K8 "Side blind"
Noah ist schon seid ein paar Minuten hier und redet totalen Blödsinn. Ich lache die ganze Zeit durch und er auch. Seine Augen strahlen wieder in hellem Bernstein und seine Haare schwingen fröhlich hin und her. „Ich muss dir mal meine Freunde vorstellen." So unvorhersehbar wie seine Entscheidung war, so nimmt er auch meine Hand und zieht mich aus dem Zimmer. Ich schließe schnell die Tür ab und lasse mich von ihm zu seinem Zimmer ziehen. Noah hat es plötzlich ganz eilig und ich lache leise. Es ist schön, dass er mir seine Freunde vorstellen will. Gestern war es wirklich nicht angenehm so alleine. Ich bin es nicht gewöhnt, dass einfach keiner da ist. Besonders seit ich doch mit Noah wohne.
Im Gang der Jungs kommt uns Tyler entgegen. Ich grüße ihn mit einem kurzen "hi" und er lächelt zurück. Irgendwie starrt er aber auf Noah's und meine Hand die er festhält. Als wir an ihm vorbei sind drehe ich mich noch mal kurz zu ihm um und sehe wie er sein Handy heraus holt. „Er wird Kyle schreiben, dass du einen Harris kennst." Praktisch wenn man einen Freund hat der Gedanken lesen kann. Während ich Tyler gegrüßt hab und mich gewundert habe wie er uns angestarrt hat, hat Noah lieber seine Gedanken gelesen. „Ich check nicht wieso." Noah hält unsere Hände hoch. „Ich hab kein Problem mit Kyle, aber Finn ist nun mal mein Bruder und der hat ziemlich große Probleme."
Verwirrt sehe ich Noah an. „Probleme mit Kyle?" Noah nickt und läuft weiter mit mir an seiner Hand zum Anbau indem sein Zimmer liegt. „Jede Person auf dieser Schule gehört entweder zu Kyle oder zu Finn. Jetzt wo Tyler uns zusammen gesehen hat, wird Kyle alles dafür tun, dass du auf seiner Seite bist. Leider bin ich als Finn's Bruder auf der anderen. Sie haben jetzt Schiss dich an Finn zu verlieren." Ich bin einfach nur durcheinander. Diese ganze Klicken Sache ist doch total bescheuert. Als ob ich zu irgendeiner Gruppe gehöre und wieso ist sowas überhaupt nötig? Wir sind doch keine Gangs, die gegeneinander kämpfen müssen oder so. Das hier ist Schule und mehr sollte es auch nicht sein.
„Dann sollen sie sich doch gegenseitig die Leute klauen. Ich geh dahin wo ich will und wenn ich heute bei Finn sitze und morgen bei Kyle!" Noah lacht und ich auch. Er findet das ganze genauso bescheuert wie ich. „Hier ist mein Zimmer. Die anderen sind alle da." Noah öffnet die Zimmertür und sofort gucken alle in meine Richtung. Unangenehm.
Am Ende ist aber alles gut gelaufen. Alle haben mich sofort begrüßt und waren darauf gespannt mich kennenzulernen. Sie sind alle ein bisschen wie Noah und das macht es total leicht sich mit ihnen zu verstehen. Er hat sich da die richtigen Freunde gesucht. Generell ist Noah einfach mal wieder mein Rettungsboot indem er mir direkt hilft Leute kennenzulernen. Es ist als wäre Noah einfach immer da, wenn ich Hilfe brauche und das ist mehr als ich je von irgendwem erwarten kann. Ich bin besonders heute dankbar ihn zu haben. Mit ihm befreundet sein zu dürfen.
Nach einer halben Stunde bin ich dann aber wieder gegangen. Ich wollte lieber zurück in mein Zimmer. Genau wie gestern ist mir das alles plötzlich doch ein bisschen zu viel gewesen. Sie sind alle so freundlich und stellen so viele Fragen und ich bin wahrscheinlich etwas undankbar, wenn ich sage, dass mich ihr Interesse ein bisschen überfordert hat.
Ich gehe den Flur entlang um wieder zu meinem Zimmer zu kommen, als plötzlich ein Mädchen neben mir geht. Sie hat lange rote Haare, welche aber echt aussehen. Unten sind sie gelockt und am Haaransatz voller Volumen. Das Mädchen trägt ein petrol farbenes Kleid mit einer dunkel roten Strumpfhose und Stifelletten in dem selben blau-grün. Sie ist wirklich hübsch. „Hey, du bist neu oder?" Sie lächelt mich freundlich an. „Ja, sieht man das so sehr?" Sie lacht fröhlich und streckt mir ihre Hand entgegen. „Ich bin Amelie und du?" Ich schüttel kurz ihre Hand. „Étoile." Sie lächelt „Wie der Stern oder?" Ich nicke. „Wow, das ist ein wirklich schöner Name." Ich weiß nicht was ich darauf antworten soll also nicke ich bloß wieder.
„Du kennst hier noch niemanden oder?" Sie streicht sich eine ihrer gewellten Strähnen hinters Ohr. Sofort kann ich in ihre Augen sehen. Es ist so einfach ihre Gedanken zu lesen. Sie sind ganz klar. Nicht verlangsamt oder mit einem Rauschen im Hintergrund. Nein, man sieht sofort das sie durch und durch ein guter Mensch ist. „Ich hab Kyle kennengelernt und seine Freunde, aber sonst kenne ich kaum jemanden." Ich lasse Noah und Finn weg. Es ist besser nicht mit einem Player in Verbindung gebracht zu werden und Tyler hatte ja schon von Noah auf mich geschlossen.
Ihre Gedanken zeigen mir sofort wieso ich mit meiner Vorsicht auch Recht habe. Es gibt ziemlich viele Gerüchte über Finn. Jedes Gerücht beinhaltet irgendwas illegales. Streetfights, Autorennen, Dealen, Sprayen, Drogen nehmen, Diebstahl, Körperverletzung, illegaler Waffenbesitz u.s.w. Ich werde niemandem erzählen, dass ich Finn kenne oder sogar bei ihm wohne. Allein diese Gerüchte sorgen dafür, dass mein Respekt vor ihm steigt. So hoch, dass es an Angst grenzt.
