlider aufzuschlagen. Das mussteein böser Scherz sein. Ein sehr, sehr böser Scherz. Hatte mich Vasily mitAbsicht genau dann geholt, wann ich diesen Menschen über den Weg laufen konnte?Er hatte mich doch nur zu sich gebeten, weil ich gestern Nacht mit Andrey undNikolai zusammengestoßen war! Wie konnten sich sämtliche Zeitlinien und Wegeauf einmal kreuzen?

«Leandra, kommst du?»

Mittlerweile hatten sie das Gespräch, von dem ich kein Wort mitbekommen hatte,wohl beendet.

Mein Blick richtete sich wieder auf den Falcon. Keine Zweifel - es war der Jetvon Iskander al Aleasira.

Hilfe. Einfach nur weg von hier - das war mein einziger Wunsch. Ich hatte dievier Tage im arabischen Gefängnis mehr als oft genug wiedererlebt. An denSchmerz, als die Soldaten mich an den Boden pressten, konnte ich mich klareredenn je erinnern. Aber vor allem die Demütigung würde ich niemals hinter mirlassen können. Demütigung? Das, was dort vorgegangen war, war die reinste Formder Entmenschlichung gewesen. Ich schauderte.

«Leandra?!»

Keine Reaktion von mir. Wie konnte ich hier herausgehen, wenn dieser eine Mannmir dort ein bestimmtes Papier in die Hand drücken konnte, das mich für immeran ihn binden würde?

Alle meine Bemühungen schlugen fehl - mein Puls stieg immer mehr an, die Lungezog sich zusammen, aber ich kam nicht von meinem Sitz hoch.

Andrey folgte meinem Blick durch das Fenster. Als ich es schließlich schaffte,zu ihm zu schauen, war nun er an der Reihe, tief durchzuatmen.

«Wir sind in Moskau, Leandra. Hier haben wir das Sagen.»

«Aber ich habe dieses verdammte Blatt unterschrieben! Er hätte das Recht dazu,mich nach dem arabischen Gesetz, zu verlangen.»

Meine Stimme zitterte gefährlich. Wo zum Teufel war die kühleVerteidigungsministerin in mir geblieben?

«Selbst dann, wird er dich nicht bekommen. Solange ich in der Lage bin, dieseWaffe», er wies mit dem Kopf auf seine Kalaschnikov, «zu halten, ...»

«Herr Kommandant!», fiel der Pilot wieder dazwischen.

Andrey stand eine Spur zu schnell auf - der Satz blieb unvollendet. Hatte er eswirklich so gemeint? Oder hatte er sich einfach wie vorher versprochen?

Ich riss mich zusammen, packte meine Handtasche am Griff und richtete mich auf.Dabei vermied ich es mit allen Kräften noch einmal aus dem Fenster zu schauen.Dieser Tag würde so oder so noch so Einiges von mir abverlangen. Es gab keinenGrund, jegliche mentale Energiereserven schon jetzt aufzubrauchen.

Pavel lächelte mich kurz an, als ich am Gang an ihm vorbeiging. Auch mit ihmteilte ich diesen einen Abschnitt meines Lebens. Was für eine Wirkung mochteder arabische Falcon auf ihn haben? Für einen Mann, der genauso Tage in derenGeiselhaft verbracht hatte? Doch er blieb stumm. Vielleicht hatte er Angst einfalsches Thema anzuschneiden, oder sich Andreys Zorn zu verdienen. Vielleichtaber auch, einfach keine innere Kraft mehr, um einen sinnlosen Smalltalkanzuschneiden.

Direkt vor meinem Jet stand eine schwarze Mercedes Limousine. In dem Lackspiegelte sich das schwache Sonnenlicht wieder. Ein ganz normaler Anblick -eigentlich. Trotzdem ließ er mich meine Hände ein wenig tiefer in dieJackentaschen schieben und einen Schauer über meinen Rücken jagen.

Ein Windstoß ließ eine Haarsträhne, die sich zuvor aus meinem Dutt gelösthatte, eine Spirale in der kühlen Luft drehen.

Natürlich hatte ich Angst vor allem, was mich jetzt erwarten würde, aber es gabnichts, was ich bereuen konnte. Oleg und Nastja waren nicht mein Niveau, einJob in Perm als Büroangestellte genauso wenig. Ja, das klang brutal, dennochwar das die reine Wahrheit. Was sollte ich mit Menschen tun, die gefühlsmäßignur eins im Kopf hatten: fünf Tage die Woche von neun bis fünf einen Jobausüben, den sie hassten, um dann am Wochenende drei Stunden in irgendeiner Barverbringen zu können?

