1. Kapitel
Der Nebel ließ die Straße vor mir verschwimmen. 04:10. Warum war es hier im Uralgebirge so verdammt dunkel, dass ich nur die Umrisse der am Rand stehenden Bäume erkennen konnte? Ja, es war der 24. Jänner und noch halb in der Nacht, aber lange kein Grund dafür, dass nur jede zweite Laterne flackernd den Rand der komplett zugeschneiten Gebirgsstraße markierte. Genauso war weder der Schnee noch der dichte Nebel für die Fahrweise Olegs verantwortlich.
«Siehst du überhaupt was?»
Meine Hand krallte sich in die Türklinke, als er mit einem wilden Manöver eine Kurve nahm. Die Räder seiner Lada schlitterten dabei mit einem höchst besorgniserregenden Geräusch knapp am Abhang vorbei.
«Jo, klar. Habe nicht vier Jahre lang studiert, um jetzt am Heimweg in der Taiga zu landen.»
Die Anspielung auf unseren vor drei Tagen erhaltenen Abschluss ließ mich schmunzeln.
«Naja, vielleicht waren die drei Tage Urlaub in Jekaterinburg zu viel für dich.»
Seinen von einer roten Kapuze bedeckten Kopf drehte er lächelnd zu mir um. Meine Mutter hatte vermutlich Recht gehabt - er war in den letzten zwei Jahren zu einem charmanten jungen Mann geworden. Laut meiner ältesten Schwester konnte seine Kinnstruktur locker mit der von General Titarenko mithalten.
«Nope, aber ich bin vorgestern um 3 Uhr nachts schlafen gegangen, um 9 aufgestanden und danach keine ruhige Sekunde mehr gehabt.»
«Mein Beileid», ich verdrehte spöttisch die Augen, «du hättest auch eine halbe Stunde weniger mit Jana und Nastja Party machen können.»
«Man macht den Abschluss nur einmal im Leben», er grinste mich frech an, «ich zumindest, du hast ja lieber die halbe Nacht an deinem Handy verbracht.»
Darüber wollte ich nicht reden. Keinesfalls. Nicht mit ihm, nicht mit Nastja, nicht mit meiner Mutter.
«Apropos, wo sind Nastja und Jana? Ich kann keinen blauen Volkswagen mehr im Seitenspiegel erkennen!», lenkte ich vom Thema ab.
«Keine Ahnung, hat ja nicht jeder solche Rennfahrerfähigkeiten wie ich.»
Noch genervter warf ich einen weiteren Blick in den Spiegel.
Schwarzer Nebel, schwarzer Wald und keine Spur von weiteren Scheinwerfern.
Hoffentlich war alles in Ordnung.
«Soll ich anrufen?»
«Nope, bevor sie irgendwie abgelenkt werden und dann erst vom Weg abkommen. Ich meine, Empfang gibt es hier sowieso...»
Oleg brach mitten im Satz ab.
Bevor ich die Möglichkeit hatte, den Griff zu fassen, trat er abrupt auf die Bremse seiner Niva.
«Spinnst du?!!»
Der Gurt schnitt schmerzhaft gegen meine Brust.
«Es ist doch breit und weit niemand zu sehen!»
Stöhnend lehnte ich mich wieder zurück. Wenn meine Mutter mich wieder fragen würde, warum ich ihn nicht heiraten wollte, würde ich ihr diesen Moment ausführlichst schildern. Für den Rest meines Lebens würde ich mich nicht im Beifahrersitz herumschleudern lassen.
«Doch!», er wies mit geweiteten Augen nach vorne, «da, um die Kurve, da waren blaue Lichter.»
Warum, wusste ich nicht so ganz, aber bei diesen Worten gefror mein Blut in den Adern. Vielleicht waren blaue Lichter in der Dunkelheit eine Erinnerung an alles, was auf dieser Straße schiefgehen konnte. Vielleicht waren sie auch nur eine unmittelbare Verbindung zu den Brillanten an meinem Handgelenk.
Doch blaue Lichter bekam ich selbst nicht zu sehen. Obwohl Oleg nun langsamer fuhr, reichte seine Vorsicht nicht aus.
Die Markierungen waren zu abgenutzt, um noch unter dem Schnee erkennbar zu sein - sowohl am Abgrund als auch in der Straßenmitte.
So fuhr er, um einen Absturz zu vermeiden, einen halben Meter zu knapp innen.
