Zusammenfassung
Ich sehe in sein Gesicht. „Geht's dir gut?" Ein genervter Blick kommt zurück. „Seh ich so aus als würde es mir gut gehen?" „Keine Ahnung. Du zeigst ja keinem wie es dir geht." Und dann lächelt er tatsächlich. „Es geht dir gut!" Freude und Triumph stecken in meiner Stimme, aber er sieht mich schon wieder genervt an. „Nein." „Willst du ne Umarmung?" Er schüttelt mit dem Kopf und starrt nach vorne. Inzwischen kenne ich ihn doch besser als er denkt. „Brauchst du eine?" Und wie ich mir bereits gedacht habe, nickt er und breitet wiederwillig seine Arme aus. - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - „Wir waren schon immer dramatisch." „DU warst schon immer dramatisch. Ich war ganz cool." „Ja, wer's glaubt. Du hast fast mehr geheult als ich, Mister." - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - Sunny trifft auf grumpy. Sie kann Gedanken lesen, er hat die größten Geheimnisse. Wie lange er wohl verheimlichen kann, dass er über beide Ohren in sie verknallt ist?
K1 "Sweater weather"
Es ist Montag. Montag der dritte Oktober. Ein Tag der in meinem ganzen Leben noch nie Bedeutung hatte. Ich kann mich nicht an einen einzigen dritten Oktober in diesen sechzehn Jahren erinnern. Wieso meine Geschichte also ausgerechnet heute an einem so banalen Montag anfängt, kann ich selbst nicht erklären, aber was soll's? Das Schicksal ist eben manchmal ziemlich unberechenbar. Dass das Schicksal personifiziert sicher eine Frau aus den Sechzigern wäre, dass taucht einfach so in meinem Kopf auf. Eine braunhaarige Dame mit noch grüneren Augen als meine eigenen. Ihr Name ist bestimmt Anis und ihre Lieblingsfarbe ist rot. Sie trägt gepunktete Kleider und Schuhe, die für meine Füße viel zu klein wären. Auch wenn man es dem Tag heute vielleicht nicht ansehen kann, ich glaube Anis ist eine hoffnungslose Romantikerin.
Wie ich darauf komme? Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung. Ich mag die Sechziger ja nicht mal. Heute scheint jedoch alles so durcheinander zu sein, dass ich eigentlich gar nicht sicher sagen kann was ich eigentlich mag und was nicht. Ich kann eigentlich gar nichts sagen und gar nichts erklären und trotzdem bin ich hier und versuche alles irgendwie aufzuschreiben. So unbeholfen und verwirrt war ich lange nicht mehr und doch habe ich das vorahnende Gefühl, dass ich in den nächsten Tagen nur noch verwirrter sein werde.
So verwirrend wie diese Stadt und so verwirrend wie mein Leben. Niemals hätte ich geglaubt etwas so spannendes zu erleben, dass es jemals wichtig genug wäre um es aufzuschreiben, geschweige denn es anderen zu berichten, aber wie schon gesagt, das Schicksal ist unberechenbar.
So stehe ich hier und philosophiere über mein Leben während ich unbeholfen wie eh und je in die nasse Pfütze Regenwasser vor meinen Füßen starre. Was ich sehe überrascht mich eigentlich nicht. Das bin ja nur ich. Mein eigenes Gesicht was mich so wie sonst auch selbstkritisch mustert. Das macht es immer. Es mustert mich als würde es nicht wissen das doch heute der dritte Oktober ist. Der Tag an welchem mein Schicksal wie eine Kurve auf einer sonst so graden Lanstraße eine Wendung nimmt.
Meine Haare hängen wieder verzottelt in mein Gesicht, dass haben offene Haare so an sich, wenn man herunter blickt. Sie scheinen heute richtig grau zu sein und dabei sind sie doch eigentlich braun. Sie haben wohl heute nicht aufgepasst und einfach vergessen, dass sie eigentlich braun sein müssen. Sowas passiert Scheins einfach. Wenn ich jetzt meinen Kopf hebe, muss ich schon sagen, dass der dritte Oktober kein besonders schöner Tag ist. Er ist hauptsächlich grau und riecht nass. Er ist kalt und rau und könnte ich mir einen anderen Tag im Oktober aussuchen, dann hätte ich den zweiten genommen.
Gestern war es nicht so windig und die Bäume waren noch schön bunt. Die Sonne strahlte warm als wäre es Sommer und die Kinder in meiner Straße malten mit bunter Kreide Hüpfekästchen auf den Gehweg. Es war ein perfekter Tag, einen der mich daran zweifeln lässt ob Anis wirklich eine hoffnungslose Romantikerin ist. Vielleicht kann auch selbst sie nicht entscheiden welcher Tag genau an der Kurve der Landstraße meines Lebens liegt.
Jetzt wo ich darüber nachdenke, hätte ich für die Metapher lieber eine andere Straße genommen. Vielleicht eine aus der New Yorker Innenstadt oder so. Eigentlich sollte mein Leben keine langweilige und sogar gerade Landstraße sein. Ach man Étoile, was kannst du eigentlich? Oder wie Lou in der letzten französisch Stunde so fälschlich sagte: Qu'est-ce que tu peux?
Das ich genau jetzt an Lou denken muss ist eigentlich ganz passend. Ich war gerade bei ihr zu Hause. Eine Freundin, die ich eigentlich nicht verdient habe. Tja, wie soll ich das beschreiben? Wie kann ich bloß jemand so schönen in so wenigen Worten beschrieben? Nein, um sie zu beschreiben hat die deutsche Sprache zu wenig Adjektive und wenn sie genug Adjektive hätte, dann wäre ich nicht gebildet genug um damit jemanden wie Lou zu beschreiben.
