Fass mich nicht an, Arschloch
Seit ihrer Kindheit war Keira ein Opfer von Mobbing gewesen. In der dritten Klasse hatten die Jungs angefangen sie bei jeder Gelegenheit zu schikanieren. Mal zogen sie ihr an den Haaren, überschütteten sie mit Saft oder spielten ihr andere, gemeine Streiche. Jedoch war das nicht immer so gewesen. Am Anfang der dritten Klasse wechselte ein Junge auf ihre Grundschule, welcher ihr ganzes Leben veränderte. Jackson Powell. Ein überdurchschnittlich großer und dementsprechend starker Junge, der schon nach zwei Wochen der Chef des Pausenhofs war. Er terroririsierte jeden, doch bei Keira war es immer am schlimmsten gewesen. Sie war als Kind eher dünn und sicher nicht die hübscheste doch damals gab es Kinder die weitaus schlimmer aussahen. Warum also Keira? So genau fand sie es nie heraus. Sie schaffte es erst ihm zu entfliehen, als sie in die neunte Klasse ging, da sie gegen Ende der Achten die Schule wechselte. Sein Mobbing wurde irgendwann so schlimm, dass sie mit blauen Flecken nach Hause kam und ihre Noten darunter litten. Die Lehrer machten natürlich nie etwas gegen ihn, da sein Vater ein reicher und mächtiger Mann war. Gott wie sehr Keira ihn und seinen Vater gehasst hatte.
Nun stand sie also da, den Zettel mit dem Namen ihres Mobbers in der einen Hand und ein Messer in der anderen. Die Gefühle, die sie empfand, konnte sie nicht beschreiben. Einerseits hatte sie furchtbare Angst davor, dass sie jemanden töten sollte und sie vielleicht verhaftet werden würde. Doch auf der anderen Seite, erinnerte sie sich auch an all die Tage an denen sie sich gewünscht hatte, sie könnte Jackson einfach verschwinden lassen. Vermutlich hatte jedes Opfer von jahrelangem Mobbing sich schon mal gewünscht, dass sie ihren Peiniger auch Schmerzen zufügen könnten. Egal wie, Hauptsache leiden.
Überfordert mit all diesen Gedanken, sah sie Thiago an. "Du willst... dass ich Jackson Powell töte?" fragte sie mit heiserer Stimme. Es fühlte sich an, als wäre ihr Hals komplett ausgetrocknet und so klang sie vermutlich auch. Ihre dünnen Finger schlossen sich fester um das Messer, als würde es sie irgendwie retten. Als würde das Messer ihr die Möglichkeit geben zu verhandeln, mit dem einzigen Mann, den sie mehr hasste als Jackson.
"Ja das will ich. Allerdings wirst du ihn nicht alleine töten. Nun ja... nicht völlig. Da es dein erstes Mal ist, helfe ich dir ein bisschen. Ich vermute der gute Mann ist seit der... was war es? achten? neunten? Klasse noch ein ganzes Stück gewachsen." erklärte Thiago seelenruhig. Als würde er ihr gerade eine einfache Matheaufgabe erklären. War dieser Typ ein Psychopath? Wie konnte es jemanden so völlig kalt lassen, dass er gerade über einen Mord sprach. Einen Mord an einem lebendigen Menschen.
Keira wollte auf diese Aussage reagieren. Irgendwas erwidern, egal ob weinen, schreien, schlagen oder lachen. Hauptsache irgendeine Reaktion. Aber es kam nichts. Gar nichts. Wo war diese Wut die in ihr brannte? Wo war der Wille zu kämpfen und sich zu wehren? Sie fühlte sich wieder wie in der fünften Klassen, wo sie zusehen musste, wie die fiesen Mobber ihren Spint zerstören und sie nichts tun konnte. Das Gefühl der Ohnmächtigkeit holte sie wieder ein, obwohl sie so lange versucht hatte es zu vergessen.
Plötzlich spürte sie etwas in sich. Es war ganz schwach, wie eine kleine Flamme, die nur sanft vor sich hin flackerte aber sie war da. Keira konnte spüren, dass sie noch nicht aufgegeben hatte. Ja, er zwang sie dazu unmenschliche Dinge zu tun, doch das bedeutete nicht, dass Keira das alles schweigend hinnahm. In der neunten Klasse hatte sie den Entschluss gefasst, dass sie nie wieder zusehen würde, sondern sich wehren würde, egal gegen wen oder was.
Die braunhaarige Frau straffte die Schultern etwas und hob ihr Kinn an. Noch immer war ihr Gesicht emotionslos, doch ihr Blick hatte sich verändert. Sie hatte neuen Mut gefasst und das schien auch Thiago zu bemerken, denn sie konnte erkennen, wie einer seiner Mundwinkel etwas zuckte. Sein Blick veränderte sich ebenfalls. Der Engländer schaute sie nicht mehr arrogant an, sondern eher interessiert. Als hätte es sein Interesse geweckt, dass sie sich entschlossen hatte weiter zu kämpfen.