Amelie lächelt wieder freundlich. „Das wird schon noch." Ich nicke wieder überfordert. Seit wann bin ich so nervös? „Leute kennenlernen kann ich eigentlich gut, ich weiß nur nicht, wo ich in der Cafeteria sitzen soll, dass scheint bei euch ja irgendwie ziemlich kompliziert zu sein. Wenn ich mich da zwei Meter zu weit setzte gelte ich vielleicht als rasistisch." Amelie lacht kurz. „Du kannst dich zu uns setzen. An unserem Tisch ist noch ein Platz frei." Ich lächle sie an. „Cool. Danke." Das war so viel einfacher als ich gedacht habe.
„Willst du jetzt in die Cafe? Ich wollte dort jetzt was essen." Ich zucke mit den Schultern. „Eigentlich wollte ich in mein Zimmer gehen, aber ich komme gerne mit." Sie sieht mich zufrieden an und läuft dann ein bisschen schneller weiter. Ich folge ihr stumm. Kennst du das, wenn irgendwas komisch ist? Die Chemie nicht stimmt? Ich werde normalerweise nicht so nervös, wenn ich neue Leute kennenlerne. Bei Amelie habe ich ein komisches Gefühl, deuten kann ich es aber nicht.
Die Cafeteria ist groß. Nicht riesig, aber größer als die auf meiner alten Schule. Ich muss mich bemühen sie "alte Schule" zu nennen und nicht "meine Schule", denn das ist sie nicht mehr. Amelie lotzt mich zu einem Tisch am Rand der Cafeteria auf Kyle's Seite. Wenn ich das alles richtig verstanden habe. Ich bin ganz schön nervös. Es ist beruhigend, dass Kyle mich auf seine Seite eingeladen hat, aber hier an dem Tisch kann ich wahrscheinlich nicht die ganze Zeit sitzen. Eben habe ich Tyler schon mit einem anderen Mädchen gesehen, die wohl auch neu ist. Es sieht wirklich so aus als würde Kyle versuchen so viele neue wie möglich für seine Seite wegzuschnappen. Ich weiß, gerade bin ich nicht in der Position seine Nettigkeit zu hinterfragen, weil ich doch dank ihm hier sitze und alles andere undankbar wäre, aber irgendwo frage ich mich doch ob er nur wegen Finn zu mir so freundlich ist. Nein, sowas sollte ich nicht denken, besonders wo er doch auch einfach nur ein wirklich netter Typ sein könnte. Von denen habe ich bis jetzt vielleicht einfach nicht genug kennengelernt seit dem ich umgezogen bin. Danke Finn.
„Wann bist du den angekommen?" Ich drehe mich wieder zu meinen Tischnachbarn um. Habe bis gerade zum Tisch in der Mitte geguckt. Da sitzen Kyle und seine Freunde. Nur ein Platz neben ihm ist frei. Wo ist eigentlich Tyler? „Gestern erst." Die Rothaarige nickt. „Dann ist ja alles noch ganz neu für dich. Das stelle ich mir anstrengend vor." Oh, sie hat ja keine Ahnung. „Willst du nichts essen?" Ich schüttle langsam mit dem Kopf. Meine Aufmerksamkeit liegt nicht wirklich bei ihr, obwohl sie wirklich nett ist. Ich habe weiter dieses schlechte Gefühl und ich versuche zu verstehen woher es kommt. Langsam sehe ich an ihrem Kopf vorbei. Wo ist eigentlich Noah? Noch oben? Tyler ist nicht da und Noah auch nicht? Toll, dann bin ich also praktisch alleine.
„Wo guckst du hin?" Sie dreht sich neugierig um und versucht zu verstehen was ich hinter ihr beobachtet habe. „Ah, Finn Harris." Nein, nein, nein. Ich habe absolut alles angestarrt, aber nicht ihn. „Echt ein Traumtyp sag ich dir, aber von dem würde ich lieber die Finger lassen." Sie dreht sich lächelnd wieder um und stützt ihr Kinn auf ihren Händen ab. „Die neuen finden ihm immer alle gut, aber mit der Zeit lernt man ihn kennen." Ich bin jetzt doch ein bisschen neugierig. „Was meinst du damit?" Sie rutscht weiter auf ihrem Stuhl nach vorne. „Er und seine Freunde und die ganzen Bitches aus unserer Schule sollen in den Ferien richtig betrunken auf dem Footballplatz Party gemacht haben, bis der Hausmeister sie erwischt hat. Andere sagen, er sei drüben bei uns ins Schwimmbad eingebrochen und einer seiner Freunde hätte sich auf dem fünf Meter Brett übergeben. Dann letztens wurden die Fenster von unserer Kapelle eingeworfen mit Backsteinen. Meine Freundin sagt, Finn wurde zum Schulleiter geschickt, aber sie konnten nicht beweisen das er es war und so ist er davon gekommen. Am schlimmsten ist aber die Sache mit Cory." Ich rutsche auch weiter über den Tisch zu ihr rüber und sehe sie gespannt an. „Was ist denn mit Cory?"
Sie sieht sich kurz nervös um. „Cory soll wegen Finn von der Schule geflogen sein. Sie sind mit einem Jeep über den Golfplatz gefahren und haben den ganzen Rasen beschädigt. Meine Mutter ist mit einer Lehrerin hier befreundet. Frau Grün, ich weiß nicht ob du sie kennst... jedenfalls hat die meiner Mutter erzählt, dass die Jungs einen Schaden von über zweitausend Euro angerichtet hätten. Alle sagen es wäre Finn gewesen und Cory hätte für ihn gelogen. Die beiden waren gar nicht so enge Freunde habe ich gehört, deswegen vermuten alle, dass Finn Cory gezwungen hat, zu sagen das er es war. Cory war mit einem Stipendium hier. Es gibt das Gerücht, dass die Harris Familie für den Schaden aufgekommen ist um das ganze zu vertuschen, aber mir wurde gesagt, Noah... Finns Bruder hätte das abgestritten." Ich atme tief durch. Das sind also alles Gerüchte nur über Finn? „Ich weiß ehrlich gesagt nicht was genau stimmt, aber ich würde Finn aus dem weg gehen. Ich bin schon zwei mal in ihn und Nathalie auf der Mädchentoilette reingelaufen und meine Freunde sogar noch öfter. Ich weiß gar nicht wie viele Mädchen er gleichzeitig hat, aber da ist Nathalie... die haben schon lange was, aber es ist nie was festes und Abby, Milena, Kim, Tiffany und Quin und das sind nur die, mit denen er sich öffentlich trifft. Wir glauben alle, dass da noch mehr sind."