Lou Harris ist ein Seegen. Ein Tau Tropfen, eine Sommerbriese, eine nach Liebe duftende Rose. Sie ist ein Engel, schöner und heller als sich das Menschliche Gehirn überhaupt vorstellen kann. Eine schöne Seele von dem Staub unter ihren Schuhen bis zu dem letzten Haar auf ihrem Kopf. Ach, was sage ich da? Bis zu dem Heiligenschein der über diesem letzten Haar und ihrer so unwirklich selbstlosen Persönlichkeit schwebt.
Lou riecht nach Lavendel. So als wäre sie Stunden lang durch ein Lavendelfeld gelaufen. Als hätte sie ihre Arme breit ausgestreckt und die Augengeschlossen und wäre blind gerannt ohne über einigen einzigen Stein zu stolpern. Wie sie das gemacht hat? Naja, Lou läuft auf Wolken durchs Leben. Rosa Zuckerwatte Wolken wie man sie auf kleinen Märkten bekommt.
Habe ich schon über ihre Augen gesprochen? Wie konnte ihr bloß ihre Augen vergessen? Lou hat die schönsten Augen der Welt. Sie sind blauer als jeder Ozean, tiefer als jedes Meer und weiter als jeder Horizont. Sie sind so blau, dass selbst der Himmel in Kanada eifersüchtig wird. Sie strahlen heller als jeder Stern und sie sind unschuldiger als jedes Kind.
Und wenn ich neben ihr stehe, dann weiß ich gar nicht wo ich hinsehen soll, denn hast du mal ihre Lippen gesehen? Weich wie Rosenblätter und Rot wie frische Krischen. Schmal sind sie zwar, aber doch sind sie perfekt. Und Lous Hände sind weich. Weicher als jede Handcreme und jeder Stoff auf der ganzen Welt. Wie sie ihre Hände bewegt als würde sie damit ein leises Lied dirigieren. Sie bewegen sich so sanft, dass ich manchmal glaube sie seien nicht echt.
Ich kann bloß starren und zusehen wie sie in ihren Tüllkleidern im Leben spazieren geht als wäre es die längste Oper die es je geben wird. Zusehen wie ihre weichen Haare sich an ihre schmalen Schultern schmiegen und ihre langen, dunklen Wimpern sich wie kleine Fächer im Wind bewegen. Als wäre Lou das neuste Kunstwerk von Van Gogh.
Wir waren heute verabredet um ein paar wichtige Dinge zu planen. Heute in der Schule hat sie mir nämlich wichtige Neuigkeiten erzählt:
„Sie haben 'ja' gesagt." Lou setzt sich grinsend mir gegenüber und ich starre sie doch tatsächlich ungläubig an. Wie kann man nur solche Eltern haben? „Oh mein Gott." Schockiert lasse ich mich auf den Stuhl zurück fallen. Ich muss doch was auf den Kopf bekommen haben. Nenn Eiszapfen oder so. Es ist Sommer, Étoile. Krieg dich wieder ein.
„Sie haben sich mit deinen Eltern zum Abendessen verabredet, haben sie gesagt. In ein paar Wochen, wenn sie wieder in Deutschland sind." Ich weiß nicht ob ich mich darüber freuen soll oder lieber nicht. Ich mein, Lous Eltern haben gerade offiziell zugestimmt, dass ich die nächsten drei Schuljahre bei ihnen wohnen darf. Das hätte ich mir nicht Mal in meinem besoffenen Träumen vorstellen können. So high kann man gar nicht sein. „Du sollst natürlich mitkommen um sie kennenzulernen." Hab ich ja noch gar nicht gesagt, ich kenne Lous Eltern nicht Mal. Ich hab sie noch nie gesehen. Lou sagt immer sie seien zu beschäftigt um zu den Schulveranstaltungen zu erscheinen. „Und ich werde auch da sein. Naja, wo sollte ich sonst auch sein an einem Sonntag Abend." Beim Ballett? Sie tanzt doch Ballett oder?
„Lou?" Sie beugt sich aufmerksam zu mir vor. Gerade so, dass ihr engelsblondes Haar noch nicht den Tisch berührt. „Ja?" Gott, wieso kann ich nicht so eine weiche Stimme haben? Wieso muss ich mich immer wie ein Presslufthammer anhören? Fair ist das nicht. „Ich bin nervös." Hilfesuchend sehe ich sie an und sofort bekomme ich ein kleines Lächeln geschenkt. „Keine Sorge, du bist doch super. Meine Eltern haben doch eh schon zugesagt." Das stimmt, aber das ist auch nicht der Grund für meine Aufregung.
„Und dein Bruder?" Und da zuckt ihr Gesicht doch sehr verdächtig. Aha, der scheint also nicht so begeistert zu sein. „Wie oft werden deine Eltern denn weg sein?" Ich hätte Mal ein paar Fragen stellen sollen, bevor ich mit Lou gesprochen habe. Naja, bevor sie zu ihren Eltern gegangen ist. Das hat sie nämlich einfach hinter meinem Rücken gemacht.
„Étoile?" Verwirrt sehe ich wieder zu Lou hoch. Belustigt lächelt sie mich an. „Du warst wieder am Tagträumen oder?" Das Zeug passiert mir leider öfter. Entschuldigend nicke ich. „Kannst du nochmal wiederholen was du gesagt hast?"
