K6 "Drunk star"
„Da bist du ja." Noah kommt im Flur auf mich zu. Ich lächele ihn fröhlich an. „Hast du mich gesucht?" Er stubst mir kurz gegen die Schulter. „Könnte sein." Auf seinem Gesicht liegt eine ganz neue Art von Grinsen. Die habe ich bei ihm noch nie gesehen. Seine braunen Augen leuchten golden als er meine Hand nimmt und mich in sein Zimmer zieht. „Hahaha was ist denn?" Ich sehe mich in seinem Zimmer um. Es ist kaum anders als das indem ich vor Wochen bei ihm geschlafen habe. Die Wände sind in einem Cremeton gestrichen, das Bett ist aus dunklem Holz und an der Wand hängen die üblichen Pinterest Bilder. Auf seinem Bett sehe ich etwas interessantes. Es liegen verschiedene Hemden drauf. „Uuuuiiiiiiii." Ich hebe sofort ein paar hoch und gucke sie mir an. „Du gehst auf ein Date." Ich grinse fröhlich in sein Gesicht. „Vielleicht tue ich das." Daher also dieser Gesichtsausdruck. Noah ist verknallt. Ich hebe das perfekte Hemd aus dem ganzen Haufen herraus und drücke es ihm in die Hand. „Damit wirst du zum anbeißen gut aussehen." Er guckt das Hemd prüfend an, zwinkert mir zu und verschwindet duch die Tür um sich im Bad umzuziehen. Kurz sehe ich ihm hinterher. Noah hat sich das verdient. Bis heute kann ich nicht verstehen wieso er single ist. Jemanden wie ihn findet man nicht so leicht.
Ich konzentriere mich auf die ganzen Hemden, die auf dem Bett liegen, hänge sie wieder in Noahs Schrank und warte bis er wieder kommt. Das er einfach so eine Unordnung macht ist gar nicht seine Art. Als ich das erste mal bei ihm im Zimmer war, war es so aufgeräumt, ganz anders als meins. Der Typ ist ein Segen. Das Mädchen weiß besser was für ein Glück sie hat.
„Und wie sehe ich aus?" Noah steht im Flur und ich an der Tür. Er hat schon seine Haare gemacht und guckt gerade an sich herrunter. Das blaue Hemd hängt locker an ihm herunter, seine blaue Jeans lässt ihn locker wirken und sein Parfüm riecht nach Sommerabend. „Gut." Besser als gut. Ich gehe auf ihn zu und richte ihm den Kragen. Fahre noch mal mit meinen Fingern durch seine Haare und bewege eine Strähne an ihren Platz. Die kleine helle Locke ist schließlich was besonderes. „Wer es auch immer ist, sie wird es gut finden." Ich gehe noch mal um ihn herrum und nicke fachmännisch. „Ja, das hab ich wirklich gut ausgesucht." Noah kommt kurz auf mich zu und umarmt mich. Nicht zu lange, wegen meinem Problem, aber lang genug um mich darauf hinzuweisen, dass Finn mich beobachtet. „Viel Spaß. Trink nicht so viel. Rülpsen und Furzen ist nicht erlaubt. Öffne ihr die Türen. Benutz eine Servierte und immer schön lächeln, damit sie dein schönes Lächeln sieht." Noah lächelt mich übertrieben an und geht dann durch die Tür nach draußen. „Benimm dich." Rufe ich noch hinterher bevor ich die Tür schließe. Er war ja heute richtig süß und aufgeregt. So kenne ich ihn ja gar nicht. Zugern würde ich einfach heimlich hinterher gehen und gucken wer sie ist. Was wohl sein Typ ist?
„Da Noah jetzt weg ist, kannst du mir endlich sagen wieso du mich beobachtest." Ich drehe mich langsam zu Finn um und sehe ihn abwartend an. Er steht nur da und beobachtet mich schamlos weiter. Hab ich irgendwas falsch gemacht? Heute trägt er zu seiner dunklen Jeans ein schwarzes Jeans Hemd mit silberner Kette. Sie steht aus größeren Ringen, die sich der Körper einer Schlange unter den Flügeln seines Hemdkragens um seinen Hals schlängeln. „Da läuft wirklich nichts zwischen euch?" Redet er von Noah? Ich sehe ihn überrascht an. „Ich hätte nie Alex' Nummer genommen, wäre was mit Noah." Finn holt eine Packung Zigaretten aus seiner Jackentasche. Er wird doch jetzt nicht hier drinnen rauchen oder? „Klar doch." Seine Stimme ist gefüllt mit Sarkasmus. Es trieft förmlich aus seinem Mund heraus. Ich ziehe genervt meine Augenbrauen hoch. Ich kann nicht glauben, dass er denkt ich wäre so. Das ich mir Optionen offenhalten würde und mich generell an irgendwelche Jungs ranmachen möchte. Besonders an Noah. Noah der zwei Jahre älter ist als ich und den ich als Freund schon viel zu lieb gewonnen habe. „Noah und ich sind Freunde und mehr nicht. Da war auch nie was." Ich lasse ihn einfach stehen und gehe runter in die Küche. Es ist schon unfair, dass er mich so beschuldigt.