Ich lehne mich zurück, weil ich inzwischen wirklich genug gehört habe und gucke dann nochmal zu Finn rüber, er ist aber nicht mehr da und Jayden auch nicht. Ob das alles stimmt? Ich meine... diese Mädchen waren wirklich bei ihm zu Hause. Ich habe drei schon vor der Haustür gehabt. War Nathalie nicht die, die er geküsst hat nachdem wir in der Schule angekommen sind? Ob er sie wohl vermisst hat? „Nathalie habe ich auch schon mit ihm gesehen." Amelie sieht angespannt aus. Sie flüstert leise. „Ich würde nicht so laut über sie reden. Sie ist die gemeinste von allen. Ein paar Mädchen haben sich schon mal wegen ihr krank gemeldet. Vor den Ferien war eine meiner Freundinnen an Finn interessiert. Wir haben alle gesagt, dass das ne dumme Idee ist, aber sie wollte nicht auf uns hören. Nathalie hat irgendwie davon mitbekommen und obwohl meine Freundin noch nichts getan hat, noch gar keinen Schritt auf Finn zugemacht hat, hat Nathalie sie auf der Party geschupst so das sie hingefallen ist und hat ihr dann Bohle übergeschüttet. Meine Freundin hat den ganzen Abend geheult und das Zeug ging nicht aus ihren Haaren raus, obwohl wir es immer wieder versucht haben mit Shampoo auszuwaschen. Seit dem haben viele Mädchenn Angst vor ihr." Sie ist wahrscheinlich nur so lange in Finns Nähe geblieben, weil sie alle anderen Mädchen tyrannisiert hat. „Sie ist mit Tiffany und Quinn befreundet und die drei sind richtig schlimm zusammen."
Jetzt wo ich Amelie genauer ansehe, sieht sie sogar etwas verängstigt aus. Ihre grünen Augen haben geweitete Pupillen und ihre Lippen sind zu zwei schmalen Strichen geworden. War ja klar, dass Finn sich wieder nur mit solchen abgibt. Leute die einem auch immer Angst machen, genauso wie er es tut. Plötzlich scheint Amelie etwas hinter mir zu fixieren und genauso wie sie eben bei mir, drehe ich mich jetzt um um zu sehen was sie sich ansieht. Ich sehe einen humpelnden Tyler mit zwei blutenden Wunden im Gesicht und Jayden, der ihn hinten am Kragen gepackt hat und vor sich her schiebt. Es wird leiser in der Cafeteria als auch andere den Auftritt von Finn bemerken, der gemütlich, wieder in einer Lederjacke, mit beiden Händen in seinen Hosentaschen hinter den zwei Jungs her schlendert. Ich habe noch nicht viel über diese Seiten gelernt, aber ich weiß, das Finn diesen Eingang eigentlich gar nicht benutzen darf, weil er auf Kyles Seite liegt und er durch diese nicht durchgehen kann. Von Amelie höre ich nur ein leises „Oh scheiße!" was wohl bedeutet, dass sowas hier öfters passiert. Sie scheint schon eine gewisse Vorahnung zu haben wie das ganze hier ausgehen wird.
Kyle ist inzwischen genauso wie die anderen Jungs an seinem Tisch aufgestanden. „Weißt du Stein, ich bin enttäuscht. Da sehe ich, dass ein Platz neben dir frei ist und wundere mich schon wo dein kleiner Handlanger ist, da kommt er mir wie vermutet auf meinem Flur entgegen." Handlanger? Auf seinem Flur? Hat Finn nicht nur eine Seite der Cafeteria, sondern auch einen eigenen Flur? Ich kann es nicht glauben. „Wie oft muss ich dir eigentlich noch klar machen, dass deine Ratten dort nichts zu suchen haben?" Jayden schubst Tyler demonstrativ auf Kyle zu und dieser stolpert so stark, dass Kyle ihn gerade noch abfangen kann bevor er fällt. Tylers schlechtes Gleichgewicht deutet erstrecht darauf hin, dass die Jungs schlimme Dinge mit ihm angestellt haben. Sein Kopf hat wohl noch mehr abgekriegt als man ihm ansehen kann. Kyle scheint nicht mehr so ruhig zu sein wie eben, wo er noch locker mit seinen Freunden an dem Tisch saß und sie sich unterhielten. Er gibt Tyler vorsichtig an einen seiner Freunde weiter und diese setzen ihn auf seinen Platz. Wieso gehen sie nicht mit ihm zur Krankenstation?
„Harris. Da bist du gerade mal zwei Tage hier und schon musst du jemanden verprügeln." Finn hat dieses selbstgefällige Grinsen auf seinen Lippen was absolut nichts gutes bedeuten kann. „Wären du und deine Kakerlaken nicht so vergesslich, müsste ich sie nicht ständig dran erinnern." Jayden steht angespannt da, das kann ich sogar von hier hinten noch sehen. Ich sitze ja schon ein paar Tische weit weg und bin gerade auch besonders froh nicht in der ersten Reihe zu sitzen. Jayden hat bis jetzt kein Wort gesagt. Die Luft ist plötzlich ganz dick geworden. Alle scheinen in Alarmbereitschaft zu sein. Schnell sehe ich zu dem Tisch rüber wo Finn am Anfang des Mittagessens noch gesessen hatte. Seine Freunde sitzen immer noch gelassen da. Sie unterhalten sich nicht mehr so wie eben, aber so angespannt wie Kyle scheinen sie nicht zu sein.
