2. Kapitel
«Mister Pavlov, das ist Ihr Wagen nehme ich mal an?»
Eine gute Annahme, eine sehr gute Annahme.
«Ganz genau.»
«Würden Sie dann bitte ganz kurz zu unserem Auto kommen, damit wir mit Ihnen normal reden können?»
Normal zu reden, war sehr optimistisch gesagt. Für mich war es schon gewöhnungsbedürftig bei 1 Meter Sicht im Nebel auf einer verschneiten Straße im Uralgebirge, ein Gespräch zu führen.
Er begab sich mit am Schnee knirschenden Fußsohlen zu dem befohlenen Platz.
War das eigentlich ein BMW, ein Mercedes, vielleicht gar ein Maybach oder ein Aurus? Die Taschenlampe wurde wieder abgedreht.
Jetzt wusste ich nicht einmal mehr, wo ich stand. Was würde ich eigentlich tun, wenn ein anderes Auto kommen würde? Ein Salto in den Abgrund machen?
Aus der Jackentasche zückte ich mein Handy. Empfang hatte ich immer noch keinen, aber zumindest konnte es eine Lichtquelle spielen.
Eisige Schneeflocken fielen in meine offenen Haare. Vor drei Stunden war ich noch in dem warmen Hotelzimmer in Jekaterinburg gesessen, jetzt stand ich in einem Schneesturm in der Taiga.
Immer noch besser als ein arabisches Gefängnis, doch meiner Laune half diese Erinnerung auch nicht.
Das Einzige, was ich in diesem Moment wollte, war es ihm zu schreiben, dass er irgendwelche seiner in Russland stationierten österreichischen Truppen zu mir schicken sollte. Mit einem Helikopter, wenn es sein sollte. Schade nur, dass Österreich hier sicherlich keine Soldaten hatte.
Danach würde ich am liebsten für zumindest eine Woche in Wien verschwinden. Ohne Oleg und seinen fragewürdigen Fahrkünsten, ohne der übermotivierten Nastja und der zu hysterischen Anfällen geneigten Jana. Jedes Mal, wenn ich dort landete beging ich weitere Sünden, doch trotzdem waren die Alpen zu dem Ort meiner Träume geworden.
In dem österreichischen Innenminister hatte ich jemanden gefunden, mit dem ich mich nicht zwischen zwei Welten entscheiden musste. Er kannte meine persönlichen Träume ganz genau wie die Spuren, die meine politische Laufbahn in mir hinterlassen hatte.
Ich schüttelte den Schnee von meinem Kopf. Jetzt war ich hier, nicht dort und damit musste ich leben.
«Leandra?!»
Oleg schrie in einer Lautstärke, als ob ich in St. Petersburg stehen würde.
«Ja?!»
«Komm her, du musst unterschreiben!»
Widerwillig begab ich mich in der Dunkelheit bis zum Auto. Besser gesagt, ich versuchte es. Zu meinem ersten Hindernis mutierte der am Boden liegende Autoreifen.
«Blyat!»
Der offene Knöchel unter den hochgerutschten Jeans schlug genau darauf auf.
Leise fluchend betätigte ich diesmal meine eigene Handylampe. Was war das jetzt noch für ein Spektakel? Mitten in der Dunkelheit würde ich sicherlich nichts unterschreiben. Wieso hatte Oleg sein Gehirn heute eigentlich in so einem Sparmodus am Laufen?
Doch für meine genervten Gedanken blieb keine Zeit mehr. Zwei von links kommenden Scheinwerfer erhellten den ganzen Schauplatz.
«Achtung!»
Dieser Ausruf war meinerseits mehr als überflüssig, denn jeder hatte bereits das herannahende Auto erblickt.
Aus Reflex betrachtete ich ihre Reaktionen. Der Wagen steuerte auf eine Kollision mit der kaputten Lada zu - was würden sie tun? Mein Instinkt war ein Fehler gewesen. Ein sehr großer Fehler. Jeder vernünftige Gedanke verblasste in meinem Kopf, als ich die zwei Männer neben Oleg stehen sah.
Er hatte nicht gelogen, sie hatten Waffen - Maschinengewehre, quer über den Rücken geschnallt. Kugelsichere Westen, schwarzer Feldanzug, zwei Makarov am Waffengürtel. Das waren Männer der militärischen Speznas, der Elite Russlands. Dieselben, die mich einst beschützt hatten. Dabei musste ich gar nicht übertreiben, vor mir standen wortwörtlich dieselben Soldaten wie einst. Andrey Voronin und Nikolai Jastrebov.