„Was ist mit mir?" Mitten auf der Treppe drehe ich mich verwundert zu ihm um. Er ist mir tatsächlich gefolgt? Und was meint er mit seiner komischen Frage? „Was sollte denn mit dir sein?" Plötzlich klingelt es an der Tür. Ohne mich nochmal zu beachten geht Finn sie aufmachen. Ich stehe immer noch abwartend da. Es ist ganz schön still. Normalerweise redet man doch mit jemandem, wenn man die Tür nach dem Klingeln öffnet. Ob Finn ein Paket erwartet hat? Bestimmt ein paar neue Designer Klamotten... als hätte er davon nicht schon genug. Ich frage mich ob er einen begehbaren Kleiderschrank hat von dem ich nichts weiß. Vielleicht zieht er jede Sache auch einfach nur einmal an und wirft sie dann weg, damit er wieder Platz in seinem Kleiderschrank hat für neues. Zu gerne würde ich mal sein Zimmer sehen. Das ganze scheint mir aber zu riskant zu sein. Er hat ziemlich deutlich gemacht, dass sein Zimmer für mich keine Relevanz haben sollte und ganz sicher werde ich ihn auch nicht nach einer Besichtigung fragen, denn dann bin ich mit ihm alleine dort und das ist bestimmt keine gute Idee. Langsam gehe ich in die Küche. Sehe nicht zur Tür obwohl ich sie vom Flur aus einsehen kann. Ich will nicht neugierig wirken.
„Das ist sie also. Die Neue." Ich drehe mich verwirrt zur Tür um. Finn läuft in die Küche und geht zum Backofen. Hinter ihm entdecke ich dann einen weiteren Jungen. Er lehnt lässig im Türrahmen. Seine Harre sind pechschwarz, aber nehmen seiner gebräunten Haut nicht die Wärme. Wie viele Freunde hat Finn eigentlich, dass ständig einer hier ist. Meinte Lou nicht, dass Finn kaum zuhause wäre? Da ich noch nicht auf seinen dummen Kommentar geantwortet habe, gucke ich schnell nach wie er heißt. „Und du bist also Jayden." Er grinst das klischeehafteste Grinsen was ich je gesehen habe und kommt dann ziemlich extrovertiert auf mich zu. Nimmt seine Hand aus der Hosentasche seiner lockeren Jeans und reicht mir doch tatsächlich seine Hand. „Nett dich kennenzulernen." Verwirrt, aber positiv überrascht schüttel ich seine Hand.
Jaydens Hände sind nicht die Weichsten, das ist schon mal sicher. Sein Händedruck ist schlampig und zu locker. Auch sein ganzes Auftreten kommt mir sehr mühelos vor. Seine Haare sind zwar gestillt, aber sein Outfit sieht ehr unbedacht aus. Er trägt einfach eine schwarze Jeans und ein graues V-neck Shirt. Natürlich hat er eine Lederjacke an, welche genauso dunkel ist wie seine Haare. Er sieht gut aus, dass stimmt, aber seine Kleidung macht ihn nicht besonders. Was mich viel mehr fasziniert sind seine so grau, aber doch auch blau erscheinenden Augen. Fast so wie Finns nur matter.
Das wir uns hier so schön begrüßen scheint Finn nicht zu gefallen. „Es reicht jetzt mit der Fake Nettigkeit. Geh lieber mal unten Pizza holen." So genervt hat sich Finn wirklich noch nie angehört. Jayden scheint das ganze aber schon gewöhnt zu sein. Sein Lächeln verschwindet so überraschend schnell wie es zu Beginn aufgetaucht war und er dreht sich wirklich um und geht. Fake Nettigkeit also? Aber wieso? Wenn er mich nicht leiden kann, wieso war er dann so freundlich? Bestimmt nicht aus Höflichkeit. Sowas kann ich mir bei Finns Freunden beim besten Willen nicht vorstellen.
„Hast du eigentlich gar keine freundlichen Freunde?" Finn dreht sich mit zwei Bierflaschen in der Hand zu mir um. „Musst du immer Fragen stellen?" Offensichtlich ja. Siehst du doch. Außerdem, wer hat mich denn eben was gefragt? Er wollte doch wissen was mit ihm ist bevor Jayden angekommen ist. Was auch immer seine komische Frage zu bedeuten hat, er hat sie gestellt. Ich sehe dann nachdenklich auf mein Handy. „Es ist erst 13Uhr und ihr seid schon am trinken?" Deine Leber bedankt sich. Finn ignoriert mich einfach, wirft mir jedoch einen warnenden Blick zu. Ich bin wohl zu frech. „Hier eure Hoheit." Jayden kommt wieder und legt die Pizzen auf dem Herd ab. Natürlich hat er mir keine mitgebracht. Gesunde Ernährung ist den beiden Scheins auch nicht wichtig. Ich beschließe auch gleich was zu essen, aber nicht jetzt wenn die beiden noch in der Küche sind. Finn ist nicht gut drauf und Noah hat Recht, seine Freunde machen wirklich was er sagt. Er sagte zu Jayden, dass er nicht freundlich zu mir sein soll und schon änderte sich dessen Verhalten. Wie das wohl ist, wenn du immer auf jemanden hören musst? Stelle ich mir echt frustrierend vor.
Wenn er Jayden alles vorschriebt, woher weiß er dann ob Jayden freiwillig hier ist oder nicht? Ob Jayden überhaupt Zeit mit ihm verbringen will. Muss es nicht ein schlechtes Gefühl sein nicht zu wissen ob jemand dich ehrlich leiden kann oder nur so tut? Ich drehe mich einfach um und verlasse die Küche. Die beiden wollen wahrscheinlich eh ihre Ruhe haben. Ist mir ganz recht so.