Als ich wieder zu den beiden Jungs sehe, starren sich sich gerade wütend nieder. Wenn Finns Blicke töten könnten... Kyle schein dagegen sogar freundlich auszusehen. Er ist wohl wirklich nicht dafür gemacht der böse zu sein. Finn dagegen scheint die Rolle perfekt zu passen. Fast so als wäre sie für ihn erfunden worden. „Weißt du was, Finn. Einer von uns muss ja den größeren spielen, also werde ich hier einfach drüber hinweg sehen, wenn du jetzt zurück auf deine Seite gehst." Zu Beginn seines Satzes schein Kyle sogar zu lächeln, aber zum Ende klang er doch wieder angespannt. Fast so als wäre ihm bereits bewusst, dass Finn die Sache nicht so leicht ruhen lassen wird. „Ich würde ja sagen es sei vergessen, wenn Tyler sich vor mich knien würde um sich zu entschuldigen, aber das hat er bereits und ich habe ihm trotzdem in den Magen getreten." Finn grinst fies und Jayden lacht sogar ein bisschen. Finn hatte also in der Küche wirklich recht als er sagte Jayden sei fake nett zu mir. Er scheint kein bisschen besser als Finn zu sein. Nein, ihm scheint die ganze Situation am meisten zu gefallen.
Kyle schmunzelt leicht und atmet dann tief durch. Er streift sich durch seine Haare und sieht dabei zum Boden als könnte er wirklich ignorieren was Finn gesagt hat. Es ist schon beeindruckend wie sehr er wirklich über dem steht, was Finn tut. Oder auch nicht. Denn während Kyle so locker zu Finn rüber ging, ließ dieser kurz seinen Fokus abschwächen und Kyle nutzte genau das um Finn ordentlich ins Gesicht zu boxen. In der ganzen Cafeteria entsteht ein erschrockenes Raunen als Finn überrascht ein Stück zurück taumelt. Er packt sich dann kurz an die Nase während er Kyle wütend im Blick behält. Wahrscheinlich geht er sicher, dass sie nicht gebrochen ist. Dann richtet er sich wieder auf. Er sieht angespannt zu Jayden und fragt doch tatsächlich so laut, dass wir es alle hören können: „Willst du zuerst oder soll ich?" und Jayden lässt sich das ganze nicht zweimal fragen und schlägt konzentriert, aber doch mit einem zufriedenen Grinsen in Kyles Gesicht.
Ab da ist dann eine richtige Prügelei losgegangen. Jayden und Finn gegen Kyle und den einen Freund, der eben Tyler geholfen hatte sich hinzusetzten. Keiner schreitet ein und das obwohl Kyles Freunde doch direkt daneben stehen. Andere haben wahrscheinlich zu viel Angst involviert zu sein oder selbst verletzt zu werden, aber für die Betroffenen scheint es wohl doch eine Art Kodex oder sowas zu geben, dass der Kamp fair ausgetragen wird. Das hätte ich besonders von den Badboys nicht erwartet. Ich habe generell gedacht ich hätte schon mal die ein oder andere Prügelei gesehen, zumindest im Fernsehen, aber all diese Bilder scheinen überhaupt nicht damit übereinzustimmen was sich gerade hier abspielt. Die werfen sich fast hin und her, schlagen sich, dann schubst wieder einer. So viel Wut hatte ich bestimmt noch nie in mir, dass ich so brutal wie Finn gerade auf jemanden losgehen würde.
Ich sehe Amelie an. „Gibt es hier keine Lehrer?" Wenn schon kein Schüler jemanden holen geht, dann sollte doch zumindest das Küchenpersonal jemanden informiert haben. Die können das doch auch von der Essensausgabe sehen. Amelie antwortet gar nicht, sieht wie hypnotisiert einfach zu.
Als die vier Jungs sich gegenseitig so feste geschlagen haben das alle auf dem Boden sitzen und vor sich hin keuchen steht Noah auf. Es ist ganz still im Raum. Alle beobachten stumm wie Noah sich durch die Tischreihen nach vorne zum Eingang bewegt. Bei den Jungs angekommen, reicht er Finn seine Hand und zieht ihn wieder auf die Beine. Danach geht er erstaunlicherweise zu Kyle und macht das gleiche, was Finn nur mit einem wütenden Blick mit ansieht. Die anderen beiden werden auch vom Boden gezogen und alle verschwinden. Beide Tische sind leer und obwohl ich riesigen Hunger habe, sage ich Amelie schnell, dass ich gehen muss und folge Noah unauffällig aus der Cafeteria. Es war plötzlich richtig laut geworden als die Jungs gegangen waren. Alle mussten sich sofort über das gerade Geschehene unterhalten. Noah geht hinter Finn und seinen Freunden her. Als er mich bemerkt zieht er mich sofort an sich. Ich weiß selbst wie gereizt die Jungs gerade sind. Es ist besser wenn ich in Noahs Nähe bleibe und mich so ruhig wie möglich verhalte.
Noah scheint das ganz genauso zu sehen, denn er fragt mich nicht wieso ich hier bin. Ich weiß es auch ehrlich gesagt selbst nicht so genau. Es ist sicher keine gute Idee den Jungs zu folgen, aber ich bin einfach zu neugierig um es nicht zu tun. Ich will Noah fragen wieso er Kyle und Finn aufgeholfen hat. Ob das symbolisch war um etwas Frieden zu stiften? Will wissen wieso Tyler bei den Jungs auf dem Flur war, was sie mit ihm gemacht haben und wie oft diese Schlägereien eigentlich vorkommen. Amelie schien gar nicht überrascht gewesen zu sein Tyler so zu sehen. Ist das Ganze echt oder nur Show wie beim Wrestling? Wieso tut man sich denn freiwillig sowas an? Provoziert sich gegenseitig obwohl der andere einem dann ins Gesicht schlägt?
So in Gedanken folge ich Noah in Finn's Zimmer. Im Zimmer stehen sechs Betten. Jayden legt sich sofort in sein Bett und hält sich das Handgelenk. Bis zur Zimmertür sind alle aufrecht gegangen. Jetzt sieht man ihnen erst richtig an, wie groß ihre Schmerzen sind. Ich bin mir sicher Kyle und seinem Freund geht es nicht anders. Ich beschließe später bei ihm vorbei zu gehen. Er war gestern ziemlich nett zu mir und das ich mal sehe ob es ihm gut geht, scheint irgendwie fair zu sein.