Und dann beginnt sie wieder zu reden und ich erinnere mich daran, dass ich ja zuhören sollte. Naja, aber jetzt hab ich ja schon den Anfang verpasst. „Weil das nur ihr Sommerhaus ist. Es hat ein extra großes Wohnzimmer und einen großen Garten, damit sie dort die jährlichen Familientreffen machen können. Sie haben es erst vor ein paar Jahren gekauft als Noah auf die Winterfeld gegangen ist. Ihr seid also eigentlich immer alleine."
Ob das so gut ist? Wer kocht dann? Es wird bestimmt ganz schön unordentlich im Haus. Ich hab noch nie alleine gewohnt. „Du musst dir aber keine Sorgen machen. Meine Eltern rufen uns einmal in der Woche an und fragen ob alles funktioniert und Noah ist ja auch schon achtzehn." Ja, leider kenne ich Noah nur nicht. Ich soll also mit einem fremden wohnen. „Und der wird dich auch nicht stören. Er ist die meiste Zeit in seinem Zimmer und lernt." Okay. "Naja und Finn ist eh nie da. Der schläft hauptsächlich bei seinen Freunden."
Ufff, ich hatte ja ganz vergessen, dass sie zwei Brüder hat. Ich lehne mich noch besorgter als sonst schon zurück. „Und die werden mich auch sicher mögen?" Wenn sie so sind wie Lou, dann bestimmt, aber ich hab bis jetzt noch niemanden kennengelernt der so ist wie Lou und dabei kenne ich sie schon recht lange. Ich mag Lou sehr, aber ihre Familiensituation verwirrt mich immer wider. Mit ihren ganzen Häusern habe ich auch keinen Überblick mehr. Sie wohnt hier und dann ihre Brüder wo anders und ihre Eltern auch wieder an ganz vielen Orten gleichzeitig. Lou ist erst fünfzehn und auch wenn sie nie ein Wort darüber verloren hat, denke ich schon, dass ihr das ganze einiges zu schaffen macht. Sie wohnt zwar nicht alleine sondern mit einer Hausdame oder sowas, aber das ist doch nicht das selbe wie die eigene Familie.
„Étoile." Ups, verdammt. Ertappt sehe ich wieder hoch. „Du bist ja ganz verstreut. Das wird schon. Noah ist zwar recht zurückgezogen, aber er wird dich nicht ärgern." Da sie so nachdenklich guckt, frage ich mich wieso der Braten dann so faul ist. „Finn dagegen ist ein bisschen schwierig. Den würde ich einfach umgehen. Richtig gesprächig ist er eh nicht." Lou seufzt. „Er sagt nur was, wenn er muss und dann ist das meistens auch nicht das, was man erwartet hat." Schöne Beschreibung, aber Lou hat so ne Angewohnheit alles zu beschönigen, damit man sich nicht zu schlecht fühlt.
Ich hab noch nie jemanden aus ihrer Familie gesehen. „Und deine Eltern?" Miss Harris und Mister Harris. Viel weiß ich über sie nicht. Nur das sie viel zu reich und ständig unterwegs sind. „Solange du gute Noten hast, sollte das gut sein. Sie sind ein bisschen vereingenommen und legen viel Wert auf den ersten Eindruck, also wenn beim Treffen alles gut läuft, musst du dir überhaupt keine Sorgen mehr machen."
Kapiert! Guter erster Eindruck. Das bedeutet Seidenkleid und wenig Make-up. Als Getränk nur Wasser bestellen und über alles lachen, was sie lustig finden. „Aber du hilfst mir doch oder?" Lou nickt bestätigend und greift mit ihrer zarten Elfen-Hand nach meinem Arm. Ihre blauen Augen sehen tief in meine. „Du bist toll, Étoile. Du schaffst das schon."
„Danke." Sie nickt nochmal und lässt mich dann wieder los. So unschuldig wie Lou ist, so sieht sie auch aus. Aber was soll man auch erwarten, wenn sie jede Woche zwei Stunden Benimmunterricht bekommt. Okay, das heißt eigentlich „Bevorzugte Sprachen- und Verhaltenskunde" und „Ballsaalartikulation", aber wir wissen doch alle was das ist. Gehirnwäsche.
„Wo guckst du denn wieder hin?" Ich hab gar nicht bemerkt wie ich Tristan angestarrt habe. „Tristan." Der Junge war der erste dessen Gedanken ich jemals gelesen habe. Was ist gesehen habe war vielleicht nicht besonders spannend, aber seit dem kann ich irgendwie nicht aufhören ihn zu beobachten. „Was hast du nur immer mit ihm?" Oh Lou, Schätzchen. Wenn ich das nicht auch gerne wüsste. Der schlauste ist er nicht und mit seinem Aussehen kann er das auch nicht kompensieren. Tristan kann eigentlich gar nichts. Essen auch nicht wie man heute Mal wieder sieht. „Würde Madame Poirier das sehen, würde sie ihren Beruf kündigen." Wer auch immer Madame Poi-irgendwas ist, ich kann Lou nur zustimmen. Ist echt eklig wie ihm da die Spagetti aus dem Mund hängen. Da würde ich auch ganz unabhängig von allem meinen Job kündigen. „Da verliert man glatt die Lust am Leben, wenn man sieht mit wem man sich eine Cafeteria teilen muss."