Der andere Wagen bewegte sich zwar auf seiner Strecke, doch mit einer viel höheren Geschwindigkeit. Kein Blaulicht, doch der betäubende Klang der Bremsen, brannte sich in mein Mark.
Ich schrie, Oleg kniff die Augen zusammen und ließ seine Hände vom Lenkrad.
«Du Idiot!»
Mit meinen Fingern versuchte ich zumindest die Handbremse zu erwischen.
«Nein, nicht!»
Er verpasste mir einen heftigen Schlag auf die Hand.
Metall traf auf Metall. Etwas flammte auf. Erlosch wieder. Stillstand. Wir waren noch auf der Straße. Blaulicht wieder. Was hatten wir getan?
«Verdammt, Oleg!», zischte ich, «spinnst du?»
Mir war mehr als bewusst, was jetzt kommen würde. Ja, wir hatten mehr als genug Glück gehabt, aber es änderte nichts an der Tatsache, dass die Lada nun kaum mehr als Schrott war. Mit etwas, was nun Zeug zur Konservendose hatte, würden wir auch nicht bis nach Perm kommen.
«Scheiße, Leandra!»
Oleg blickte mich in dem flackernden blauen Licht mit aufgerissenen Augen an.
«Die werden mich umbringen, das sind irgendwelche Speznas.»
Darauf hatte ich nichts zu sagen. Er trug die eindeutige Schuld und der andere Wagen war zu allem Übel im Staatsdienst.
Ich griff nach der Türklinke. Je länger wir hier sitzen bleiben würden, desto schlimmer würde die Konfrontation verlaufen.
«Nein!»
Er hielt mich wieder auf.
«Ich werde das selbst regeln.»
Mit diesen Worten verschwand er schon in den Nebel.
Warum dachte er immer, dass ich in seinen Schutz wollte? Hatte er vergessen, wer ich noch vor einem Jahr gewesen war?
Seufzend lehnte ich mich wieder nach hinten. Meine Brust brannte von dem Aufprall des Sicherheitsgurts und der blaue Fleck auf meinem Arm, den mir Oleg verpasst hatte, schien sich konstant auszubreiten. Gut, dass ich ihn durch die schwarze Steppjacke sowie den dunkelgrünen Rollkragenpullover nicht sehen konnte. Noch besser, dass ich noch lebte. Die Böschung war nämlich verdammt nah.
Die Türen des anderen Wagens wurden aufgeschlagen. Durch die zersplitterten Seitenspiegel konnte ich nichts erkennen, aber durch das zerbrochene Fenster im Fond des Autos, zumindest genug hören.
«Es tut mir leid.»
Ein großer Anfängerfehler von Oleg. Bei einem Autounfall entschuldigte man sich nicht, es sei denn, man wollte die Schuld auf sich nehmen.
«Freundchen, auf welcher Spur bist du gefahren? Du hättest jetzt dort unten liegen können!»
«Ich konnte die Markierungen nicht sehen. Wirklich, es tut mir leid!»
Oleg war ein einfacher Idiot. Der andere war mit mindestens der doppelten Geschwindigkeit gefahren, die man bei solchen Bedingungen auf sich nehmen konnte. Er hätte ihn ja zumindest darauf hinweisen können!
Aber nein, er gab lieber zu, im Unrecht zu sein.
«Warum bist du dann nicht einfach ausgewichen oder stehen geblieben? Wir waren ja vorher mit Blaulicht unterwegs. Sag jetzt nicht, dass du uns nicht gesehen hast!»
«Doch, aber es ging sich nicht mehr aus.»
So ein Vollpfosten! Er zog gerade sich selbst noch weiter in den Dreck.
Meine Geduld war nun eindeutig zerplatzt. Mit einem Ruck schmiss ich die Tür auf, wobei Glassplitter in weitem Bogen davonflogen.
Lichter der flackenden Laternen und die Signallampen unseres Kollisionspartners wurden in ihnen wiedergespiegelt.
Zu schön, zu grell, zu anziehend für so eine Nacht. Man konnte zu vieles hineininterpretieren, sich in ihnen vergessen, man konnte seinen Verstand verlieren. Glauben, dass man wo anders ist. Vielleicht waren es Fenster eines Wolkenkratzers, vielleicht die Wogen der Donau.
Ich wusste es nicht, aber jetzt befand ich mich am Fuß der Taiga, wo mein Freund gerade eine Katastrophe gebaut hatte.
«Sie sind doch selbst wie ein Irrer dahergefahren!», fuhr ich niemanden bestimmten an.