Selbst in der Dunkelheit trug Andrey seine Sonnenbrille und eine über die Nase reichende Maske. Vor weniger als einem Jahr war ich noch in seinen Armen eingeschlafen, heute überkam mich bei seinem Anblick eine Welle an Ehrfurcht und Respekt.
Nikolai hingegen, wie brutal er auch ausschauen mochte, ging neben ihm unter.
Mein Atem begann zu stocken. Wie konnte ich ihnen in die Augen schauen? Nach dem, wie wir uns letzten Frühling getrennt hatten?
«Ich schäme mich dafür, dir so treu gedient zu haben», hatte er mir damals gesagt.
Egal, wie sehr es geschmerzt hatte, ich hatte ihn in meinem Leben ertränkt und heute stand er zum ersten Mal wieder vor mir. In einer Situation, wo ich ihm hilflos ausgeliefert war.
«Leandra?!»
Olegs Stimme riss mich aus dem Chaos in meinem eigenen Kopf.
Ich hob meinen Blick. Stand ich noch zu sehr auf der Straße, oder würde der Wagen mir ausweichen können?
«Er sieht die Lada nicht!», brüllte Nikolai.
Obwohl das Auto wegen dem Blaulicht ein wenig zu bremsen schien, machte es keine Anstalt, halten oder ausweichen zu wollen.
Ich machte noch einen Schritt zur Seite. Andrey packte wieder seine Taschenlampe, stellte sich vor Olegs Wagen und strahlte erbarmungslos durch die Windschutzscheibe des anfahrenden Wagens.
«Fuck, die stürzen gleich ab!»
Hatte ich das geschrien?
In solch einer Situation wäre das vermutlich einzig Richtige, einfach stehen zu bleiben. Doch von Nastja am Steuer konnte das keiner erwarten. Entgegen meiner Befürchtung wich sie zwar nicht zum Rand aus, sondern hielt sich fast bis zum Ende gerade, nur um dann einen Schlenker auf die andere Seite zu machen.
Auf die, wo ich stand.
Rechts von mir Gebüsch und links von mir die Lada - ich konnte beim besten Willen nirgendwo hin.
«Leandra!»
Das hatte eindeutig nicht Oleg geschrien. Etwa sechs Sekunden bis der Polo bei mir sein würde. In der fünften versuchte ich noch in einen Busch zu kommen, rutschte jedoch den leichten Hang wieder hinab. Bei der dritten Sekunde wollte ich noch nach vorne rennen, aber das wäre Selbstmord gewesen. Natürlich kannte ich die genaue Bahn des ankommenden Autos nicht, so konnte ich nur spekulieren, dass es über den gesamten freien Bereich vor und neben mir fahren würde.
Die Überlegungen kosteten zu viel Zeit, nur noch Bruchteile einer Sekunde. Warum sahen sie mich nicht? Wegen dem Nebel oder weil Andrey sie blendete?
Ein Stoß ließ mich nach rechts in das dornige Gebüsch kippen. Meine Beine waren noch auf der Straße. Etwas zog mich höher auf den Hang.
Die Sekunde war um, der Volkswagen donnerte verhältnismäßig vorbei. Seine Reifen schlitterten um die nächste Kurve, bevor er mit einem Drift eine halbe Wendung hinlegte und gegen die Fahrbahn gedreht stehen blieb.
Kurzer Check. Ich lebte noch, keiner war abgestürzt und aus welchem Grund auch immer stand Andrey neben mir.
Der weiche Boden begann wieder unter meinen Halbstiefeletten nachzugeben. Bei der nächsten Fahrt durch die Taiga würde ich eindeutig in Wanderstiefeln erscheinen.
«Leandra?»
Andrey reichte mir seine Hand und zog mich auf meine Beine.
«Danke.»
«Wofür?»
«Dafür, dass du mein Leben gerettet hast.»
«Ich habs nur für meinen General getan.»
Diese Worte kamen schärfer an als erwartet. Die Luft tief aufsaugend trat ich einen Schritt von ihm weg. Die letzten Minuten waren für mich schlimm genug gewesen. Auch ohne seinen ach so netten Kommentaren.
