Ein tiefes Loch
Nun saß Keira schon seit einer viertel Stunde auf diesem Motorrad und noch immer hatte sie das Gefühl sie müsste sich gleich übergeben. Ihre Hände, welche mittlerweile etwas mehr auf Thiagos Bauch gewandert waren, zitterten und ihre Gedanken rasten fast so schnell wie das schwarze Motorrad. Sie hatte nie Angst gehabt vor schnellen Fahrten, doch gerade fühlte sich jeder km/h mehr, an wie ein weiteres Todesurteil. Sie war schon seit tagen ein emotionales Wrack, doch heute würde sie zusammenbrechen, das wusste sie ganz sicher. Sie würde das nicht schaffen. Niemals.
Plötzlich wurde Thiago langsamer und bog in eine ruhigere Straße von New York ein. Es war eine fast schon ländliche Gegend, mit vielen Bäumen und Rasen an den Straßenrändern. Es fuhr kaum ein Auto vorbei und die Häuser sahen alle typisch amerikanisch aus. Vermutlich waren sie in einer Art Vorstadtgegend von New York.
Nach einigen Hundertmetern wurde Thiago schließlich immer langsamer und hielt vor einem großen Haus an. War es das? Das Haus des Mannes der ihr Leben zur Hölle gemacht hatte und nun sterben würde? Die ganze Fahrt über hatte Keira sich gefragt wie sie sich fühlen würde, wenn sie zum ersten mal wieder in dieses Gesicht blicken würde. Wäre sie noch immer so wütend wie vor 3 Jahren?
Bevor ihr diese Frage jedoch beantwortet werden konnte, klopfte der Engländer ihr plötzlich auf den Oberschenkel. Das schallende Geräusch sorgte dafür, dass Keiras Aufmerksamkeit sofort auf ihm lag. Was wollte er denn jetzt von ihr? War das irgend so ein Macho Ding, mit dem er zeigen wollte, dass er am längeren Hebel saß?
Den Gedanke verwarf sie einige Sekunden später jedoch wieder, denn Thiago brummte ein "Absteigen" und drehte dann den Zündschlüssel rum, so dass das Geräusch des Motors abrupt erlosch. Daraufhin drehte er sich zu ihr, was dazu führte, dass sich ihre Augen trafen. Seine dunklen Augen ließen keinerlei Emotionen zu, was Keira einen kalten Schauer über den Rücken jagte. Erneut wurde ihr bewusst, wie gefährlich dieser Mann war.
Sie tat also, was er sagte und stieg, wenn auch nicht sonderlich elegant, von dem Motorrad ab. Ohne ihn auch nur eines weiteren Blickes zu würdigen, drehte sie sich um und öffnete mit einem Klick, den Verschluss ihres Helms. Diesen zog sie sich dann über ihren Kopf, wobei ihre braunen Haare etwas durcheinander kamen. Die Amerikanerin achtete nicht darauf was Thiago tat, doch es hörte sich so an, als ob er ebenfalls abstieg und das Motorrad auf dem Ständer festmachte.
Sie betrachtete das Haus etwas genauer. Es war groß und sehr typisch amerikanisch. Die Fassade war in einem hellen Gelbton, mit einigen weißen Holzverzierungen. Die Veranda war mit einigen Dingen, wie einer Couch, Pflanzen und schönen Lichtern dekoriert, welche es sehr gemütlich wirken ließen.
Viel mehr Zeit hatte sie nicht, um dieses Haus zu betrachten, denn Thiago griff nach ihrem Arm und packte dabei mehr als unsanft zu, was dazu führte, dass Keira scharf die Luft einzog. "Du tust mir weh" presste die junge Frau zwischen ihren Zähnen hervor, als der Mann sie in Richtung des Hauses zog. Keira sprach leise, weshalb er es vermutlich nicht hörte, denn sein Griff lockerte sich kein bisschen. Vielleicht war es ihm auch einfach egal.
Wie viel Aufsehen wollte dieser Typ eigentlich noch erregen? Die Nachbarn fragten sich sicher wer die beiden waren und was sie hier taten und wenn dann noch ein Mord passieren würde in diesem Haus... sie würden garantiert sofort identifiziert werden.
Um dieses Szenario zu verhindern, zog sie ihren Arm, an dem Thiago sie gerade die kleine Treppe hochzog, zurück und brachte ihn somit ins Stocken. Der Ruck war nicht kräftig und wenn er gewollt hätte, dann wäre es problemlos möglich für ihn sie bis ins Haus zu schleppen. Aber er tat es nicht. Stattdessen drehte er sich zu ihr um und sah zu ihr hinunter. Seine wachsamen Augen schienen auf eine Erklärung ihrerseits zu warten.