«Wären Sie um zumindest 30 km/h langsamer gefahren, hätten wir alle Zeit gehabt, um auszuweichen!»
Warum hörte sich meine Stimme, wie die eines protestierenden 13-jährigen Mädchens an? Lag das an meiner Nervosität oder an dem Zorn über Oleg?
«Jetzt reichts!»
«Sie sind vom Weg abgekommen und damit ist es Ihre Schuld!», schloss sich eine zweite Stimme an.
Hätte man hier zumindest etwas durch den Nebel sehen können, hätte man so etwas wie Augenkontakt bilden können. Jetzt schien ich mich hingegen mit der Dunkelheit höchstpersönlich zu streiten.
«Was sind ihre Namen?»
«Wie bitte?»
War Oleg jetzt zum Teufel auch noch taub?
«Wie Sie...», begann der Mann einen Satz zu formen.
«Pavlov und Vorobjowa», unterbrach ich ihn.
«Leandra!», brüllte Oleg in den Nebel hinein, «sei leise!»
«Verzeihen Sie meiner Frau, sie ist nur etwas durch den Wind», wandte er sich nun an sie.
Nein, meine Mutter hatte anscheinend doch nicht ganz Recht gehabt. Möglicherweise war er vom Aussehen her männlicher geworden, aber sein Verhalten entsprach dem eines Mittelschulkindes.
«Ich bin nicht deine Frau!», wollte ich schreien, doch ich schloss den Mund wieder.
Unseren persönlichen Probleme hatten wenig mit dieser Situation zu tun, wir konnten uns auch später deswegen hassen.
«Wie waren Ihre Namen noch einmal?»
Diese Stimme - obwohl ich sie durch den aufheulenden Wind, nicht allzu genau hören konnte - schien etwas in mir auszulösen.
Kannte ich sie? Natürlich kamen mir so einige Namen in den Kopf, die allerdings alle absolut sinnlos waren. Mitten in Moskau, ja, aber nicht hier im Uralgebirge.
«Oleg Pavlov und Leandra Vorobjowa», kam mir diesmal Oleg zuvor.
Stille. Meinen Familiennamen hätte ich schon längst ändern sollen. Ich fiel damit zu stark auf, besonders in Kombination mit meinem außergewöhnlichen Vornamen.
«Gut, ich notiere mir dies. Haben Sie eine Möglichkeit an ihren Zielort zu gelangen?»
Ein kurzes Lachen konnte ich mir bei bestem Willen nicht verkneifen.
«Mit was denn? Mit zwei Rädern und ohne Motorhaube?»
«Leandra!», zischte Oleg wieder leise, «sie haben Waffen.»
Da sie ihn noch nicht erschossen hatten, würden sie es bei mir noch unwahrscheinlicher tun.
«Ich sehe wegen dem Nebel den Zustand Ihres Autos leider nicht. Erschrecken Sie sich nicht, ich werde nur kurz mit meiner Taschenlampe darauf leuchten.»
Auf ein kurzes raschelndes Geräusch folgte ein Klicken und ein Lichtblitz. In diesem Moment verstand ich umso mehr, wie viel unglaubliches Glück wir gehabt hatten. Oleg blieb der Mund offen stehen. Unser Capot hing über dem Abgrund, ein Reifen war in der Böschung verschollen, während der zweite den einen Seitenspiegel eingeschlagen hatte. Die Motorhaube war zur Hälfte abgerissen und auf dem Boden hatte sich eine beachtliche Lake aus einem Benzin-Ölgemisch gebildet.
«Shit.»
Die trockene Stimme des Mannes ließ mich meinen Mund zu einem Grinsen verziehen. In dieser Situation hätte wohl ansonsten niemand so fröhlich schauen können, aber aus irgendeinem Grund, empfand ich kein Mitleid mit Oleg und seinem Wagen.
«Nennt man auch Totalschaden.»
Dank seiner Taschenlampe konnte ich ihn zwar nicht anschauen, ohne geblendet zu werden, aber dafür ließ er sie nun zu mir hinüberschweifen.
Die Augen zusammenkneifend, versuchte ich mental einen Ausweg aus unserer Situation zu finden. Die vernünftigste Lösung schien mir zu sein, mit Jana und Nastja mitzufahren. Die unvernünftigste, hingegen, war es, hier auf sie zu warten.
-15 Grad, keine verdammte Haube und ein gecrashter Wagen mitten in der Taiga. Willkommen in meinem Leben nach dem lang ersehnten Abschluss.