Ob das wohl jetzt immer so sein wird? Finn jetzt jeden Tag hier ist und einen seiner Freunde dabei hat den ich noch nie gesehen habe? Wenn das so ist, dann blicke ich bald nicht mehr durch. Liam, Jason und jetzt noch Jayden? Wie viele gibt es eigentlich? Hoffentlich nicht noch mehr. So sympathisch ist Finn doch wirklich nicht, der kann dann doch nicht noch mehr Freunde haben. Die drei sind ja schon erstaunlich. Lass mich kurz reflektieren. Jayden von gerade ist der Jayden, der das Auto gegen nen Baum gefahren hat damals oder? Und Liam ist der mit den blonden Haaren, der sitzen geblieben ist? Wie hieß der von gestern nochmal? Auch irgendwas mit J oder? Jakob? Johan? Johannes? Ich hatte es doch gerade noch! Puh, was soll's. Wenn ich Glück habe kommt jeder von ihnen nur einmal vorbei.
Finns P.O.V
„Hey Finn. Was isn? Alles gut? Du hast heute ja noch garkeine klar gemacht. Bist du krank?" Jason ist schon besoffen. „Ne hab nur gerade kein Bock." Er sieht mich zwar verwundert an, aber nachfragen wird er eh nicht. Wir sind jetzt schon seit Stunden in diesem Club. Keine Ahnung wie viel Uhr es ist. Mein Handy hatte den Akku alle und ist ausgegangen. Schätze mal irgendetwas zwischen eins und fünf Uhr. Jayden verschwindet mit der nächsten Bitch und ich sitze immer noch hier. Ich hab heute keinen Bock auf eine. Das passiert selten. Ich muss die ganze Zeit an die neue meines Bruders denken. Sollte ich nicht, weiß ich auch. Sie macht mich noch wahnsinnig. Wer möchte mich schon freiwillig kennenlernen? Kann der doch egal sein, dass ich auch da wohne.
Matt kommt an den Tisch zurück. War auch gerade weg mit einer. „Finn stehst du hier immer noch oder schon wieder? Heute ist viel da und das meiste ist heiß und hohl." Ich rühre meinen Cocktail mit dem Strohhalm um. Nach den fünften Bier, bin ich auf Cocktails umgestiegen. Später kommt noch Wodka dazu. „Denkst du schon wieder an....wie heißt sie noch mal? Sorry ich bin zu dicht um mir ihren Namen zu merken. Irgendwas französisches." Matt lallt nur so vor sich hin, was bei ihm auch nichts Neues ist. Seine Haare sind in letzter Zeit echt zu lang geworden, sie fallen ihm ständig ins Gesicht fast vor die Augen, aber er stochert trotzdem in seinem Drink rum als würde er gar nicht bemerken das man unter der Wolle nichts mehr von ihm sieht. Sie heißt Étoile." Verdammt. Ich hätte sie raus werfen sollen. „Du hast ne Blockade. Klär sie dir endlich." Ich sehe ihn nur verwirrt an. Was für ne Blockade? Er sollte aufhören zu trinken. Er ist eh schon der netteste von uns. Auch der, der am wenigsten verträgt. „Du kannst sie nicht haben und deswegen willst du sie. Es ist wie ein Spiel für dich. Du kannst nicht das nächste Spiel spielen, solange du das hier nicht gewonnen hast." Grinsend stützt er seine Ellenbogen auf den hohen Tisch ab und sieht von seinem Drink auf. „Hol sie dir. Ist mir egal wie und dann stürz dich wieder auf die wirklich heißen Bräute." Matt klopft mir noch mal auf den Rücken und geht davon.
Vielleicht hat er Recht. Ich geh jetzt nach Hause pennen und morgen oder heute...wie viel Uhr haben wir den jetzt? Heute, wenn ich geschlafen habe, denke ich darüber nach. Matt hat betrunken nicht immer die besten Ideen und sind wir mal ganz ehrlich, ich habe kein Interesse daran jemanden in meinem Haus zu haben, mit dem ich schon geschlafen habe. Das macht wahrscheinlich alles nur noch anstrengender.
Ihr ein bisschen Angst machen, damit sie mich in Ruhe lässt, hörte sich da um einiges leichter an. Dann ist nämlich alles wie immer. Blockade hin oder her, sie wird nicht wollen und ich werde sie definitiv nicht dazu zwingen. So weit bin ich noch nicht gesunken. Ich kann mich zwar nicht immer kontrollieren, aber ich bin auch noch nicht betrunken genug um einfach keine Entscheidungen mehr zu treffen. Beim letzten Mal ist einiges schiefgegangen und dieses mal wird es anders sein. Ich mache den gleichen Fehler nicht zwei mal. Das kann ich mir nicht leisten.