Währenddessen war Oleg bereits auf Nastja und Jana zugerannt. Mit stotternder Stimme versuchte er ihnen die Situation zu erklären, was ihm nicht sonderlich gelang. Drei Autos auf einer kilometerweiten Straße und alle drei waren zusammengeprallt. Als wäre es nicht noch auch genug, kannten sich alle Insassen. War das nicht eine schreckliche Ironie?
«Kann man damit noch fahren?»
Welches Auto damit gemeint war, wusste ich nicht, aber Nastjas Frage konnte man in fast allen Fällen verneinen.
«Ich lasse es hier sicher nicht zurück, mein Vater bringt mich und Nastja um!», brauste Jana auf.
«Ihr seid ja nirgendwo hineingefahren, es wird schon noch starten», versuchte Oleg sie zu beruhigen.
«Und deines lässt du hier liegen?»
Obwohl ich in der Dunkelheit keine Emotionen erkennen konnte, sah ich Nastja förmlich ihre Augenbrauen hochziehen.
«Es ist nicht einmal mehr ein Auto», rief ich zu ihnen hinüber.
«Ach, sei leise, Leandra. Kommst du jetzt bevor wir erfrieren?»
Olegs Umriss öffnete den Kofferraum des Polo.
«Ich gebe nur ganz kurz unsere Sachen hinein.»
«Meine kannst du lassen.»
«Wie bitte?»
«Lass meinen Koffer liegen.»
«Hä, wieso?», meldete sich auch nun meine beste Freundin zu Wort.
Ich schluckte.
«Weil ich nicht lebensmüde bin, ich fahre mit euch nicht mit.»
«Lebst du dann ab heute in der Taiga? Wirst dich sicher gut mit den Bären versteh...», Oleg unterbrach Nastja abrupt, «mal ganz ehrlich, wenn du nicht magst, dann nicht, aber glaub nicht, dass wir dann noch einmal mit dir irgendetwas unternehmen.»
«Bitte, ich werde nichts vermissen.»
Oleg schlug demonstrativ die Tür des Polos hinter sich zu. Anscheinend in voller Überzeugung, dass ich gleich mit mürrischem Gesicht folgen würde.
«Ihr nimmt mich sicher mit, oder?», ich wandte mich an Andrey.
Dieser stand immer noch unbeweglich neben mir.
«Wieso sollten wir?»
«Für euren General?»
Spöttisch verdrehte ich meine Augen. Natürlich war diese Forderung dreist von mir gewesen, aber ich gab mir selbst das Recht dazu. Dieses Leben lebte man nur einmal, wo war der Sinn, sich in seiner Komfortzone zu verstecken? Besonders, wenn diese im Abgrund enden konnte.
«Der würde niemals davon erfahren», konterte Andrey.
Ich strich eine Strähne aus meinem Gesicht.
«Ich habe seine Nummer, Voronin, ich habe seine Nummer.»
«Na gut, aber nur deswegen.»
«Nur deswegen», wiederholte ich mit einem Grinsen.
Zwei Minuten später saß ich am Rücksitz des massiven Mercedes, welcher wie durch ein Wunder den Zusammenprall nahezu unbeschadet überstanden hatte.
«Fahren die heute noch los?», Nikolai wies auf den blauen Polo, «oder warten die darauf, dass wir die Führung übernehmen?»
«Keine Ahnung», Andrey startete den Motor, «dann werden sie lange warten können. Ich fahre nämlich sicher nicht über Muljanka weiter. Dort war es vor einer Stunde schon rutschig, ich will nicht wissen, wie es dort jetzt nach dem Schneefall ist.»
Blyat, ich hatte ja ganz vergessen, dass sie aus der entgegengesetzten Richtung gekommen waren. Mussten sie jetzt wegen mir wieder umkehren? Wohin waren sie überhaupt unterwegs gewesen?
«Willst du über Kuraschim auf die P242 kommen?», hackte Nikolai nach.
In meinem Gehirn spielte sich eine Google Maps Karte ab. Wieso kannten sich ein Moskauer und ein Sibirier so gut mit der Oblast von Perm aus?
«Nein, ich dachte eher über Berschetskoje auf die E22.»
Andrey begann den Wagen zu wenden. Was dachte jetzt eigentlich Oleg? Würde er uns nachfahren?