Matt, der gestern Sniper beruhigt hatte, Jason der Handy klauer und Liam, der ohne Führerschein liegen in ihrem Bett. Sie haben nichts abbekommen. Das Zimmer ist wirklich klein. Nur ein kleines bisschen größer als meins. Für so ein nobles Internat hatte ich mir keine so vollgepackten Zimmer vorgestellt. Es ist gut, dass alle zu ihren Betten gehen, weil wir hier sonst gar keinen Platz hätten. Finn legt sich vorsichtig hin und verzieht dabei schmerzvoll sein Gesicht. Noah geht ins Bad und holt einen erste Hilfe Kasten. So wie er das macht, ist es wohl schon öfters passiert. Kurz stehe ich überfordert herum. Die Jungs ignorieren mich einfach wofür ich ihnen gerade extrem dankbar bin. Als Noah wieder kommt, drückt er mir ein Wundheilungsspray in die Hand und deutet mir an mich um Jayden zu kümmern. Ohne groß nachzudenken setze mich nervös zu Jayden aufs Bett und schnappe mir das Sspray. Ich greife furchtlos seinen Arm und gucke mir seine Hand an. Alle Knöchel bluten und sein Handgelenk ist angeschwollen.
Jayden zieht seine Hand weg und sieht mich wütend an. „Lass mich in Ruhe. Du hast nicht mal das Recht hier zu sein." Ich nehme schnell sein Handgelenk zurück und sprühe auf die Wunden. Jayden beißt sofort die Zähne aufeinander. „Miststück." Ich drücke nur ganz leicht zu und schon schreit er auf. „Fresse jetzt." Er guckt mich wütend an, aber lässt mich dann machen. Bin selbst ein bisschen beeindruckt von meinem neuen Selbstbewusstsein. Ich nehme eine Salbe gegen Prellungen, die gleichzeitig kühlt und schmiere etwas auf Jayden's Handgelenk. Diesmal versuche ich ihm nicht weh zu tun. Ich lege eine Krompresse auf die Stelle und wickel vorsichtig einen Verband um seine Hand. Ich war Sannidienst auf meiner alten Schule und weiß so zum Glück wie das richtig geht. Als ich fertig bin gucke ich mir die Wunde in seinem Gesicht an. Jayden starrt immer noch wütend zurück und beobachtet jede meiner Bewegungen, aber das ist mir egal. Ich desinfiziere die Kratzer und mache ein Pflaster auf die Schirfwunde an seiner Stirn. „Fertig." Ich drehe mich zu Noah der gerade alle Sachen wieder einräumt. Finn hat auch einen Verband an seiner Hand, aber die Wunden in seinem Gesicht sind weniger schlimm. Der Braunhaarige räumt den Verbandskasten wieder weg.
Als er wieder aus dem Bad kommt, setzt er sich auf Finn's Bett und da ich Jaydens Blicke nicht mehr aushalten konnte und darum aufgestanden war, zieht Noah mich auf seinen Schoß. Ich hab kein Problem damit. Ich vertraue Noah und wir wissen beide, dass wir nur Freunde sind. Finn guckt mich fassungslos an, aber ich ignoriere es. „So und jetzt erzählt wieso ihr euch dieses Mal geprügelt habt." Matt setzt sich auf und guckt Finn kurz an, der wiederwillig nickt. „Nagut. Tyler war bei uns im Gang. Wir haben im klargemacht das er dort nichts zu suchen hat und ihn dann zu Kyle gebracht um ihm zu zeigen, was mit den Leuten passiert, die unerlaubt in unserem Gang herumlaufen. Mehr nicht."
Ich glaube nicht, das ich hier mehr erfahren werde also flüstere ich Noah schnell ins Ohr wo ich hingehe und verlasse das Zimmer. Vor der Tür höre ich wie sie ins Schloss fällt und atme dann erleichtert auf. Der ganze Körperkontakt mit Noah war anstrengender für mich als ich dachte und durch die Blicke der Anderen lag mehr Druck auf mir als mir im ersten Moment klar geworden ist. Nachdem sich mein Herzschlag wieder normalisiert hat, denke ich wieder an meinen Plan.
Kyle hat mir gestern erzählt wo sein Zimmer ist und so bin ich schnell da. Ich klopfe und irgendein Junge macht mir die Tür auf. „Sorry, aber das ist gerade ganz schlecht." Er will die Tür schon wieder zu machen aber ich halte ihn auf. „Ich wollte zu Kyle. Es ist wichtig." Der Typ guckt mich lange an. Matteo heißt er also. „Lass sie rein." Matteo lässt mich reinkommen und ich gehe sofort zu Kyle, der auf seinem Bett liegt. Ihn hat es genauso hart getroffen. „Hey." Kurz lächle ich und bleibe dann kurz vor seinem Bett stehen. „Darf ich?" Mein Finger deutet auf sein Bett. Kyle rutscht ein Stück zur Seite und nickt. Diese kleine Bewegung hat ihm schon weh getan, das sieht man ihm an. Ich setzte mich und gucke mir seine Wunden an. „Habt ihr nen Verbandskasten?" Matteo nickt und verschwindet kurz im Bad um ihn zu holen.
Nachdem ich kurz Kyle gemustert hatte, lege ich meine Hände vor mich hin und sehe in seine Augen. „Ok. Was tut dir alles weh?" Kyle guckt mich kurz an und zieht dann zögerlich sein Shirt ein Stück hoch. „Finn hat mich gut getroffen." Ich gucke mir die lilane Prellung an. „Ja, ein sauberer rechter Haken. Dumm nur, dass seine Hand jetzt blutet." Ich nehme mir etwas von der Salbe die ich auch bei Jayden genommen habe und schmiere sie vorsichtig auf die geprellte Stelle. Es ist immer wieder erstaunlich wie mir der Kontakt mit anderen nichts ausmacht, wenn er von mir aus geht. Würde Kyle versuchen eine Prellung auf meinem Bauch einzucremen, wäre ich vor Panik wahrscheinlich schon aus dem Fenster gesprungen. „Wieso ist das eigentlich jetzt passiert?" Kyle zieht sein Shirt wieder runter und ich wasche im Bad die Salbe von meinen Händen.
„Sie haben Tyler geschlagen. Das hat mich wütend gemacht und so..." er schluckte kurz. „...hab ich ihn geschlagen. Das daraus gleich ne riesen Prügelei wird, hab ich nicht kommen sehen. " Ich gehe zur Tür und werfe dabei einen Blick auf Tyler, der in seinem Bett liegt und schläft. Er sieht wirklich schlimm aus. „Ich gehe kurz Kühlpacks holen." Kyle nickt und lächelt mich dankend an. Wenigstens eine Person die schätz, was ich eigentlich für sie mache.