Lou kichert leise. „Wären wir man lieber in die Bibliothek gegangen." Ach ja, Lou wollte ja eigentlich in der Freistunde lernen. Schon wieder. Mathe dieses Mal. Dabei schreiben wir die Klausur erst in ein paar Wochen. Bis dahin hätte ich schon wieder alles vergessen. Zum Glück konnte ich sie überreden dieses Mal lieber in die Cafeteria zu gehen. „Überreden" ist gut, Lou macht eh immer was man von ihr möchte. Ein richtiges Rückrad würde ihr Mal gut tun, glaube ich.
„Und da ist Ian." Und da seufzt sie auch schon verliebt auf. Inzwischen kann ich dieses Seufzen schon vorhersagen. Ich wünschte ich könnte es stattdessen ignorieren. „Du siehst ihn doch eh nicht mehr, wenn du jetzt nach England gehst." Lou hat jetzt schon ihr Auge auf Ian geworfen seit er ihr in der Grundschule seinen Kleber geliehen hat. Angesprochen hat sie ihn danach aber nie wieder. So fühlt es sich jedenfalls an. Wie ne einseitige Fernbeziehung.
Ich kann nicht abstreiten, dass Ian sich echt gemacht hat. Die Pupertät hat ihm gut getan. Trotzdem ist er ein Idiot und wenn er nicht gerade mit Lou in einem Raum ist, dann weiß sie das auch. „Ich kann ihn ja mitnehmen." Leise lache ich. Den Dummkopf würde ich gerne in einen Handgepäckkoffer stopfen. Das wäre ein Spaß. „Du machst wieder dieses Grinsen. Was hast du jetzt schon wieder vor?" Ich zucke bloß mit den Schultern. Nichts. Ian kann ja nichts dafür, dass er doof ist.
„Wenn er wirklich mit dir auf die Winterfeld geht, dann werde ich mich dafür hassen auf die Catherine zu gehen." Das muss ich mir jetzt schon seit Tagen anhören.
Lou muss ja auch auf eine andere Schule. Wieso sie nicht mit ihren Brüdern geht weiß ich nicht so genau. Ihre Eltern wollen lieber, dass sie in England auf eine Schule geht. „International Highschooling" hat sie das genannt. Die Engländer, die immer einfach irgendwo ein „ing" anhängen und plötzlich ist das ein Nomen. Hätte ich kein Deutsch und stattdessen English, wäre meine Rechtschreibung um einige Noten besser, aber nagut. „Soll ich ihn ansprechen gehen, damit du dich verabschieden kannst?" Schnell schüttelt sie mit dem Kopf. „Er weiß ja nicht Mal wer ich bin." Und wessen Schuld ist das nochmal?
Ich mag Lou aber manchmal muss ich sie einfach provozieren. „Hey, Ian." Laut schreie ich durch die Cafeteria und er dreht sich um. Jap, der ist mir einfach zu blond. Verwirrt kommt er zu uns gelaufen und ich sehe schon wie Lous Wangen sich rot färben. Ups. Ian kenne ich schon viel zu lange. „Lou und ich wollten uns verabschieden von dir." Ian nickt bedrückt. Immer noch ohne Lou auch nur einen Blick zu schenken. Die arme. „Ich kann nicht glauben, dass bald schon alles vorbei ist. Erst sagten sie nächstes Jahr und jetzt doch schon dieses."
Ian ist also schon emotional durcheinander. Dann sollte ich ihn wohl nicht fragen ob er glaubt in einem kleinen Gepäckkoffer zu passen. Sein keiner Kopf passt bestimmt rein. Ich lege meinen Kopf schräg und sehe ihn genauer an. Wenn ich ganz feste drauf springe, dann müsste sich der Reißverschluss bestimmt schließen lassen. „Gehst du jetzt auf die Winterfeld?" Gut, dass Lou auch Mal was sagt. Ian hat mich schon komisch angeguckt. „Ja." Bitte was? Och nö. „Oh, Étoile auch."
Naja, jetzt wohl nicht mehr, was? „Cool, aber ich muss wiederholen. Hab durch den Filmdreh zu viel verpasst." Also ist er dann eine Stufe unter mir. Also zweimal will ich nicht die neunte machen. „Was hast du als letztes gespielt?" Ian ist Jugendschauspieler wie er das so schön sagt. Sein erster Job war als Fußmodel für Sandalen und dann wurde er wohl irgendwie entdeckt. Die Story verstehe ich immer noch nicht. Sind seine Füße so vielseitig, dass die meinen der hätte Potential als Model für Nagelpilzcreme oder was? Und da konnte man dann seine Knöchel sehen und die Sockenfirmen waren alle ganz angetan von seinen Plattfüßen oder wie?
Ians Füße müssen da wohl echt was aussagen. Trotzdem bin ich froh nicht immer noch seine Füße überall im Fernsehen zu sehen. Sein Gesicht hat zwar weniger Aussagekraft, aber... Ja gut, was positives gibt es da jetzt auch nicht. „Ein Kurzfilm über Mobbing." Warst du das Opfer? Okay, dass ging jetzt ein bisschen zu weit. Besonders nachdem es eh schon um Mobbing ging. Er ist ja auch kein schlechter Kerl. „Das hört sich..." Oh Lou, voll daneben. Sie sieht mich Hilfesuchend an. Wie sonst eigentlich auch immer in jeder Situation. „interessant." Sie nickt. „Genau, das hört sich interessant an." Eijeijei. Gerade nochmal gerettet.