"Na dann, los geht's" meinte er und verschränkte die Arme bevor er in Richtung der Tür nickte. "Zieh dir was an, was dreckig werden kann, in fünf Minuten fahren wir" erklärte er seinen Plan. Moment. Wir? Meinte er damit, dass die beiden zusammen fahren würden? Keira hatte eine böse Vorahnung. Er wollte sie doch nicht etwa mitnehmen auf dem... Motorrad? Nie im Leben würde sie sich mit ihm als Fahrer auf ein Motorrad setzten.
"Wir fahren?" fragte sie und zog ihre volle Augenbraue hoch. Dabei kamen ihre neugierigen, grünen Augen zum Vorschein. Oft hatte Sebastian ihr gesagt, dass ihre Augen immer so wunderschön leuchteten, wenn sie lächelte. Leider hatte sie in den letzten Tagen keinen Grund zum Lächeln gehabt.
Thiago nickte. "So weit ich mich erinnere, hat das kleine Fräulein kein Auto und ich hab wirklich nicht den ganzen Tag zeit" erklärte er ihr mit so einer Arroganz, dass sie ihm am liebsten eine geknallt hätte. Alles an ihm sagte "Ich bin so viel besser als du und du kannst nichts dagegen tun". Gott, wie sehr sie das doch nervte.
"Niemals steig ich auf dein beschissenes Motorrad du Dreckssack!" Wollte sie ihm entgegenschreien, doch sie wusste, dass sie den Kopf unten halten musste. Sie konnte ihn nicht besiegen. Wenn er wollte, könnte er sie zusammenschlagen, sie foltern oder noch schlimmer, er könnte Sebastian weh tun. Also musste sie einfach tun was er sagte und auf eine Gelegenheit warten, dass er verletzlich wurde. Hauptsache er ließ Sebastian in Frieden. Natürlich wusste sie nicht, dass er genau die gleiche Taktik auch bei ihrem Bruder anwandte.
Keira nickte und ging in Richtung des Schlafzimmers, wo sie ihre Klamotten aufbewahrte. Es war noch immer ein einziges Chaos, doch das war ihr total egal. Was machte das schon aus, wenn sie gleich... noch immer konnte sie es nicht richtig verarbeiten. Natürlich war ihr klar, was passieren würde, doch aus irgendeinem Grund realisierte sie es nicht. Vielleicht war ja das der Grund, warum sie noch funktionierte und noch nicht zusammengebrochen war.
Sie griff sich ihre schwarze High-waist Jeans und dazu ein schwarzes Shirt, welches sie über das Top zog. Was trug man für einen Mord? Etwas, worin man sich gut bewegen konnte? Etwas, was dreckig werden konnte? Wollte sie auf diese Fragen überhaupt eine Antwort haben? Spielte es noch eine Rolle, was sie anhatte? All diese Fragen brachten Keiras Kopf förmlich zum explodieren, weshalb sie sich einfach schnell das Messer schnappte, welches sie auf dem Nachttisch abgelegt hatte und das Schlafzimmer verließ.
Als die junge Frau zurück in die Küche kam, war diese leer. "Verfickter Mistkerl" fluchte sie und spürte sofort, wie gut es tat diese Worte laut auszusprechen. Jedes mal, wenn die beiden in einem Raum waren, hatte sie das Bedürfnis ihm jede Beleidigung, die sie kannte, entgegen zu schreien.
Keira vermutete, dass er vermutlich unten auf sie wartete, also ging sie zurück in den Flur, wo all ihre Jacken aufgehängt waren. Sie nahm sich eine schwarze Lederjacke, welche an einem der Haken ihrer Garderobe hing und streifte sie über ihre sportlichen Schultern. Seit der neunten Klasse machte sie viel Sport, was sie größtenteils Jackson zu verdanken hatte. Der Person, die sie heute töten sollte.
Mit einem mehr als nur mulmigen Gefühl im Bauch griff sie nach ihren Schlüsseln und steckte sie ein. Das Messer drückte sie an ihre Seite, bevor sie die Lederjacke verschloss, welche eng genug saß, damit das kalte Messer an ihrem warmen Körper blieb. Sie wollte nun wirklich nicht, dass ihre freundlichen Nachbarn sie mit einem Messer im Hausflur sahen.
Ohne viel Zeit zu verlieren, verließ sie ihre Wohnung und steig die Treppen hinab, welche zur Haustür führten. Sie umfasste den Metallgriff, doch sie konnte sich nicht dazu überwinden runterzudrücken. Es ging nicht. Irgendwas in ihrem Körper verkrampfte sich schlagartig bei dem Gedanken, dass sobald sie durch diese Tür gehen würde, ein Alptraum für sie beginnen würde. Sie würde nie wieder zurück können. Nie wieder ein normales Leben führen.
Noch immer spürte sie das kalte Metall an ihrer Handfläche, welches sich durch ihre Körperwärme langsam erwärmte. Ihr Herz schlug immer schneller und sie spürte, wie sie begann zu schwitzen. Keira wollte das nicht tun. Sie wollte das alles nicht, doch das war ihm scheinbar total egal. Es war ihm egal, dass er ihr Leben zerstörte und dabei lachte er auch noch.