Im Flur muss ich erstmal wieder überlegen wo ich bin und wie ich jetzt an die Kühlpacks komme. Ich hasse dieses Gebäude jetzt schon. Was ich auch nicht verstehe, ist Kyles verhalten. Wäre ich nicht vorbei gekommen, hätte er seine Verletzungen einfach nicht versorgt? Die Prellung so gelassen wie sie ist? Hat er niemanden wie Noah, der sich um ihn kümmert? Er hat doch so viele Freunde oder? Was ist eigentlich mit Noah? Kümmert er sich immer um die Jungs? Ob Finn je ‚danke' dafür sagt? Wahrscheinlich nicht. Ich kann nicht glauben wie unhöflich sie alle sind. Wie mies Jayden sich verhalten hat. Ich bin solche Vollidioten einfach nicht gewöhnt. Ist doch nett, wenn jemand hilft. Da kann man doch freundlich sein. Kyle schafft das doch auch. Der wurde wohl besser erzogen.
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Ich wünschte so einen Kommentar hätte ich nie über Jayden gemacht. Damals wusste ich noch nicht, dass er die meiste Zeit seines Lebens keine Eltern hatte.
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Ich gehe zur Rezeption und lasse mir fünf Kühlpacks holen. Die Frau guckt mich ziemlich komisch an, aber gibt mir dann doch die Kühlpacks. Ich klopfe zuerst bei Finn an. Jason öffnet mir die Tür. Er lässt mich sogar rein. Vielleicht lässt er mich aber auch nur wegen den Kühlpacks rein -wenigstens ist mir sein Name wieder eingefallen. Ich werfe Jayden und Finn eins zu und will dann wieder gehen, aber Finn lässt mich nicht. „Wo willst du denn mit den anderen Kühlpacks hin?" Ich mache noch unauffällig einen Schritt zur Tür.
„Ihr seid nicht die einzigen, die ein Kühlpack brauchen." Jason kommt sofort neben mich und versperrt die Tür. „Du willst also mit den anderen Kühlpacks zu Kyle laufen?" Ich sehe vom Boden wieder zu Finn. War seinen so verdammt blauen Augen ausgewichen. Ich hätte zu erst zu Kyle gehen sollen. War fest davon ausgegangen, dass Noah noch hier ist. „Ja." Ich richte mich gerade auf. „Damit mache ich nichts falsches. Ihr habt Tyler geschlagen. Ihm geht es scheiße und da er mir nichts getan hat, gehe ich zu ihm und bringe ihn ein Kühlpack. Kyle war nett zu mir, im Gegensatz zu anderen." Dabei gucke ich bewusst Jayden an. „Er hat nur seinen Freund verteidigt, genau so wie es Jayden bei dir gemacht hat. Du hast schließlich angefangen Kyle zu schubsen. Ich muss niemanden hassen nur weil ihr es tut. Ich bilde mir meine Meinung selbst. Also lass mich einfach in Ruhe." Ich verschränke meine Arme.
„Du musst dich aber entscheiden auf welcher Seite du stehst!" Finn sieht mich bedrohlich an. „Ich muss garnichts. Ich stehe auf meiner Seite und die ist unparteiisch." Ich drehe mich zu Jason um. „Geh weg!" Er guckt kurz zu Finn und öffnet dann die Tür. Ich gehe heraus und mache mich auf den Weg zu Kyle. Ich bin froh, dass Finn eine drauf bekommen hat. Damit war er wohl zu kraftlos um zu diskutieren und hat mich gehen lassen. Wenn das nicht mal Karma ist.
Ich gehe vorher noch in mein Zimmer und hole ein paar Medikamente. Bei Kyle im Zimmer gebe ich ihm ein Kühlpack und seinem Freund auch. Er heißt übrigens Lucas. Dann setze ich mich zu Tyler aufs Bett und wecke ihn vorsichtig. Ich gebe ihm das Kühlpack. „Hier. IBU gegen die Schmerzen." Er schluckt die Tablette und ich lege ihm noch eine eingepackte hin für später. „Danke." Tyler sieht furchtbar aus. Sein Gesicht ist ganz rot, seine Augen angeschwollen und seine Haare sehen noch dünner aus als sonst schon. Muss der wirklich nicht zur Krankenschwester? Ich lächle leicht. „Kein Ding." Ich will wieder aufstehen aber er hält mich fest. Sofort sehe ich auf meinen Arm. Weil er so schwach ist, ist sein Griff nicht fest, aber er ist trotzdem unangenehm. „Ich hab dich auf dem Flur mit Noah gesehen. Ihr kennt euch?" Tyler bemerkt, dass ich sehr unzufrieden mit seinem Verhalten bin und lässt mich zum Glück wieder los. Ich gucke kurz zu Kyle der auf meine Antwort wartet.
„Ihr habt ein ziemliches Problem mit Finn und seinen Freunden, was ich auch verstehen kann, weil die alle ziemlich einen an der Klatsche haben, aber zieht mich da nicht mit rein. Ich bin gut mit Noah befreundet und das ist auch schon alles. Das hat nichts mit Finn oder eurer Sache zu tun." Kyle nickt nur. „Ist schon in Ordnung, dass soll hier ja kein Verhör werden. Wir sollten uns eher bei dir bedanken. Für die Kühlpacks und so." Ich nicke kurz. „Die blöden Kühlpacks zu besorgen war schwieriger als ich gedacht hatte." Ich werde nicht sagen wieso es schwierig war, denn das würde meine Aussage von eben fragwürdig erscheinen lassen. Ich weiß ja selbst nicht wieso ich den anderen auch Kühlpacks gebracht habe. „Hast du Lust den Rest des Tages hier zu verbringen? Tyler, Lucas und ich können heute wohl nicht mehr so viel machen. Wir könnten nen Film gucken. Du hast ja heute noch nichts gegessen. Wir haben Chips und Eis da." Sagt Kyle. Ich nicke sofort. „Ihr habt Eis da? Geil. Ich bin dabei."