„Ich muss dann auch schon wieder los, aber es war schön mit euch zu reden." Gleichfalls ist da bisschen übertrieben, also nicke ich einfach nur und Lou lächelt. „Ja, Tschüss." Ian sieht sie verwirrt an und geht dann. Vielleicht hätte sie warten sollen bis er geht und ihm nicht einfach ins Gesicht sagen sollen, dass er abhauen soll.
Erschöpft setzt sie sich wider hin und streicht ihr Kleid glatt. Es ist rosa. Wie ein Erdbeer Milchshake. „Das war nicht nett." Ich schmunzel leicht und sehe sie wieder an. „Ach, Lou mit Nettigkeit habe ich es doch nicht so. Das weißt du doch." Sie nickt leicht und dreht sich dann nochmal zu ihm um. Er steht wieder bei seinen Freunden.
Eigentlich ist das hier eine Mädchenschule gewesen, aber die Westwood hat zuerst geschlossen und sie sind dann eben hier auf die Paul's gekommen. Ian auch. Und wie Lou sich damals gefreut hat. „Also Abendessen." Sie nickt. Na super ich hab jetzt schon vergessen wie ihre Brüder heißen und den Vornamen ihrer Eltern wusste ich noch nie. Das kann ja was werden.
Nach der Schule setzte sich Lou dann zu mir im Bus und wir sprachen über die neue Schule. Ich kenne sie schon so lange und doch hörte sich ihre Stimme so melodisch wie am erste Tag unserer Begegnung an. „Meine Eltern sind wirklich einverstanden." Und da ist dieses Schmunzeln. Dieses Lächeln was selbst den kältesten und herzlosesten Menschen zu einem Samariter machen könnte. Und wie mir ihr Lächeln schmeichelt und mein Gesicht auch zum Lächeln bringt, so schmeicheln mir ihre Worte noch mehr. „Bist du dir auch wirklich sicher?" Lou lacht lieblich. Wie ist diese Persönlichkeit und dieses Aussehen zusammen überhaupt fair gegenüber allen anderen Mädchen auf diesem Planeten? „Das hast du jetzt schon zum vierten Mal gefragt. Meine Antwort hat sich nicht geändert: Ich glaube schon, dass ich sie richtig verstanden habe."
Ich grinse noch breiter. Habe mein Gesicht nicht eine Sekunde von ihr abgewendet. Natürlich hast du das. Es gibt nichts was du nicht gut kannst und wenn doch, dann ist es eine Frechheit das diese Disziplin überhaupt existiert. „Sie möchten dich gerne kennenlernen." Sie wollen mich kennenlernen? Mich? Aber ich bin doch bloß Étoile? Die, die immer ein bisschen überfordert und unbeholfen durchs Leben geht und mehrmals im Monat den Bus verpasst. Die, die immer alles verliert, wenn man ihr etwas ausleiht. Das Mädchen was echt nie etwas auf die Reihe kriegt.
„Du musst mich wohl richtig schöngeredet haben?" Lou lacht wieder süß. „Aber nein, Étoile." Hast du wohl. Du bist nur zu gut um es zuzugeben.
„Hier müssen wir aussteigen." Sie läuft grazil zur Bustür und schreitet heraus als wäre sie auf dem Weg einen Prinzen zu heiraten. Oh, kein Prinz wäre je gut genug. Niemand ist es und doch verdient sie mehr Jungs als jeder andere. Sie verdient eigentlich jeden. Würde sie doch bloß auch jemanden wirklich wollen. „Wirst du nicht normalerweise von einem Wagen abgeholt?" Lou blickt zu mir und nickt dann sanft. „Ja, aber mein Schoffeur Frank hat eine kleine Enkelin und sie wird heute drei Jahre alt und ich wollte nicht das er das verpasst. Er ist wirklich ein toller Mann. Hatte gar nicht gefragt of er heute nicht zur Arbeit kommen kann." Natürlich hat sie ihm einfach frei gegeben. Natürlich. Lou ist so. So war sie schon immer.
„Hast du ihm ein Geschenk für die kleine mitgegeben?" Lou lacht leise. „Natürlich. Ich hatte eine Rose liefern lassen." Ich grinse breit, bin stolz, dass ich sie so gut kenne. Wäre ich so reich wie sie, würde ich allen Leuten jeden Tag eine Rose liefern lassen. Wahrscheinlich wäre ich dann aber auch ganz schnell wieder arm.„Bekomme ich auch eine Rose zum Geburtstag?" Sie nimmt meine Hand und ich atme tief durch. „Du bekommst auch eine."
Ich sehe hoch in den wolkigen Himmel. Wenn sich jetzt genau über Lou eine wolkenfreie Lücke aufmachen würde, wäre das wahrscheinlich nicht mal ein Wunder für mich. Nicht bei Lou. „Étoile, du warst ja noch gar nicht bei mir zuhause und ich wollte dir noch sagen, dass du dich ruhig wie zuhause fühlen kannst, auch wenn es ein bisschen überwältigend wirken kann." Das habe ich schon kommen sehen.
Ich wusste schon, dass Lous Haus sicherlich nicht besonders klein ist. Größer als meins alle Male. Wenn nicht vier mal so groß. Unsere Wohnung ist bestimmt so klein wie ihr Garten. Nein, ihr Garten ist bestimmt noch größer. „Solange es nicht das da hinten ist, werde ich schon klarkommen." Ich zeige grinsend auf die Riesen Villa am Ende der Straße. Sie ist umgeben von einer grünen Hecke, welche so lang ist, dass ich rechts und links gar kein Ende entdecken kann. Fenster so groß, dass eine Giraffe durch sie hindurch schreiten könnte. Sieht aus wie ein Aquarium für einen Blauwahl.