Durch die erneute Wut, die durch diese Gedanken ausgelöst wurden, schaffte sie es letzten Endes doch die Klinke runterzudrücken und das kleine Haus zu verlassen. Ihr Herz klopfte noch immer vor Nervosität und sie war sich sicher, dass sie auf dem Weg zu Jackson eine Herzattacke bekommen würde, doch gerade konzentrierte sie sich nur auf Thiago. Dieser stand, wie vor ein paar Tagen auch, auf der anderen Straßenseite und lehnte dabei lässig an seinem Motorrad. //Arroganter Schnösel// kam ihr sofort in den Sinn. Schon immer hatte sie arrogante Menschen gehasst. Irgendwas an dieser Denkweise, dass man anderen überlegen war, störte sie einfach.
Als besagter Engländer sie erblickte, nickte er ihr zu, was wohl so viel hieß wie "komm her". Keira, welche ihn durchdringend ansah, gehorchte und trat an den Straßenrand. In New York war immer viel los auf den Straßen, weshalb sie eine Weile warten musste bis sie die Straße überqueren konnte. Diese Zeit nutze sie um im Kopf durchzugehen, wie sie sich am besten verhalten sollte. Sie spielte alle möglichen Szenarien im Kopf durch und kam zu dem Entschluss, dass sie das keineswegs Thiago überlassen würde. Wenn er sie zu sowas zwang, dann nur unter ihren Bedingungen.
Nun war sie bei Thiago angekommen. Er hatte tatsächlich vor sie auf dem Motorrad mitzunehmen. Es war schwarz und auch wenn sie nicht viel Ahnung von Motorrädern hatte, vermutete sie, dass es eher ein Sportmotorrad war. Die Seiten waren in einem dunklen, matten Grau und der Sitz hatte schwarzes Leder. Sie musste zugeben, dass es verdammt cool aussah.
Passend zu seinem Motorrad trug Thiago schwarze Jeans und eine schwarze Lederjacke. Sein ebenfalls matt grauer Helm war unter seinen muskulösen Arm geklemmt. Generell umspielte sein Outfit seine breiten Schultern perfekt. Man könnte fast meinen, dass die beiden im Partnerlook unterwegs waren. Bei dem Gedanken daran lief es ihr kalt den Rücken runter. Niemals. Nie könnte sie auch nur an so etwas denken, ohne würgen zu müssen.
"Zieh den Helm auf" meinte er und seine Stimme klang noch immer so befehlend, wie in der Küche. Dieses mal beugte er sich jedoch etwas runter, wobei ihm die schwarzen Haare in sein markantes Gesicht fielen. Seine dunkelbraunen Augen bohrten sich förmlich in ihre und sie musste sich überwinden seinem Blick standzuhalten, was dafür sorgte, dass sie angespannt die Zähne knirschen ließ.
"Wir wollen ja nicht, dass dein hübsches Gesicht einen Kratzer kriegt" provozierte er und plötzlich spürte Keira seine kalten Finger an ihrer Wange. Erneut berührte er sie und erneut löste es ein unangenehmes brennen auf ihrer Haut aus. Wie das Gefühl, wenn ein Käfer über deine Haut läuft, du ihn aber nicht wegmachen kannst. Es war ein ekliges Gefühl, welches eine Kettenreaktion bei ihr auslöste. Ohne nachzudenken, schlug sie seine Hand einfach weg und trat einen Schritt zurück, ohne jedoch den Augenkontakt zu brechen.
Überrascht aber auch amüsierte sah Thiago sie an. "Fass mich nicht an, Arschloch" spuckte sie ihm förmlich entgegen und drehte sich dann zum Motorrad, auf dem ein Helm lag. Im Gegensatz zu Thiagos Helm war dieser jedoch in einem schlichten schwarz gehalten. Sie griff nach dem Helm und setzte ihn auf ihren Kopf. Sofort spüre sie einen leichten Druck an ihrem Kopf, als sie den Helm über ihr Gesicht zog, doch dieser verschwand schnell wieder. Er passte wirklich perfekt.
Thiago schien noch immer unbeeindruckt und setzte sich ohne weitere Kommentare auf das Motorrad. Er löste den Ständer und zog dann seinen Helm ebenfalls an. Er startete das Motorrad und drehte sich dann nach hinten, um Keira zu signalisieren, dass sie aufsteigen sollte. Diese gehorchte, auch wenn sie ein ungutes Gefühl hatte und nahm Hinter Thiago Platz. Ohne es zu wollen, musste sie ihre Brust und ihren Bauch gegen seinen Rücken pressen. Dabei entstand erneut ein unangenehmes, wenn auch weniger starkes Brennen. Ihre Hände legte sie auf seinen Seiten ab, da ihr klar war, sie musste sich festhalten, jedoch weigerte sie sich ihn zu umarmen.
Thiago schien zufrieden, denn er ließ den Motor aufheulen und fuhr dann mit einem Ruck los, in Richtung des Mannes, den die beiden heute zusammen töten würden.