Kapitel 4 - Unterwasser
Tampa, Florida – 2004
Elizabeth
Mit einem Anflug von Überschwang lasse ich mich rücklings in das geheimnisvolle Blau des Ozeans fallen. Das salzige Wasser umschließt mich wie die sanfte Umarmung eines vertrauten Geheimnisses. Hier unten bin ich zuhause, hier bin ich sicher. Die Welt über mir wird zu einem fernen, unerreichbaren Schatten. Kein Geräusch kann die dichten Wellen durchdringen, keine Hand kann mich hier greifen. Niemals habe ich mich irgendwo geborgener gefühlt. Mit geschickten Flossenstrichen gleite ich tiefer und tiefer, in eine Welt, die von einem zauberhaften Glitzern und schwebenden Farben durchzogen ist.
Unter mir breitet sich ein Kaleidoskop aus Korallen aus, lebendig und pulsierend, als hätten sie ihren eigenen Herzschlag. Fischschwärme tanzen wie funkelnde Juwelen im sanften Licht, das durch die Wasseroberfläche bricht und in tausend Splitter zerfällt. Anemonen wiegen sich rhythmisch in der Strömung, ihre leuchtenden Tentakel erinnern an die zarten Finger eines Liebhabers. Jede Bewegung, jedes Detail wird zu einem Teil eines lebendigen Gemäldes, das die Schönheit der Tiefe einfängt.
In diesem flüssigen Paradies finde ich eine Stille, die sich wie ein schützender Mantel um mich legt. Hier unten, in der sanften Umarmung des Ozeans, bin ich frei. Frei von der Last der Welt, frei von den Stimmen, die niemals verstummen. In der Tiefe des Meeres finde ich die Ruhe, nach der ich mich so sehr sehne, und ich weiß, dass ich mich niemals woanders so vollkommen fühlen werde. Genau hier will ich sein. Ich reiße den Blick los von den Korallen und den kleinen Fischen, denn sie sind es nicht, nach denen ich nun Ausschau halte. Mein Herz macht einen freudigen Sprung, als meine Augen endlich die majestätischen Kreaturen erfassen, die mich vom ersten Augenblick an in ihren Bann gezogen haben. Ehrfurcht gebietende Tigerhaie kreisen anmutig neben verspielten Zitronenhaien, ihre Bewegungen gleichermaßen kraftvoll und elegant. Es ist, als ob die Zeit stillsteht, und in diesem Moment bin ich völlig verzaubert von ihrer erhabenen Präsenz.
Schon beim allerersten Anblick eines Hais verspürte ich den unbändigen Wunsch, diese faszinierenden Wesen zu berühren. Ihre eindrucksvollen Körper gleiten durch das Wasser wie Schatten von Königen, und ich fühle eine tiefe Verbindung zu ihrer ungezähmten Wildheit. Das Licht, das durch die Wasseroberfläche bricht, tanzt auf ihrer silbrig-grauen Haut und verleiht ihnen einen fast unwirklichen Glanz.
In der Stille der Unterwasserwelt, umgeben von diesen beeindruckenden Tieren, fühle ich mich klein und doch unendlich verbunden mit dem großen Ganzen. Jeder Atemzug, jedes Herzklopfen verschmilzt mit dem Rhythmus des Ozeans, und ich weiß, dass ich in diesem Moment genau dort bin, wo ich sein soll. Hier fühle ich die Ruhe, die ich über Wasser vermisse.
Wie auf ein geheimes Kommando wenden sie sich mir zu, ihre neugierigen Augen fixieren mich, bevor sie wieder furchtlos ihre Kreise ziehen, nun mit mir als Mittelpunkt. Eine unsichtbare, aber unzertrennliche Verbindung zwischen uns entsteht, eine Verbindung, für die ich unendlich dankbar bin. Mit sanften Bewegungen und einem Lächeln auf den Lippen strecke ich meine Hand aus und berühre die raue, feste Haut von Blue, einem majestätischen Tigerhai. Er schmiegt sich sofort, fast genussvoll, an meine Berührung, als ob auch er meine Nähe sucht.
Die Zitronenhaie umkreisen mich in wilden Spiralen, ihre verspielten Bewegungen wirken, als würden sie mich auffordern, Teil ihres Tanzes zu werden. Ein Gefühl von Ehrfurcht und überwältigender Begeisterung durchströmt mich. Ein Gefühl, das Worte kaum zu fassen vermögen.
Gemeinsam, in absoluter Harmonie, nähern wir uns dem Grund des Ozeans. Die Welt um uns herum wird zu einem lebendigen Gemälde aus Korallen und schillernden Anemonen, die sich sanft in der Strömung wiegen. Die Farben explodieren in einem atemberaubenden Spektrum, während Fischschwärme wie flimmernde Juwelen um uns herumtanzen. Jeder Atemzug, jedes Herzklopfen verschmilzt mit dem Rhythmus des Ozeans, und ich weiß, dass ich in diesem Moment genau dort bin, wo ich sein soll.