Étoiles P.O.V
Um drei Uhr morgens klingelt mein Wecker. Ich weiß selbst, dass das früh ist, aber ich will mir das Haus angucken. Es gibt eine zweite Etage und noch einen Gang in die andere Richtung auf der ersten Etage. Als ich mein Zimmer gesehen habe bin ich dort geblieben und Noah hat mir die anderen Zimmer nicht mehr gezeigt. Also hab ich beschlossen sie alleine an zu gucken. Wieso ich dafür bis zur Nacht gewartet habe? Naja, gestern war alles zu anstrengend und ich bin relativ früh schlafen gegangen. Wie gesagt, die erste Nacht in na neuen Umgebung schlafe ich immer schlecht. Auch heute bin ich erst um 12 Uhr wach geworden. Ich wollte dann nicht einfach in alle Räume rein gucken. Bei anderen inspiziere ich ja auch nicht direkt alles. Neugierig wie ich bin, habe ich dann die äußerst kindische Entscheidung getroffen nachts wie ein Einbrecher durchs Haus zu schleichen. Ich weiß, die Logik versteht keiner.
Ich nehme mir mein Handy und schleiche aus dem Zimmer. Alle schlafen. Ich gehe in die andere Richtung des Flures und sehe mir die Räume an. Das Haus ist riesig. Der Boden ist mit dunklem Parkett belegt. Es gibt ein Lesezimmer. Bücherregale bis unter die Decke. Ein Erker. Ich werde eine Decke auf das Holz davor legen und dann kann ich beim lesen raus gucken. Das wird schön. Ich gucke mir die Bücher an. Alle wunderschön und alt. Bisschen gruselig aber. Bücher im dunkeln angucken.
Die nächsten Räume sind langweilig bis ich in der zweiten Etage einen Fitnessraum finde. Cool. Ich fasse nichts an, weil ich nicht weiß wie laut die Dinge sind. Ein Laufband, ein Boxsack, Gewichte und anderes. Ich hab eigentlich keine sichtbaren Muskeln, weil ich dünn bin und keine Kondition habe, aber das hier könnte mich vielleicht wirklich motivieren wenigstens mal was auszuprobieren. Dann schleiche ich mich nach unten in die Küche. Wie wäre es mit einem kleinen Frühstück? Im Gefrierschrank ist Stracciatellereis. Jackpot. Ich nehme mir einen großen Löffel und fange an das süße Zeug zu essen. Ich bin recht zufrieden mit meiner bisherigen Gestaltung des Tages und was wohl das beste ist, ist jawohl, dass ich Finn nicht über den Weg laufen muss, wenn alle schlafen. Halleluja.
Ich höre leise Schritte die die Treppe nach unten kommen. Ok, Mal sehen wer es ist. Noah oder Finn? Ich hoffe, dass es nicht der Teufel selbst, sondern Noah ist. Wer auch immer es ist, die Person scheint sich große Mühe zu geben leise die Treppe herrunter zu gehen. Ich tippe auf Noah. Finn ist nicht so rücksichtsvoll und würde leise herrunter gehen um keinen zu wecken. Ich hab Recht es ist Noah. Er lächelt mich an und kommt mir. „Ich dachte erst du wärst ein Einbrecher. Dann ist mir eingefallen, dass hier ja auch jetzt noch eine dritte Person wohnt, die nicht so laut ist wie Finn." Ich hole einen zweiten Löffel aus der Schublade und halte ihn ihm hin. Er nimmt ihn dankend an und setzt sich. Seine Haare stehen verstrubbelt zu allen Seiten ab und sein PJ ist alles andere als sexy. Der besitzt wirklich einen von diesen Schlafanzügen wo das Oberteil zur Hose passt. Wie alt bist du nochmal Noah? Hab ich irgendwas verpasst? „Wie war dein Date?" Noah nimmt sich einen großen Löffel Eis aus dem schon fast leeren Becher. Bei sowas kann ich mich einfach nicht zurück halten.
„Gut. Ich war nervös, aber sie meinte, dass ich ihr schreiben soll." Verwirrt sieht er mich dann an. „Wieso bist du überhaupt wach?" Oh Mist. Lass dich nicht erwischen! „Konnte nicht schlafen. Hab ich dich geweckt?" frage ich scheinheilig. Zum Glück kauft er es mir ab. „Ne, habe noch an dem Schulprojekt gearbeitet." Immer noch? Das hätte er wohl wirklich nicht aufschieben sollen. „Bist du wenigstens bald fertig?" Noah sieht in den Eisbecher und nimmt dann unsere Löffel. Wir haben leider schon alles aufgegessen. Langsam steht er auf und geht zum Mülleimer. „Ja, noch zwei Seiten." Ich nicke kurz. Da ich jetzt eh nicht mehr schlafen kann überlege ich joggen zu gehen. Es ist noch dunkel draußen, aber das ist mir egal. Wenn ich gut laufe, wird mir schon auch ohne Sonne warm werden. „Gehst du mit joggen?" Noah zieht von der leeren Eisschachtel auf. „Nein danke. Du bist doch wahnsinnig." Er scheint wohl doch nicht so ein Sportjunkie zu sein. Solche soll es ja auch geben, habe ich gehört. Noah wirft die Schachtel weg und legt die Löffel in die Spülmaschine.
„Wieso willst du denn überhaupt laufen, so langsam wie du bist?" Also ich bin total motiviert. Hier gibt es nämlich einen Fluss und ich konnte sonst nie auf nem Feldweg am Wasser laufen. Im Sommer wird das bestimmt besonders schön. „Genau deswegen. Damit ich schneller werde und nicht gleich kotzen muss, wenn ich bisschen gerannt bin." Noah lacht müde. „Du solltest schlafen gehen und die zwei Seiten später schreiben. Ich geh mich umziehen." Ich laufe an Noah vorbei, der inzwischen wieder am Tisch sitzt -Naja, mehr schon fast drauf liegt- und wuschle durch seine eh schon abstehenden Haare bevor ich guter Dinge nach oben verschwinde.