Seufzend dachte ich daran, wie ich vor etwas weniger als einem Jahr mit demösterreichischen Innenminister genau diesen Kreislauf besprochen hatte. Nein,ein Leben, wo das größte Highlight der zweiwöchige Urlaub war, wollte ich nichtleben.

Mein Handy gab wieder einen Ton von sich. Viele Möglichkeiten, wer mirschreiben konnte, gab es nicht, zugegebenermaßen war die Nachricht trotzdemunerwartet.

«Es tut mir leid, wegen gestern, okey?!», schrieb Oleg, «deine Mutter hatgesagt, du bist in Moskau bei einem Bewerbungsgespräch. Wenn du wieder zurückbist, treffen wir uns dann mal? Ich glaube, wir haben etwas zur klären.»

Ach, was für ein Wunder! Kaum bekam er Wind davon, dass ich in die Hauptstadtziehen könnte, da hatte er wieder Lust auf mich.

«Oleg, bitte lass den Schmarrn», ich konnte es mir nicht verkneifen, diesestypisch österreichische Wort einzusetzen, «ich weiß, dass du nach Moskauwillst, ich weiß, dass du echt gerne etwas von meinem Geld hättest und auch,wenn du mich vielleicht ein wenig als Person magst, weiß ich trotzdem, dass ichkeine Lust mehr auf das hier habe. Viel Spaß bei der nächsten Party.»

Knallhart - das waren meine Worte. Aber vielleicht würde er es endlichverstehen.

Andrey lenkte den Wagen durch den Chaos vor dem größten Flughafen Moskaus. Wirhüllten uns seit mittlerweile zehn Minuten in ein angespanntes Schweigen.Nichtsdestotrotz entging es mir nicht, wie er ab und zu einen Blick auf meinHandy warf. Dabei konnte ich den Funken Neugier in seinen Augen erkennen.

«Hohl mich bitte hier raus», hatte mir der österreichische Innenminister voreiner halben Stunde scherzhaft geschrieben.

«Was? Besuche bei Schwiegereltern sind doch immer ein Genuss!»

Sofort erschien das «online» Symbol. Damit war mehr oder weniger alles gesagt.

«Ha.Ha.Ha. Aber es geht nicht darum, ich wollte nur schauen, ob du noch amLeben bist. Was ist eigentlich los?»

«Titarenko ist los. Es wäre jetzt zu kompliziert es alles über WhatsApp zuerklären, aber kurz zusammengefasst: ich bin vor fünfzehn Minuten in Sheremetyevo2 gelandet und rate mal, wer auch da ist!»

«Keine Ahnung, dorogaya. Kathi ist es schon mal nicht - die sitzt gegenüber vonmir.»

Ein schnelles Lachen konnte ich mir beim besten Willen nicht verkneifen. Andreybeäugte mich irritiert. War auch ein schneller Sinneswandel von mir, um ehrlichzu sein.

«Gar keine Ahnung? Ehrlich? Du denkst es dir fix, aber du kannst es dir nichteingestehen! By the way, wie zum Teufel hast du es geschafft, dass die Kathigegenüber von dir und nicht neben dir sitzt?»

Die Frage war nicht eine zufällige. Obwohl seine Frau fest davon überzeugt war,dass er ihr nicht fremdgehen würde und auch niemals sein Handy kontrollierte,hatte sie eine sehr eigenartige Angewohnheit - immer neben ihm sitzen zumüssen. Wie ich vermutete, war es eine Art, um ihren «Besitz» zu demonstrieren.

«Nope, keine Ahnung. Wie kommst du auf die Frage?»

Männer. In einem verdammten Satz zusammengefasst. Wie konnte man nach so vielenJahren Ehe so etwas nicht bemerkt haben?

«Vergiss es einfach. Und hier ist übrigens mein Lieblingsscheich.»

Mein Herzschlag verdoppelte sich innerhalb von Sekunden, während ich dieseWorte schrieb. Ja, es war echte Angst und ja, ich würde es hier trotzdemdurchziehen.

«Fuck. Leandra. Echt. Einfach nur fuck. Soll ich dich da herausholen?»

«Nein, ich habe es mir selbst eingehaust. Sie werden mich schon nicht an ihnherausliefern. Wenn doch, dann holst du mich halt aus Abu Dhabi ab. Bisnachher. Wir fahren gerade ins Ministerium ein.»

«Okey. Melde dich, wann immer du Zeit hast.»

«Werde ich machen! Schönen Nachmittag noch an euch.»

Sollte seine Frau samt ihren Eltern und Kindern doch auch eingeschlossen werden - schlimmer würde dadurch die Situation nicht werden.

«Danke!!! Vergiss nicht, dass ich dich liebe.»

Für einige Sekunden erschien mir sogar der blaue Himmel schwarz. Wenn es ein Wort, wie Karma gab, dann würde es mich heute holen kommen.

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