Lou ist ganz still geworden und ich sehe verwirrt zu ihr herüber. „Das ist dein Haus, richtig?" Ich presse peinlich berührt meine Lippen aufeinander und sie sieht mich schmunzelnd an. „Kann schon sein." Oh wow. Boden tu dich auf, bitte. „Wow." Sie hält meine Hand nur ein bisschen fester. So feste, dass es sich trotzdem anfühlt als würde ich mit einer Feder Händchen halten.
So laufen wir schon seit der sechsten Klasse herum als sie hergezogen ist und zu mir auf die Paul's ging. Sie hatte damit angefangen als ich Lisa aus der d auf die Nase geschlagen habe, weil sie Lous Tasche versteckt hatte. Lou hatte damals geweint und ich war wirklich wütend gewesen. Lisa redet immer noch nicht mit mir, aber das ist mir herzlich egal, denn seit diesem Zeitpunkt hat Lou angefangen meine Hand zu nehmen, wenn wir zusammen spazieren waren.
Wir sind schon gefährlich nah an dem Mamor Klotz, da grinst Lou in eine kleine Kamera und das große Eisentor an der mit weißem Kies belegten Einfahrt öffnet sich. „Mach das nicht die Autos ganz dreckig?" Ich zeige auf den staubigen Boden während wir durch das große Tor gehen. „Das sagt mein Vater auch immer." Tja, ich bin wohl echt männlich heute.
„Habt ihr mal überlegt euch einen Elefanten zu kaufen?" Lou sieht mich überfordert an als hätte sie einen Teil der Unterhaltung verpasst. Sie versucht immer richtig zu antworten und solche spontanen Fragen werfen sie jedes Mal aus der Bahn. „Weil euer Haus so groß ist." sage ich noch schnell. Jetzt nimmt ihr Gesicht wieder eine entspanntere Mimik an. „Nein, aber ich hätte gerne ein Seepferdchen." Ich lache leise und dabei ist es nicht mal lustig. Nein, sie ist einfach so wunderbar.
Ich weiß was ihr jetzt denkt. Ihr glaubt ich hätte den größten Crush auf dieses Mädchen und ich kann es euch auch nicht übel nehmen -ich weiß schließlich selbst wie ich mich anhöre. Manchmal wünsche ich mir sogar, dass es stimmt um ehrlich zu sein. Manchmal hoffe ich Mädchen könnten das für mich sein, was Jungs für mich sind. Leider funktioniert es nicht. Man kann sich wohl nicht aussuchen wen man attraktiv findet. Lou ist wunderbar, einfach fantastisch, nur leider nicht das, was ich zu suchen scheine. Nicht weil sie ein Mädchen ist -auch wenn das schon eine Rolle spielt- nein, einfach weil ich mich neben ihr nie entspannen kann. Sie ist so perfekt und das macht mich manchmal richtig eifersüchtig, eifersüchtig, bescheuert und irgendwie minderwertig.
Ich hab Lou mehr lieb als Eiscreme, leider liebe ich sie mehr als "eine Freundin" als als "meine Freundin". Ich bin nur nicht so feige wie andere und traue mich nicht zuzugeben, dass mir Lou schon sehr gefällt. Ich himmle sie an und versuche die Freundin zu sein, die sie verdient hat und manchmal nehme ich mir fest vor auch ein kleines bisschen mehr wie sie zu sein.
Zurück zu der Bushaltestelle an der ich jetzt schon viel zu lange stehe. Sie ist wie jede andere. Dreckig, beschmiert und zu meinem Glück überdacht. Es sind viele Wolken am Himmel und es ist diese Schwere in der Luft, als würde die nasse Kälte nur darauf warten aus ihren Ecken zu kriechen. Man kann den kommenden Schauer schon spüren.
Ach, was mache ich eigentlich hier? Lou sitzt wahrscheinlich gerade inzwischen in ihrem perfekten Kleid, an ihren perfekten Schreibtisch, in ihrem perfekten Haus und macht ihre perfekten Hausaufgaben. Und was mache ich? Ich stehe gleich im Regen.
Lou Harris und ich sind schon ziemlich unterschiedlich. Ihre Haare sind rot-blond, aber meine sind braun. Ihre Augen sind blau-grün, während meine ehr dunkles oliv sind. Ich habe diese Angewohnheit Leute zu analysieren und sie hat diese Art einfach gutgläubig zu sein. Ihre Familie ist reich, reicher als man sich vorstellen würde. Ihnen gehört eine globale Hotelkette: „Intra Hotels". Das sind diese Hotels mit den Goldenen Fliesen im Einhang und den drei Meter hohen Glastüren. Ich habe gehört, in jedem ihrer Hotels ist entweder ein Wasserfall mit tropischen Pflanzen oder ein riesiger Fischteich mit hunderten von kleinen Goldfischen. Selbst habe ich es nur übers Internet auf Bildern gesehen. Hier im Ort gibt es keins ihrer Hotels, weil sich das hier kaum einer leisten kann und hier will auch glaube ich kaum jemand Urlaub machen.