Schnell suche ich mir passende Kleidung raus, bevor ich es mir noch anders überlege. Ich ziehe mir eine schwarze Leggings zum Schnüren an den Unterschenkeln an, ein Top und einen dicken Pullover -damit es angenehm warm ist- und meine Laufschuhe. Handy und Kopfhörer kommen auch mit. Ob Noah meinen Rat befolgt und wieder schlafen gehen wird? Dann muss ich noch einen Schlüssel mitnehmen. Ich sage kurz bescheid, dass ich gehe und mache mich dann auf den Weg. Noah bleibt wach hat er gesagt.
Ab zum Fluss. Heute laufe ich aber nicht so viel. Ich will nur Mal ein bisschen entspannen und mich irgendwo hinsetzen. Ich würde gerne Joggen gehen, wenn es nicht so anstrengend wäre. Es hilft mir nach zu denken und runter zu kommen. Einfach laufen, ohne Ziel, ohne Zeitlimit, ohne Aufgaben, ohne Stress, ohne Probleme. Für eine kurze Zeit einfach ohne ungelöste Fragen und ohne ungelöste Rätsel sein. Mit einer kurzen Zeit meine ich auch irgendwie die 10 Meter, weil danach kann ich nur noch gehen. Ich laufe auf der Stelle und alles läuft an mir vorbei, ohne mich zu beeinflussen und am Fluss sitze ich auch gerne.
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„Alles läuft an dir vorbei? Hahahah, ja, weil du so langsam bist."
„Ich muss nicht schnell laufen können um dir in den Arsch zu treten."
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Die Füße ins Wasser halten und den kleinen Wellen zusehen. Nur die Geräusche des Wassers und die Schreie der Vögel zusammen mit meinen regelmäßigen Atemzügen. Auch wenn ich nicht gerne Campen gehe, glaube ich schon irgendwo eine tiefe Verbindung zur Natur zu haben. Besonders zu den Sternen da oben am Himmel. Ich setze mich auf einen Stein und sehe der Sonne beim Aufgehen zu. Sie spiegelt sich auf dem Wasser und taucht alles in orange-Rotes Licht. Der Himmel wirkt rosa und jede Wolke ist wie Zuckerwatte.
Ich weiß, ich wollte eigentlich joggen gehen, aber manchmal passiert das halt. Das ich sage ich würde laufen gehen, aber nach den ersten 15 Minuten irgendwo sitze und vor mich hin träume. Das hab ich eben so an mir, außerdem ist frische Luft ja auch gesund. Manchmal wäre ich auch gerne so frei wie das Wasser. Es geht einfach immer wohin es will und reist dabei durchs ganze Land bis über die ganze Welt. Ich schließe meine Augen und konzentriere mich auf das knirschen der Steine unter meinen Schuhen. Kieselsteine. Muscheln gibt es hier leider nicht, aber das ist okay. Jemand setzt sich neben mich. Langsam muss ich also meine Augen wieder öffnen und dabei war es gerade so schön. Ich drehe meinen Kopf zur Seite und erblicke Finn.
Finn? Er sieht mich jedoch nicht an. „Was machst du noch hier?" Er klingt angespannt. Eigentlich so wie sonst auch. Langsam knackt er mit seinem Knöcheln. Ein Finger nach dem anderen. „Ich warte auf die Sonne." Sage ich bloß. Hinten in der Ferne kann man sie schon erahnen, aber hier ist es noch dunkel. Das ist das schöne bei großen, weiten Feldern. Man kann ganz weit gucken und es ist dunkel genug den Nachthimmel richtig zu sehen. Er guckt zum Himmel. „Im Dunkeln ist es nicht sicher für dich." Ich sehe wieder zu ihm. Tiefe Augenringe ziehen sich über sein Gesicht. Er hat eine kleine Wunde an der Lippe. Was ist passiert? Ist er betrunken? Er hört sich betrunken an. Er macht mir immer noch Angst. Besonders, weil er nicht zu zögern scheint bevor er jemanden verletzt. Alles scheint ihm egal zu sein.
„Du bist doch hier." Endlich sieht er mich an. Erstaunt. Nur für kurze Zeit scheint er nachzudenken. Ich stelle ihm eine Frage. „Wieso hast du keine Angst. So alleine im Dunkeln?" Er nimmt einen Stein und wirft ihn in den Fluss. „Wenn man das gefährlichste ist, was im Dunkeln lauert, dann gibt es nichts zu fürchten." Er spricht also selbst auch so von sich. Wahrscheinlich hat er sogar Recht. Dieser Teil der Stadt, ist der bekanntlich sicherste, hat Noah gesagt. Menschen wie Finn sind eigentlich nicht hier. Finn sieht mich einfach nur an. Er sagt Mal wieder nichts. Schweigen kann er wirklich gut. Seine Augenbrauen schweben tief wie dunkle Gewitterwolken über seinen Augen, seine dunkle Jacke schmiegt wie ein dunkler Schatten an seinen Rücken und für ein Paar Sekunden sieht es so aus als würde Finn alle Probleme der Welt auf seinen Schultern tragen.