Und so gucken wir den Rest des Tages Transformers. Meine Auswahl. Wir diskutieren wer unnötig ist und wer unrealistisch schauspielert. Welcher Transformer der krasseste ist und noch ein paar andere Sachen. Um Sieben gehe ich wieder rüber in mein Zimmer. Es war schön bei Kyle. Alle haben mich freundlich verabschiedet und sich nochmal bedankt. Ein bisschen Hoffnung habe ich, dass ich bald Freunde habe. Ich werde wohl öfters Zeit bei Kyle verbringen. Er holt mich auch morgen ab und hilft mir mich am ersten Schultag zurecht zu finden. Hoffentlich klappt alles.
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Ich liege schon im Bett, da klopft jemand an meine Tür. Ich siehe mir schnell einen Hoodie an und öffne. Finn lehnt entspannt im Rahmen und sieht mich an. Es ist schon spät. Was macht er denn hier? Ich mustre ihn verwundert. Er trägt ein ausgewaschenes braunes Shirt, seine Lederjacke wie eigentlich immer und eine dunkle Jeans. Sein Verband ist dreckig und die Hälfte ist nicht mehr ordentlich gewickelt. „Komm rein." Ich zeige auf mein Bett damit er sich hinsetzen kann, aber stattdessen läuft er rein wie der größte Babbo und legt sich sofort hin.
Ich sehe genervt zu ihm rüber, schließe die Tür und setze mich an auf die Bettkante. „Hey." Ich rüttel an seinen Arm. „Wieso bist du hier?" Er öffnet wieder seine Augen die er kurzzeitig geschlossen hatte. Will er hier schlafen oder was? „Keine Ahnung. Ich wollte einfach zu dir." Ich sehe ihn prüfend an und gehe dann einen neuen Verband holen. Was ne lahme Ausrede. Das kaufe ich ihm definitiv nicht ab.
Mit dem Verbandskasten in der Hand setze ich mich wieder zu ihm. Er sieht mich müde an. Ob alles okay ist? Er hatte wohl einen anstrengenden Tag. Es wundert mich, dass er ausgerechnet zu mir gekommen ist. Hätten seine Freunde oder Noah nicht den Verband neu machen können? Vorsichtig lächle ich ihn an. „Mach die Augen wieder zu. Ich mach das schon." Er zögert kurz als würde er mir so wenig trauen, dass er auf längere Zeit nicht mal seine Augen schließen will. Ich sehe einfach auf seine Hand, aber als ich kurz wieder in sein Gesicht springse, hat er seine Augen schon wieder geschlossen. Da ist jemand wohl wirklich sehr müde. Langsam nehme ich seinen Arm und lege ihn vor mir auf einem Kissen ab. Nur weil ich mit Finn nicht gut auskomme, muss ich ihn ja nicht gleich schlecht behandeln. Das er seinen Verband aber so ruiniert hat nervt mich schon. Noah hat sich bestimmt Mühe gegeben. Es ist komisch Finn anzufassen. Fühlt sich an als sei es schon so lange her, dass er meine Hand gehalten hat. Ich bin extra vorsichtig.
„Was hast du schon wieder mit deiner Hand gemacht? Die sieht ja noch schlimmer aus als vorher." Ich wickel ihn vorsichtig den Verband ab. Seine Knöchel bluten und seine Hand ist ganz rot. Ich nehme die Salbe und trage sie auf sein Handgelenk und den Handrücken auf. Als ich meinem Blick hebe gucke ich Finn direkt in die Augen. Er sagt nichts. Schweigt wie immer. Frustrierend. Ich nehme einen neuen Verband und wickel ihn vorsichtig um Finn's Hand. Dann redet er halt nicht mit mir. Ist mir auch recht. Ich wollte eh keine ganze Konversation mit ihm haben. Pfff. Was glaubt er eigentlich wer er ist? Taucht hier um diese Uhrzeit noch auf und kennt wieder mal keine Manieren.
Als ich fertig bin, mache ich schnell einen Knoten und lasse Finn's Hand los. Er hält meine Hände aber fest bevor ich sie wegziehen kann. Kurz sehe ich verwirrt auf unsere Hände, aber dann sehe ich ihn sein Gesicht. „Du bist wie immer so freundlich." Ich lächle nur müde über seine Feststellung. „Ist schon in Ordnung. Ich hab das gerne gemacht." Er scheint sich zu amüsieren, aber lässt mich nicht aus den Augen. „Ach ist das so?" Nein. Ich war bloß höflich. Er weiß das auch. Trotzdem spiele ich sein kleines Spiel mit. „Vielleicht."
Ich weiß nicht was er sich hier bei wieder denkt, aber das hier ist immer noch angenehmer als wenn er aggressiv ist. „Dann hast du also nur darauf gewartet, dass ich vorbei komme?" Ich lache und zwinker gespielt. „Nein, ich wusste, dass du vorbei kommst." Er nickt fast unscheinbar und rutscht ein Stück zur Seite. Ich ziehe meine Hände aus seiner. Dann deutet er mir an, dass ich mich neben ihn legen soll. Ich ziehe skeptisch meine Augenbrauen hoch und er sieht entspannt an die Decke. „Du wolltest doch, dass ich dir ne Chance gebe. Da hast du sie."
Ich zögere kurz. Es stimmt. Ich wollte eine Chance und eigentlich sollte ich sie nutzen, denn eine zweite bekomme ich wahrscheinlich nicht, trotzdem ist es mir generell unangenehm nah an anderen dran zu liegen und mein Bett ist ziemlich schmal. Eine Chance möchte ich, aber muss es so eine sein? Ich hab wohl keine andere Möglichkeit. Langsam lege ich mich zu ihm. Er sieht fertig aus. War wohl doch ziemlich anstrengend sich so zu prügeln. Ob Kyle auch so fertig ist? Der schläft vielleicht auch schon.
Ich greife fast schon mit Selbstvertrauen nach seinem Arm und lege ihn auf meinen Bauch. Natürlich liegt auf meinem Bauch noch das Kissen. Ich bin ja nicht bescheuert. Finn sollte nur seinen Arm hochlegen, damit er heilen kann.
Unerwartet legt Finn sich auf die Seite und ich sehe ihn beruhigend an. „So okay?" Er rutscht noch ein bisschen näher an mich heran, so dass ich seinen Atem auf meiner Wange spüren kann. Er nickt bestätigend. Ich starre wie gelähmt an die Decke. Okay, das ist nah. Zu nah. Was macht er denn da? Machen Freunde das so hier? Wir sind ja schon fast am kuscheln. Naja, Finn scheint es nur wichtig zu sein, dass sein Arm und er gemütlich liegen. Ich will das wir miteinander auskommen und er mich leiden kann, also bleibe ich liegen.