Keira hatte nicht wirklich überlegt, bevor sie das getan hatte, weshalb sie nun zögerte. Wie sollte sie ihm das jetzt am besten sagen, ohne das er wütend wurde, weil sie sein Geschick in Frage stellte. Ihr Atem stockte und ihre Lippen öffneten sich, doch schlossen sich kurz darauf wieder. Ihre Kehle war trocken und ihre Hände schwitzig. Sie hatte das Gefühl, dass nun die ganze Aufmerksamkeit, ob von Thiago oder den Nachbarn, auf ihr lag.
Ihr Gegenüber schien keine Geduld mehr zu haben, denn er schnaubte verächtlich und drehte sich dann wieder rum, wobei er seinen muskulösen Rücken zeigte. "Wir erregen zu viel Aufmerksamkeit!" platzte es aus ihr heraus. Sie hatte Panik gekriegt, weil er ihr nicht mehr zuhörte, also hatte sie einfach gesprochen. Ja, es war typisch für Keira, dass sie sprach und handelte ohne nachzudenken, doch meistens kam dabei etwas halbwegs gutes bei raus.
Der Engländer schien nun doch hellhörig geworden zu sein, denn er drehte sich zu ihr um. Eine seiner dunklen Augenbrauen hob sich und er starrte auf sie herab, als wäre er ein gefährliches Raubtier und sie bloß ein dummer Hase. Dann sprach er. Nein. Er kommandierte. "Nein." war seine simple aber dennoch kraftvolle Aussage, welche Keira erneut ins stottern brachte.
"Nein?" fragte sie und ihr Blick schweifte kurz zu den anderen Häusern, die die beiden umgaben. Sie musste Mut fassen und Zeit schinden. "Die Nachbarn... sie sehen einen Fremden Mann, komplett in Schwarz auf einem Motorrad, der ein Mädchen dabei hat, was er in ein Haus zerrt, in dem später ein Mord passiert. Meiner Meinung nach ist das ziemlich verdächtig" erklärte sie ihren Gedankengang und versuchte dabei so selbstbewusst wie möglich zu wirken. Sie hatte keine Angst vor ihm und das sollte er verstehen.
Thiago war allerdings alles andere als beeindruckt. Stattdessen zuckten seine Mundwinkel und formten sich zu einem gemeinen Grinsen. Seine dunkeln Haare fielen ihm ins Gesicht, als er sich zu ihr runter beugte und ihr erklärte, was es mit diesem Haus auf sich hatte. "Gut mitgedacht kleines, allerdings ist das nicht das Haus von Jackson. Er wohnt drei Straßen weiter und ich würde auch nicht auf die dumme Idee kommen jemanden tagsüber umzubringen" erläuterte er ihr mit seiner dunklen Stimme. Warte. Das war nicht Jacksons Haus? Aber wem gehörte es dann?
Zeit, um darüber nachzudenken blieb ihr nicht, denn Thiago zog sie plötzlich am Handgelenk zu sich hoch und dann spürte sie auch schon einen harten Holzbalken in ihrem Rücken. Dieser war, genau wie auf der anderen Seite der Treppe auch, weiß bemalt und ragte bis zum Dach. Es bohrte sich hart in ihren Rücken, als er sie dagegen drückte. Was sollte das denn jetzt?
Keira sah zu ihm hoch. Ihr Körper war angespannt und sie versuchte verzweifelt sich von dem Holzbalken wegzudrücken. Ihre Gesichter waren nur Zentimeter voneinander entfernt und seine starken Arme hielten sie an Ort und Stelle. Sie konnte nicht weg. Es war unmöglich.
"Prinzessin, wenn du es noch einmal wagst, mich anzuzweifeln..." seine Augen verdunkelten sich und seine Stimme wurde bedrohlicher. Seine Hand hob sich, die andere war noch immer an ihrem Handgelenk platziert und er begann seine Finger über ihren Arm streifen zu lassen. Durch den dünnen Stoff konnte Keira jede seiner Berührungen genau spüren, was in ihr Ekel auslöste. Puren Ekel. Sie hasste es, wie er sie anfasste und ihr diese Kosenamen gab, als wäre sie eine seiner Eroberungen.