«Sind die E22 und die P242 nicht dieselbe Straße?»
Das war eindeutig das Klügste, was ich in den letzten fünf Stunden gesagt hatte.
«Ja, dachte ich mir auch!», stimmte Nikolai ein.
«Ist eigentlich auch egal, aber was ich auf jeden Fall verhindern will, ist, dass so ein Idiot wie der», Andrey wies mit der Hand auf die zerschellte Lada, «uns noch einmal begegnet.»
Peinlich berührt starrte ich auf den Boden. Oleg trug die eindeutige Schuld an diesem Unfall und hatte es noch offen zugegeben. Trotzdem galt es nicht zu vergessen, dass der Mercedes mit mindestens 120km/h gefahren war.
«Ich weiß ja echt nicht, aber ihr seid auch nicht gerade unbeteiligt gewesen.»
Vielleicht würden sie mich jetzt doch erschießen, aber was solls?
«Wir sind mit Sonder- und Wegerecht gefahren.»
Andrey drehte sich für einen Augenblick zu mir um, während er den Wagen durch die erste Kurve steuerte.
Im Fahrzeuginneren war es verhältnismäßig warm und hell, so dass ich ihm direkt in die Augen schauen konnte.
Obwohl ich nun ein niemand in diesem Staat war, fühlte es trotzdem so an, als ob Andrey immer noch mein Wache wäre. Mit einem Schuss Phantasie konnte ich mir vorstellen, dass sein düsterer Blick nur ein Scherz war. Die Tatsache, dass er damals für mich getötet hätte und nun mich töten wollte, ließ sich allerdings nicht ändern.
«Ihr hattet das Blaulicht zu dem Zeitpunkt nicht mehr an.»
«Nur, weil Nikolai es ausgemacht hat!»
Ich lachte eine Spur zu laut auf.
«Sorry», ich schlug mir mit der Hand auf den Mund, «ich hatte nur gerade Kopfkino.»
«Dein Freund, Mann, oder was auch immer, hat übrigens unterschrieben, dass er die Schuld auf sich nimmt.»
Andreys Worte ließen mich schwer schlucken. Mir war von Anfang an klar gewesen, dass eine in der Dunkelheit gesetzte Unterschrift zu nichts Gutem führen würde. Und voila, hier waren wir.
«Und was?», ich zuckte mit den Schultern, «ich habe bekanntlich auch einmal etwas unterschrieben.»
Eine Sekunde Stille. Und dann prustendes Gelächter. Mein Vergleich mit dem Ultimatum hatte Wunder gewirkt - Nikolai hatte seinen Kopf auf das Armaturenbrett gelegt und lachte das Lachen eines erstickenden Seehunds.
Andrey schlug mit seiner Faust auf das Lenkrad. Sollte das irgendeine Art von Wut demonstrieren? Sein breites Grinsen konnte er mir trotzdem nicht vorenthalten.
«Bekannterweise hast du auch fast unseren General in den Tod gestürzt, nahezu einen Krieg angefangen und bist dann von heute auf morgen verschwunden. Hoffen wir doch, dass deinen Freund ein anderes Schicksal erwartet.»
«Er ist nicht mein Freund.»
Dieser Kommentar war absolut überflüssig, jedoch hatte Andrey einige wunde Punkte in einem einzigen Satz getroffen.
«Und warum hat er dich dann als seine Frau bezeichnet?»
Weil er ein dezenter Depp war? Aber so konnte ich es ja nicht sagen.
«Das hat Vasily auch getan.»
«Könnt ihr das bitte nacher klären, danke», mischte sich Nikolai schnell ein.
«Okey, gut. Wieso wart ihr überhaupt mit Blaulicht unterwegs?», wechselte ich dasThema.
Vor uns begann sich der Wald zu lichten und die Straße mündete in eine nochverschlafene Stadt. Außer einem grellen roten Streifen am Himmel schien allesgrau zu sein.
«Wir sind eigentlich auf Übung. Aber Notfälle erlauben uns, diese abzubrechen.»
Abrupt richtete ich mich auf der Rückbank auf.
«Wohin müsst er denn eigentlich?»
«Nach Jekaterinburg.»
«Dann schmeißt mich raus, Andrey. Ich kann auch einen Zug von irgendwo nehmen.»
«Niemals.»
«Warum?»
«Schon unseren General vergessen?»