In die Intra Hotels gehen nur reiche Menschen mit mindestens fünfsilbigen Vornahmen wie Jean-Lukas-Bernard, Maximilian oder Paul-Francoise-Hugo. Der Name Étoile ist einfach nicht lang genug. Louisa-Alisa ist es schon. Das ist Lous richtiger Name. Außer ihrem Namen und ihrem riesigen Erbe weiß ich kaum etwas über sie. Wir sind zwar schon lange befreundet, aber über den Unterricht in der Schule ging unsere gemeinsame Zeit nie hinaus. Dazu ist Lou in der Schule oft beschäftigt, sie verbringt ihre Pausen in der Bibliothek und im Unterricht möchte sie sich nicht unterhalten. Ich weiß, dass sie Ballett tanzt und das als Leistungssport. Manchmal ist sie nicht in der Schule, weil ihre Tanzschule auf einem Wettkampf ist. Einmal waren sie sogar in Brasilien habe ich gehört. Was mich angeht gibt es wirklich nichts zu erzählen, wenn es um das Thema Hobbies geht. Ich bin ziemlich unmotiviert mal Sport zu machen, zu ungeschickt für ein Instrument und nicht genug an Büchern interessiert um sie in meiner Freizeit regelmäßig zu lesen. Oft fange ich sie an, gebe dann aber nach der Hälfte auf.
Das einzige was schlimmer als meine Inkonsequenz ist, ist der Wind, der gerade aufgekommen ist. Eine kleine Haarsträhne ist aus meinem Zopf gefallen. Mürrisch streiche ich sie wieder aus meinem Gesicht, hinter mein Ohr. Es wird definitiv ein Gewitter geben und ich werde es niemals rechtzeitig nach Hause schaffen. Hätte ich mal auf meine Mutter gehört und einen Schirm mitgenommen. Ich musste es ja unbedingt besser wissen.
Ich sehe endlich herunter auf mein Handy. Eigentlich gehöre ich nämlich nicht zu dein Menschen, die immer auf ihr Handy gucken, ich starre meistens in der Gegend herum und träume vor mich hin. Ich drücke auf den Knopf, aber der Display meines Handys bleibt schwarz. Akku alle. Egal, ich weiß auch so, dass mein Bus schon mehr als 10 Minuten Verspätung hat.
Anders als Lou habe ich niemanden der mich fährt. Das liegt daran, dass meine Eltern keine Hotelbesitzer sind. Mein Vater ist Bibliothekar. Er ist ein bisschen kleiner als ich und trägt immer diese bunten Wollpullover. Er hat schon dünnes graues Haar, aber meine Mutter sagt, dass er für sein Alter noch sehr gut aussieht. Zum Glück habe ich meine Haare von meiner Mutter geerbt. Die hat nämlich dickes Haar und es ist noch gar nicht so grau. Sie arbeitet im Zoo übrigens. Dort bei den Aquarien macht sie Führungen und erzählt wo welche Fische leben und wie sie heißen. Sie verbietet mir immer zum Anemonenfisch „Clownfish" zu sagen, weil sie sagt, dass es lächerlich klingt. Wenn meine Eltern Polizisten wären, wäre meine Mutter der bad cop und mein Vater der god cop.
Meine Mutter sagt immer, dass ich einen schlechten Einfluss auf andere habe. Es ist aber nicht die schlimme Art von schlechtem Einfluss. Mehr die Art von Mädchen, die anderen erklärt wie man einen Tampon benutzt. Die sich in der ersten Klasse schon die Nägel lackiert hat. Ich darf mich jetzt aber auch nicht so darstellen als wäre ich ganz unschuldig. Ich gehe schon gerne feiern und hab jetzt auch kein Einserzeugnis.
Eine Bewegung rechts von mir hat meine Aufmerksamkeit erweckt. In meinem Augenwinkel ist ein dunkler Fleck aufgetaucht. Ich sehe nach was sich dort bewegt und da bleibt mein Blick an etwas hängen. An festen Schritten. Sneakers die sich von Pfütze zu Pfütze bewegen und das Wasser in ihnen zum überschwappen bringen. Dunkle Jeans verfärbt vom Regen. Regen den ich bis jetzt nicht bemerkt hatte, weil ich zu beschäftigt war über meine Familie nachzudenken. Hatte ich schon erwähnt, dass ich etwas verträumt bin? Ich muss wohl mal wieder richtig in Gedanken gewesen sein. Frage mich wie lange schon, dass ich den jetzt so lauten und doch so schrecklich präsenten Regen nicht bemerkt habe. Dieses Mal sehe ich jedoch nicht auf mein Handy, meine Augen haben sich kein Stück bewegt, seitdem sie drüben auf der anderen Straßenseite an der Gruppe grimmiger Jungs hängen geblieben sind.
Fünf Jungs, die Kleidung vom Regen so dunkel gefärbt, dass sie schwärzer ist als jede Tinte. Drei in Lederjacke, zwei nur im Pullover und einer in Fell. Ein Hund, der dünn und knochig aussieht und trostlos neben dem größten von ihnen eine Pfote vor die andere setzt. Lange bleibt mein Blick jedoch nicht an dem Dunkelblonden hängen. Er wandert über die schwarzen Kapuzen herüber zu der einzigen Person, die nicht in der Reihe läuft. Die einzige Person ohne Kapuze, mit Haaren die wie dunkle Algen in sein Gesicht hängen. Die wie kleine Rinnsale Wassertropfen auf seine Schultern führen, wo sie hart an dem glänzenden Leder seiner Lederjacke abprallen. Der einzige, der plötzlich seinen Kopf zur Seite bewegt, seine Jacke enger um sich zieht und mich unverstohlen ansieht. Mich anstarrt als sei nichts dabei, mit einem Blick, der meine Seele offen auf die Straße zwischen uns darlegt als sei es das normalste der Welt. Eiskalte Augen, die nicht den kleinsten Funken wärme enthalten und doch ein Feuer wiederschenken, welches ich in meinem ganzen Leben noch nie gesehen habe.