Jedoch war das nicht genug. Seine Hand war an ihrem Hals angekommen. An der Stelle, an der sie am verwundbarsten war. Eine Gänsehaut breitete sich auf ihrem Körper aus, als er seine Drohung weiterführte. "..dann sorge ich dafür, dass du es bitter bereuen wirst" flüsterte er ihr zu, während sich seine Hand um ihren Hals schloss. Leicht drückte er zu, was dafür sorgte, dass Keira schlechter Luft bekam. Es fühlte sich an, als könnte sie nicht richtig Luft holen. Als würde ihr langsam die Luft ausgehen aber nicht genug, damit sie das Bewusstsein verlieren würde.
"Verstanden?" fragte er, da die Pause ihm scheinbar zu lang war. Er wollte eine Antwort und die würde er auch kriegen. Statt eines gesprochenen Satzes, bekam er allerdings eine eher schmerzhafte Antwort, denn mit einem Mal riss sie ihr Knie hoch und spürte sofort, welche Stelle es traf. Die Hand an ihrem Handgelenk wurde plötzlich noch fester und sie war sich sicher, dass sie morgen einen blauen Fleck davon haben würde.
Die Hand um ihren Hals verkrampfte sich ebenfalls, während der Ausdruck in seinen Augen beängstigend, fast schon wild wurde. Seine Pupillen weiteten sich und er schien die Zähne zusammenzubeißen, denn an seinen Wangen konnte man die angespannten Muskeln sehen. Hatte sie es zu weit getrieben? War das ein Fehler gewesen?
Die Hand, welche ihr nun völlig die Luft abdrückte, bestätigte das. Sie konnte nun überhaupt nicht mehr atmen auch wenn sie es verzweifelt versuchte. Ihr Brustkorb hob und senkte sich immer schneller, während die Panik in ihr aufstieg. Ihr Herz klopfte schneller und langsam spürte sie, dass sie keine Luft mehr bekam. Ihre Lungen versuchten bei jedem erstickten Atemzug, irgendwie Luft aufzunehmen, doch es ging nicht. Es kam nichts. Sie hatte Angst. Richtige Angst. Todesangst.
Thiagos Blick veränderte sich auch dann nicht, als aus Keiras zugeschnürter Kehle ein flehendes Wimmern kam. Ihr Überlebensinstinkt setzte ein und sie begann erneut zu treten und um sich zu schlagen, doch es half nichts. Er war einfach zu stark. Problemlos drückte er sie so fest gegen den Holzbalken, dass sie keine Chance hatte. Sie konnte seiner rasenden Wut nicht entgehen. Genauso, wie sie der Dunkelheit, die sie übermannte nicht entkommen konnte. Anfangs waren es nur kleine, schwarze Punkte in ihrem Sichtfeld, doch diese wurden steig größer, bis ihre Sicht ganz verschwamm. Ihre Finger kribbelten, was sich ausbreitete in ihrem ganzen Körper ausbreitete, bis sie in ein tiefes, scheinbar endloses Loch fiel. Tief. Ganz tief.
Was passierte, nachdem sie ohnmächtig geworden war, wusste sie nicht. Allerdings einige Minuten oder Stunden, so genau wusste sie es nicht, später, kam sie langsam wieder zu Bewusstsein. Sofort spürte sie das weiche Sofa unter sich, auf das sie scheinbar gelegt worden war. Ihr Schädel brummte und ihre Kehle schmerzte. Sie konnte sich kaum daran erinnern was passiert war, doch ein Bild hatte sich in ihr Hirn eingebrannt. Thiagos wilde Augen. Die pure Wut und der Kontrollverlust, der ihn scheinbar komplett übermannt hatte.
Bevor sie weiter an diese gruselige Erfahrung denken konnte, hörte sie Schritte, die ihr signalisierten, dass gerade jemand den Raum betreten hatte. Die Schritte waren schwer und sofort war ihr klar, dass sie vermutlich zu Thiago gehörten, weshalb sie sich dazu zwang die Augen zu öffnen. Es klappte nicht sofort und als sie ihre Augen endlich offen hatte, musste sie einige Male blinzeln, da das Licht viel zu grell für sie war, doch dann erkannte sie langsam die Umrisse eines Wohnzimmers. Es war eher minimalistisch und kalt eingerichtet und hatte keinerlei persönlichen Charme. Wo war sie?
Die Frage wurde ihr beantwortet, als Thiago in ihr Sichtfeld trat. Er schaute sie prüfend an und schien heraus finden zu wollen, ob sie wieder voll bei Bewusstsein war. Das war Keira, denn für einige Sekunden konnte sie die aufblitzende Sorge in seinen dunklen Augen sehen. Die verblasste allerdings, als er begann zu sprechen. "Willkommen in meinem Versteck Prinzessin".