Nachdenklich wende ich meinen Blick ab und gucke zum Himmel. „Man kann die Sterne noch sehen." Finn holt kurz sein Handy heraus, schreibt etwas und steckt es wieder ein. Der Himmel ist hauptsächlich bewölkt, aber ein leichter Wind scheint die Wolken über uns in Zeitlupe auseinander zu ziehen. Ich lächle leicht und schließe meine Augen wieder. „Du bist aber auch echt immer glücklich, was?" Er hört sich abwertend und verbittert an. Ob er wohl auch irgendwann mal glücklich ist?
„Étoile heißt Stern auf Französisch. Ein Stern ist zwar eine Sonne. Sie strahlt so hell, doch von weitem unter so vielen, sieht die aus, wie jeder andere Stern. Alle meine Sorgen scheinen im Vergleich zum Universum so klein zu sein. Deswegen bin ich glücklich." Ich öffne kurz meine Augen und da hinten überm Fluss kann ich schon die ersten Sonnenstrahlen erkennen. Ich sehe Finn an und merke, dass er mich beobachtet hat. „Ich glaube manchmal lassen wir das Leben zu besonders erscheinen und wiegen alles was wir tun in sinnvoll und nicht sinnvoll oder in gut und schlecht ab, dabei ist das Leben viel zu kurz und unscheinbar um alles immer zu bewerten. Es interessiert doch kaum einen was du tust und an vieles kann man sich nach ein paar Jahren eh nicht mehr erinnern. Man sollte nicht alles immer so ernst nehmen. Traurigkeit ist wie ein Sturm. Von Zeit zu Zeit tritt einer auf, aber am Ende ist es immer wieder Windstill."
Der Wind weht durch meine Haare. Ich mache meinen ruinierten Zopf auf und gucke zusammen mit Finn nach oben. „Alle sagen immer, wenn es dunkel ist, geht die Sonne irgendwann schon wieder auf und dass man nicht hoffnungslos sein soll, weil bessere Zeiten kommen werden, aber an sowas glaube ich nicht." Finn sieht mich kurz an. „An was glaubst du dann?" Ich lächle leicht. „Wieso auf die Sonne warten, wenn es im Dunklen Sterne gibt?" Ob er das versteht? Ob er es überhaupt versucht zu verstehen? „Die warten auf die eine Sonne obwohl dir der Sternenhimmel hunderte auf einmal zeigt. Wenn es hell ist, schätzen wir die kleinen Lichter nicht." Finn lacht abschätzend auf. „Du hast selbst gesagt, dass da auf die Sonne wartest." Ich nicke ernst. „Der Polarstern mag vielleicht der hellste sein, aber unsere Sonne scheint für uns jeden Tag. Nur weil man ihm Dunkeln ist, muss man keine negativen Gefühle gegenüber dem Licht entwickeln." Und damit spiele ich auf seine blöde Frage an, ob ich immer glücklich sei. Niemand ist immer glücklich.
Wir sitzen eine Weile nur so da, bis ich auf mein Handy sehe und merke, dass schon recht spät geworden ist. Bald wird die Sonne aufgehen. „Wir sollten nach Hause gehen." Ich sehe zu ihm, aber er starrt weiter auf den Fluss hinaus. „Geh doch." Ich seufze angestrengt und stehe dann auf. Dann bleib halt hier. Naja, vielleicht tut ihm das ja ganz gut mal ein bisschen hier draußen alleine zu sein. Vielleicht hat er auch ein bisschen Last, die mal von seinen Schultern fallen muss.
Was noch viel gruseliger ist als Finn, ist der Weg nach Hause. Niemand ist mehr draußen. Es ist still und dunkel. Ich kann meine schnellen Schritte und meine angestrengte Atmung hören. Leider irgendwann nicht nur das. Ich höre irgendwelche besoffene Leute, die leider genau in meine Richtung kommen. Ich könnte jetzt einen Bogen um sie machen und wo anders lang laufen, aber dann würde ich mich wahrscheinlich verlaufen. „Merkst jetzt auch, dass du nicht draußen sein solltest, was?" Ich kann nicht glauben, dass ich tatsächlich erleichtert bin Finn zu sehen. Das sowas je passieren würde, konnte ich mir absolut nicht vorstellen.
„Mach keine Witze darüber. Es ist nicht schön als Mädchen immer draußen Angst haben zu müssen. Wir fürchten uns schließlich nicht, weil manche von uns emotionaler oder vorsichtiger sind, sondern weil es für uns gefährlicher ist." Finn sieht mich ernst an. „Hast du so Angst, dass dir was passiert?" Ich sehe jetzt auch etwas müde zum Boden. Kann er das wirklich nicht verstehen? „Als ich das erste Mal im Dunkeln mit dir alleine war hast du mich bedrängt, erinnerst du dich nicht?" Ich sehe ihn nachdenklich an. Ob er es damals nur aus Neugierde getan hat? Deswegen nicht versteht wie ernst es für mich war?
Wir gehen über die Straße. Das rote Licht der Ampel taucht meinen weißen Pullover in ein leichtes rosa. Finn sieht stumm zu mir herüber. Ich traue mich nicht ihn anzusehen, aber ich spüre seinen Blick. Erst als er herunter sieht, beginne ich ihn zu mustern. Er kommt mir ruhiger vor. Wahrscheinlich bilde ich mir das nur ein. Das hat er so an sich. Er verwirrt einen und nie weiß man was er ernst meint und was nicht.