Und obwohl sich mein Körper immer metallischer und unbeweglicher anfühlt, habe ich doch den unfassbaren und so unerklärlichen Drang einfach über die Straße zu rennen und all diese Fragen zu stellen, die mit einem mal im meinem Kopf auftauchen. Mein Herzschlag wird schneller und schneller als hätte ich versucht eine nach unten führende Rolltreppe herauf zu gehen. Er sieht mich einfach an, sieht nicht weg, obwohl sich seine Füße immer weiter über den Bürgersteig bewegen. Seine Augen sind wie dunkle Löcher in denen der schlimmste Schneesturm tobt und er sieht mich einfach nur an. Wie ist es möglich, dass sein bloßer Blick, das Blut in meinen Adern erfrieren lässt, meinen Atem an die Wände in meiner Lunge klebt und selbst meine rasenden Gedanken in Zeitlupe versetzt. Wie er wohl heißt? Was er hier wohl macht?
Und dann ist er plötzlich weg. Sein Blick. Er hat einfach weggesehen. Geschockt starre ich an die Stelle wo ich seine Augen das letzte Mal gesehen habe, bevor ich nur noch seinen gebeugten Rücken sehen konnte, wie er mit den Händen in der Hand langsam, aber mit unbeschreiblicher Bestimmung seinen weg ging. Plötzlich fühlt sich jeder Muskel noch kälter an als vorher. Ich will ihn wieder. Das ist alles was ich weiß. Ich will Antworten und ich weiß nicht mal wieso. Ich will ihn wieder.
Mich überkommt Verzweiflung als wäre ich nicht mehr ich selbst. Als würde mein Gehirn Spiele mit mir spielen. Gefühle verursachen die in jeder Hinsich irrational und unverständlich sind. Ich kenne ihn doch gar nicht. Anstatt den Gedanken einfach abzuschütteln setzt plötzlich eine Art Traurigkeit ein. Eine Traurigkeit die mich realisieren lässt, dass ich ihn wirklich nicht kenne. Das ich meine einzige Chance ihn kennen zu lernen einfach in den späten Sommerwind geworfen habe und er sie mit den dunklen Sneakern des mysteriösen Jungen einfach mit Leichtigkeit davon getragen hat. Ich habe meine einzige Chance ihn kennen zu lernen verspielt. Ihm sogar zugesehen wie er aus meinem Blickfeld verschwand. Wie ein Trottel bloß da gestanden und nichts gemacht, weil ich so gelähmt war. Wieso bin ich nur so unfähig richtige Entscheidungen zu treffen?
Doch wäre es wirklich die richtige Entscheidung gewesen einfach dort hin zu laufen? Milch ihnen in den Weg zu stellen? Diesen fünf Jungs und diesem gefährlich aussehenden Hund? Nein, eigentlich nicht. Eigentlich habe ich nichts falsch gemacht. Habe das getan was jeder andere Mensch in meiner Situation tuen würde -rein gar nichts. Wieso fühlt sich gar nichts tun dann wie die dümmste Entscheidung, wie der größte Fehler an? Habe ich gerade wirklich etwas, nein, sogar jemanden verpasst? Geht das? Das er vielleicht irgendeine Bedeutung hatte? Das es nicht bloß eine flüchtige Begegnung war?
Mein Kopf ist hungrig als hätte ich seit Tagen nichts gegessen. Will Antworten die ich ihm einfach nicht geben kann. Will mir schon fast ausdenken wie er heißt, wo er herkommt und wie sich vielleicht seine Stimme anhört. Fast will ich mir versprechen ihn auf jeden Fall anzusprechen, falls ich ihn je wieder sehen sollte und trotz dem Wissen wie unwahrscheinlich so ein Ereignis doch wäre, traue ich mich nicht dieses Versprechen zu machen. Ich weiß es einfach. Ich weiß, dass ich zu feige wäre, jemanden wie ihn anzusprechen. Jemand der aussieht als hätte er so viele Geschichten zu erzählen, dass niemand genug Zeit hätte sie alle zu hören. Jemand, der so perfekt zu sein scheint, dass ich angst habe mich zu täuschen.
Er sah nicht freundlich aus, das muss ich mir eingestehen. Sah so aus als würde er mich verspotten, würde ich ihn einfach aus dem Nichts ansprechen. Jetzt im Nachhinein war sein Blick vielleicht sogar abweisend. Da ist sie wieder. Die Traurigkeit von eben. Aus anderen gründen und doch fühlt sie sich ähnlich schmerzlich an. Schluckend sehe ich nach unten zu meinen durchnässten Schuhen. Er hat mich abwertend angesehen oder? Ich glaube schon. Ich habe es mir schöngeredet. Wieso auch immer.
Was habe ich mir dabei bloß gedacht? Wieso denke ich eigentlich immer noch an ihn? Jetzt kann er mir doch egal sein und sollte es auch. Alles andere wäre peinlich. Peinlich, dass bin ich dann wohl. Loslassen war nämlich noch nie meine Stärke. Wenigstens hatte ich für einen kurzen Moment seine Aufmerksamkeit. Das ist doch was. Auch wenn es ziemlich wenig ist. Ach, Étoile, wieso tust du dir das an? Wieso bist du immer so voller Hoffnung? Wieso bin ich immer so schell enttäuscht?