Als wir den Meeresgrund erreichen und meine Flossen im weißen Sand versinken, halte ich Ausschau nach Emma. Doch zu meiner Enttäuschung ist die sechs Meter lange Tigerhailady nirgends zu sehen. Mein Blick schweift nun zu den anderen Tauchern. Es ist Eric zu verdanken, dass ich überhaupt so nahe an diese Raubtiere herangekommen bin – Eric, der seit mehr als zehn Jahren Haie erforscht. Meine Tauchkarriere begann zwar schon in der Grundschule, als mein Onkel mich mitnahm und mir diese magische Unterwasserwelt zeigte, doch Haie haben wir damals nie aus der Nähe beobachtet.
Kurz nach meiner Ankunft hier in Amerika lernte ich Eric kennen, den haibegeisterten Meeresbiologen aus der Schweiz. Eine Tatsache, die mir wieder beweist, dass man absolut alles werden kann, wenn man es möchte. Er betreibt eine Sharkschool, und ich hatte absolut keine Ahnung, was ich mir darunter vorstellen sollte. Im Grunde unterrichtet Eric in seiner Schule die Interaktion zwischen Mensch und Hai, sowohl theoretisch als auch praktisch. Nur dank seiner Begeisterung, mit der er über Haie und das Tauchen mit ihnen sprach, ließ ich mich darauf ein. Und da ich mich gerne selbst herausfordere, stimmte ich zu, diesen faszinierenden Kreaturen in ihrem natürlichen Lebensraum zu begegnen – wohlwissend, dass Haie Top-Räuber an der Spitze der Nahrungskette sind und mir körperlich weit überlegen.
Es dauerte nicht lange, bis ich lernte, das Verhalten der Haie zu deuten. Dabei legte ich nicht nur meine eigene Scheu ab, sondern lernte auch mich selbst neu kennen. Mittlerweile bin ich in der Lage, komplette Begegnungssituationen mit diesen anmutigen Raubtieren zu erfassen und entsprechend zu agieren bzw. zu reagieren, und zwar auf der Basis von wissenschaftlich belegtem Wissen, statt auf Basis von Vermutungen und antrainierter Angst. Auf diese Weise wurden meine Hai-Begegnungen angenehm, wahnsinnig faszinierend und sicher.
Während ich die anderen Taucher beobachte, die sich nun langsam im Halbkreis mit gebührendem Abstand zueinander positionieren, denke ich daran, wie weit ich gekommen bin. Eric hebt die Hand und bildet einen Kreis mit Zeigefinger und Daumen, wobei er die verbleibenden Finger nach oben streckt. Ich nicke kurz, während ich das Zeichen erwidere. Alles ok!
Plötzlich spüre ich einen leichten Druck an meiner Hüfte. Als ich nach unten blicke, entdecke ich einen Zitronenhai, der sich regelrecht an mich lehnt und aufgehört hat zu schwimmen. Mein Blick fällt auf eine feine Schnur, die aus seinem Maul hängt. Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, umfasse ich seinen Kopf und öffne vorsichtig sein Kiefer. Zwischen den messerscharfen Zähnen erblicke ich einen Anglerhaken, der tief im weichen Fleisch steckt. Die arme Kreatur muss unermessliche Schmerzen erleiden!
In diesem Augenblick treffe ich eine Entscheidung, die Eric neben mir laut aufschreien lässt. Ohne weiter nachzudenken, stecke ich meinen Arm in das Maul des Haies und beginne, den Haken zu entfernen. Der Zitronenhai zappelt kurz, bevor er sich von mir löst und davonschwimmt. Freudig zeige ich Eric den Haken, der kopfschüttelnd und mit zusammengekniffenen Augen seine Stirn berührt.
Zu meiner Überraschung kehrt der Zitronenhai zurück, als ob er sich bedanken möchte. Er schwimmt auf mich zu und erlaubt mir, seine raue Haut zu streicheln. Ich fühle, wie zwischen uns eine Verbindung entsteht, und sogleich erfasst mich erneut eine überwältigende Mischung aus Ehrfurcht und Freude. Die Unterwasserwelt um uns herum scheint diesen Moment zu feiern – die Fische tanzen im Licht, das durch die Wasseroberfläche dringt, und die Korallen leuchten in lebhaften Farben. In dieser magischen Welt, umgeben von den Wundern des Ozeans, finde ich einen Frieden und eine Verbindung, die jenseits aller Worte liegt. Kurz hebe ich den Kopf und bemerke Joe, einen der anderen Taucher, der grinsend die Unterwasserkamera auf mich und den Zitronenhai richtet. Ich nicke ihm zu, ein stilles Einverständnis, das durch das Wasser gleitet. Dann richte ich meinen Blick wieder auf den Hai, der nun regelrecht Streicheleinheiten einfordert.
Seine geschmeidigen Bewegungen zeigen eine unerwartete Zärtlichkeit, und ich kann nicht anders, als mich dem Moment hinzugeben. Während meine Hand sanft über seine raue Haut gleitet, spüre ich eine tiefe Verbindung und eine stille Verständigung zwischen uns. Der Ozean um uns herum scheint diesen besonderen Augenblick zu umarmen – die sanften Wellen wiegen sich im Rhythmus unseres stillen Dialogs und das Licht tanzt in einem Kaleidoskop aus Farben.