Dann blickt er auf meine Hand und ich stecke sie erschrocken in meine Jackentasche. Was denkt er sich wohl? Er hebt überrascht seinen Blick, aber ich sehe schnell wieder weg. Es ist mir unangenehm, dass ich ihn angestarrt habe und es ist mir peinlich wie nervös er mich macht. „Du hast Angst." Seine Stimme ist tief und rau. Die Nachtluft muss das wohl verursachen. Vielleicht raucht er auch. Ich kann nicht Mal abstreiten was er da sagt. Er macht mir manchmal Angst. „Du wolltest meine Hand nehmen." Er sieht mich überrascht an und unsere Blicke treffen sich. Er hat wohl nicht gedacht, dass ich das bemerkt habe. Es hört sich zwar an wie eine Feststellung, aber ich habe nur geraten. Er ist viel zu schwer zu durchschauen. Finn lässt von meinen Augen ab und legt seinen Blick wieder auf die Dinge vor uns. Er schüttelt mit dem Kopf und zieht seine Augenbrauen unzufrieden zusammen. „Niemals." Er sagt das so kalt. Seine Stimme hat sich noch nie so wärmeverlassen angehört. So als wäre ich es nicht wert. Voller Hass und Abscheu.
Ich verstehe ihn nicht. Ich weiß nur, dass ich gerade egal wo lieber sein würde als hier. Ich vergrößere die Lücke zwischen uns. Er hat meine Gefühle verletzt. Es ist nicht besonders schwer das zu tun und doch, bin ich verwundert, dass es bei ihm funktioniert hat. Eigentlich ist mir seine Meinung egal. Finn sieht herunter zum Boden. Ich laufe stumm neben ihm her. „Bist du immer so?" Ich flüster fast nur noch. Er hat mich eingeschüchtert. Er kann so lieb sein. Ich glaube daran. Ich bin mir nur nicht sicher ob es echt ist, oder ob er nur so tut. Gerade am Fluss war er so ruhig. Er hat mich ja sogar Dinge gefragt. Fast so als wäre er wirklich an meiner Antwort interessiert gewesen. Vielleicht ist er auch einfach nur gefaked freundlich um mit mir zu spielen. „Wie?" Seine Stimme ist etwas sanfter geworden. Fast schon normal. Ob Finn wohl jemals leise spricht? Er wirkt so unzerstörbar. So laut. Stark auch.
„Kalt." Ihm scheint nicht zu gefallen was ich gesagt habe. Sein Pokerface wird zu einer Festung. Eben sah er wenigstens entspannt aus. Jetzt erkennt man nichts mehr. Er hat sich komplett eingemauert. „Ja." Ich glaube er lügt. Seine Antwort kam viel zu schnell. Ich traue mich aber nicht etwas zu sagen. Er wird mir am Ende nur weh tun um zu beweisen, dass er mich hasst. Ich bin zu neugierig. „Wieso?" Er bleibt stehen. Sieht mich wütend an. „Du überschreitest hier gerade eine Linie, Étoile. Wenn du nicht willst das dir was passiert, dann hältst du jetzt besser deinen Mund." Er spricht ruhig, aber seine Augen schreien mich förmlich wütend an. Mit mir spricht er nicht so laut wie mit Lou, aber er spricht laut. Lauter als ich es erwartet hatte. Erschrocken zucke ich zusammen und weiche zurück. Ich sehe zum Boden. „Entschuldigung." Finn atmet tief ein und geht dann einfach weiter. Kurz frage ich mich, wieso er mir nicht weh getan hat. Dann folge ich ihm stumm. Ich finde niemals alleine zurück. Er ist einen anderen Weg gegangen als ich auf dem Hinweg und ich bin ihm dummerweise gefolgt. Laufe schräg hinter ihm, weil ich mich mehr nicht traue.
Jetzt ist es wieder still zwischen uns. Finn ist unruhig. Er hat meine Entschuldigung nicht angenommen. Das spüre ich. Soll ich mich normal entschuldigen? Er hat gesagt, ich soll nicht reden. Es scheint mir jedoch angemessen zusein. „Tut mir leid. Das ganze geht mich wirklich nichts an." Er antwortet nicht und nickt auch nicht. Kurz frage ich mich ob er es überhaupt gehört hat. Ich bin müde und ich wünschte Noah wäre hier. Der würde mich jetzt in den Arm nehmen. Das hat so lange niemand gemacht. Ich fühle mich einsam. Mein Blick fällt zur Seite. Ob Finn sich einsam fühlt? Er kann andere offensichtlich nicht leiden. Stößt er immer alle von sich? Ist das nicht anstrengend? Hat er deswegen auf meine Hand gesehen? Weil er insgeheim nicht alleine sein möchte? Wahrscheinlich nicht.
Ich tue trotzdem etwas, was ich von mir selbst nie erwarten würde. „Ich hab Angst im Dunkeln. Kann ich deine Hand?" Er sieht mich an. Wieder erkenne ich nichts. Keine einzige Information. Keine Reaktion. Er sieht wieder nach vorne und ich glaube schon das er mich ignoriert. Mich für lächerlich hält. Plötzlich steckt er jedoch seinen Arm aus und hält mir seine Hand hin. Ich starre sie ungläubig an. Es hat wirklich funktioniert. Wieso? „Wenn du Angst hast, wird sie durch meine Hand sicher nicht weniger." Trotzdem nehme ich sie. Ganz egal was er sagt.