Ich überlege sogar seinen Arm entlang zu streicheln, damit er sich ein bisschen beruhigt, aber der Mut hat mich verlassen. Finn möchte bestimmt nicht, dass ich ihn anfasse. Manchmal darf ich ihn ja nicht Mal ansehen. Er ist mir ein echtes Rätsel. Wenn wir alleine sind und er so nah bei mir ist, kommt er mir gar nicht so schlimm vor, aber von weitem macht er mir regelrecht Angst. So viel, dass ich die Straßenseite wechseln würde und eine Freundin anrufen würde, wenn er mir entgegen käme. Wie macht er das bloß? Ob er das steuern kann? Entscheiden kann wie beängstigend er sein will?
Es ist ziemlich neu für mich, dass jemand so nah an mir liegt und ich bin mir um ganz ehrlich zu sein nicht sicher was das bedeutet oder wie ich das hier bewerten soll. Ist das hier okay oder total komisch? Macht er das immer so? Ich muss an Amelies Worte denken. Sie sagte, dass es da ganz viele Mädchen gibt. Ob das hier irgendeine Taktik ist? Ob es hierbei um diese komischen Seiten geht? Bin ich der Fußball im Spiel ‚Kyle gegen Finn'? Meinen die Beiden das hier ernst oder spielen sie nur? Nutzen mich aus? Wieso war Finn dann so unzufrieden als ich auf Noahs Schoß saß? Ich wollte mir erst nichts dabei denken, aber hat Finn etwas gegen Noahs und meine Freundschaft? Er kommentiert es ja ständig also muss da doch etwas sein.
Plötzlich rutscht Finn einfach noch näher an mich. Drückt seinen Arm um mich und das Kissen als wären wir sein Eigentum. An seinem Atem kann ich deutlich erkennen, dass er schläft. Ich hätte es wissen müssen. Er kuschelt sein Kissen ja auch zu Tode. Fuck! Wenn ich ihn nicht bald wecke, verfalle ich in Panik. In seinen Armen scheint mir die Luft weg zu bleiben. Ich kann kaum atmen als gäbe es keinen Sauerstoff. Ich muss ruhig bleiben. Finn hat nichts mehr gesagt und ich war damit beschäftigt mich nicht so unwohl zu fühlen. Ob er das merkt? Egal, jetzt ist es langsam wirklich spät und ich muss schlafen. Alleine. In meinem Bett.
Ich stehe vorsichtig auf um Finn's Hand nicht zu verletzten. Er ist wirklich eingeschlafen. Ich starre ihn ungläubig an. Verdammt, wieso sieht er nur immer so süß aus wenn er schläft? So süß und dabei ist er so ein Teufel, wenn er wach ist. Das ist nicht fair. Wenigstens ist sein Arm jetzt wieder besser und er sieht weniger fertig aus. Müder kleiner Teufel. Kurz mustere ich ihn um sicher zu gehen, dass er auch wirklich keine anderen Verletzungen hat. Er scheint okay zu sein.
Vorsichtig stupse ich ihn an. Anders als beim letzten Mal wird er dieses Mal wirklich langsam wach. „Ist es schon morgen?" Ich schüttel nur den Kopf und beiße mir auf die Unterlippe um nicht dümmlich zu grinsen, weil er so süß aussieht, weil sein so Zucker süßes Aussehen gefällt ihm mit seinem Image bestimmt gar nicht und das macht mich richtig glücklich! „Lass das." Er zieht mich unzufrieden näher zu sich und guckt auf meine Lippen. „Wieso denn?" Jetzt grinse ich wirklich dümmlich. Er zieht mich noch ein Stück aufs Bett so das ich neben ihm Knie. „Weil du dann zu süß aussiehst und ich dich dann küssen will." Player. Haben immer die dümmsten Sprüche drauf. Aber das lasse ich nicht mit mir machen. „Du siehst auch süß aus." Er verzieht das Gesicht. „Wenn schon, dann heiß bitte." Ich stehe augenrollend auf. „Ja, vielleicht auch ein ganz keines bisschen heiß." Lüge ich? Nein. Wünschte ich, dass ich lügen würde? Definitiv! Ich habe nur die Wahrheit gesagt damit er mich leiden kann. Weiter so schön freundlich bleibt.
Finn setzt sich dann auch langsam auf. „Bist du dir sicher, dass das du mich nur ein bisschen heiß findest?" Ich lache, weil er doch tatsächlich seine Hand auf meinen Rücken gelegt hat. Der denkt wohl wirklich diese billige Nummer würde an mir funktionieren. „Naja." Ich nehme seine Hand von meinem Rücken. „Nicht heiß genug um die Nacht hier zu verbringen. Also raus hier." Ich springe vom Bett und ziehe Finn zur Tür. Weil er so müde ist, bewegt er sich sogar wirklich und kämpft nicht dagegen an. Er beugt sich im Türrahmen jedoch kurz vor und küsst mich auf die Wange, bevor ich weglaufen kann. „Schade."
Ich glaube für einen kurzen Moment, dass er es erst meint. Dann dreht er sich um und geht einfach. Stumm starre ich ihm kurz hinterher und schließe dann die Tür. Immer noch verwirrt. Schade? Ich schüttle mit dem Kopf. Wie kann ich mir nur wieder so einen scheiß auf ein einzelnes Wort einbilden? Das ist ja fast wie am ersten Tag wo ich ihn draußen gesehen habe. Genau gerade hat er genauso geguckt wie damals. So durchdringend mit seinen blauen Augen. Ich hab mich wieder wie gelähmt gefühlt. So als könnte er mich damit lesen wie ein Buch. Peinlich.
Erneut überkommt mich eine Welle aus Enttäuschung. Er meinte das nicht so und doch war ich für ein paar Sekunden so dumm ihm zu glauben. Genau wie damals. Ob er sich daran erinnern kann? An unsere erste Begegnung? Ich hatte ihn gar nicht gefragt. Schnell schüttle ich wieder den Kopf. Der Typ muss aus meinem Gehirn raus. Solche Fragen sind nicht gut für mich.
Ich muss jetzt aber wirklich schlafen. Finn aus meinem Kopf raus halten.