Seine Hand ist warm. Er ist warm. Unglaublich. Wir verhaken unsere Finger nicht miteinander. Er hat meine Hand nur locker in seiner. Es macht wir wirklich Angst, aber es ist irgendwo auch beruhigend. Wie ich schon sagte, manchmal ist er lieb. Man weiß nur nicht ob es echt ist. „Du hast Angst." Er klingt verbittert. Auch wütend. „Ich bin trotzdem hier." Er sieht mich an und ich lächle leicht stolz. „Und ohne deine Hand hätte ich mehr Angst." Und auch wenn ich ihm Dunkeln nicht wirklich Angst habe, ist es die Wahrheit. Er war angsteinflößender als er vor mir ging. Seine Hände waren in seinen Jackentaschen vergraben und ich hätte schwören können, dass er sie zu Fäusten geballt hatte. Jetzt wo ich seine Hand halte und er meine gar nicht zerdrückt, wie ich es erwartet hatte, habe ich einen ganz anderen Blick auf ihn. Er geht neben mir als würde er mich beschützen und nicht als ließe er mich in der nächsten Sekunde einfach alleine oder schlüge mir ins Gesicht. Er scheint sich auch wieder etwas beruhigt zu haben. Hat mich einfach angesehen und nichts zu meinem Grinsen gesagt. Fast schon so als wäre es okay.
Langsam sehe ich wieder zum Horizont und bleibe stehen. Finn läuft weiter bis meine Hand in stoppt. Er seufzt genervt auf. War ziemlich zügig gegangen. „Guck mal, die Sonne geht auf." Der Himmel hat sich in ein warmes Apricot gefärbt. Wie bei einem Aquarellbild vermischen sich die Goldtöne hinter den flauschigen schmalen Wolken als würde ein Tor im Himmel geöffnet. Ich lächle glücklich. „Unglaublich." Finn sieht mich skeptisch an und da ich seinen Blick auf mir spüren kann, gucke ich in sein unbeeindrucktes Gesicht. „Mann Finn, du siehst Wunder auch selbst dann nicht, wenn sie direkt vor deiner Nase sind." Bevor er mich davon abhalten kann, drücke ich sein Kinn mit meiner freien Hand nach oben zum Himmel. Er will mich wütend ansehen, bleibt dann aber mit seinem Blick am Himmel hängen. Es ist als würden seine Augen endlich mal was schönes sehen. „Das untere ich Zitronengelb so wie Flip-Flops, das innere der Banane oder Limonade, das dadrüber ist Sandfarben wie der Strand, wenn man im Urlaub ist. Zwar trocken, aber ganz fein und warm. Dann kommt Lachs und Apricot, das ist das was so orange aussieht. So wie Pfirsiche, Lipbalm oder Textmarker. Wenn du ganz genau hinsiehst, dann ist da noch magenta wie bei Orchideen und rot wie der Saft von einer Wassermelone. Fast so als könnte man den Himmel schmecken." Ich drücke seine Hand und flüstere leise. „Wenn du weiter hoch guckst, dann ist da Mint wie Zahnpasta, Aqua wie die Fliesen im Schwimmbad, Türkis wie die Steine aus denen man Schmuck machen kann und der Star des ganzen: Eisblau, genau wie die Farbe deiner Augen." Finn schluckt trocken, nimmt seinen Blick jedoch nicht vom Himmel.
„Woher weißt du das alles?" Ich sehe weiter fasziniert nach oben. Versuche mir jedes Stück zu merken. „Ich hab nicht viele Talente oder Interessen. Ich kann nicht gut rechnen, habe keine gute Rechtschreibung, bin weder sportlich noch gelenkig. Kann nicht mal simple Dinge wie diesen Himmel fotografieren. Was ich aber kann ist malen. Ich male was ich fühle, rieche, schmecke. Während andere Musik hören, sich mit Freunden treffen oder ins Fitnessstudio gehen, sitze ich für Stunden, manchmal die ganze Nacht lang an meinem Schreibtisch und male. Kann jede dieser Farben vor mir sehen, wenn ich die Augen schließe." Finn dreht sich ein Stück um einen anderen Teil des Himmels anzusehen. Es ist als würden seine Pupillen sich weiten um jede Farbe wie Schmetterlinge mit einem Netz aufzufangen. Man sollte mal mit Finn in eine Kunstausstellung gehen, da würde er mal was magisches sehen.
„Du trägst deine Nasenspitze immer hoch, Finn, aber nicht hoch genug, denn deine Augen gucken als hätten sie anstatt dem Himmel immer nur den Boden angeguckt." Er sieht mich an und antwortet ernst: „Nicht den Boden. Den Horizont." Dann nimmt er mich und zieht mich einfach weiter. Ich halte seine Hand einfach weiter fest obwohl es gar nicht mehr dunkel ist. Kommt mir irgendwie richtig vor. Und während er mich so zieht, so hektisch als sei er ein Vampir und müsste vor der Sonne fliehen, da frage ich mich was seine Worte zu bedeuten haben. Ich, die immer nur verträumt hoch zum Himmel starrt und er, der den Horizont nie aus den Augen zu lassen scheint. Vielleicht gehen wir deswegen so schnell. Als würde irgendwo hinter dem Horizont Finns eigentliches Ziel liegen und ich habe bloß keine Ahnung.