Kapitel4
12. März, 16:30 Perm
Im Spiegel blickte ich an mir herab. Das dunkelgrüne Kleid, welches mir bis zu den Knöcheln ging, hatte fast denselben Ton wie Vasilys Augen. Kerzengerade stand er hinter mir.
Die schwarzen Juwelen auf meinem Hals und meinen Ohren glitzerten in dem Licht der sich setzenden Sonne. An meinen Fingern funkelte ein Ring auf dem ein 5 Karat Diamant prangte.
Meine dunkelbraunen Augen wurden von einem scharfen Lidstrich betont. Die Lippen stachen in einem matten Rot heraus. Der Wert der schwarzen Pelzjacke, welche bis zu meiner Hüfte reichte, betrug alleine über eine Viertelmillion. Die Prada Stiefeletten ließen mich zehn Zentimeter höher wirken als ich es wirklich war. In meiner Hand hielt ich die Originalverpackung, der für Lena gekauften Ohrringe. Selbst diese passte zu meinem Erscheinungsbild. Silberne Lettern standen auf schwarzem Hintergrund und verrieten den Namen des luxuriösen Geschäfts.
Als ich mich mit Schwung auf meinen Absätzen umdrehte und meine braunen Haare um mich fliegen ließ, verbreitete mein Parfüm einen exzentrischen Geruch. Nach allem, was mich personifizierte-nach teurem Champagner, kalten Nächten und Unnahbarkeit.
Vasily stand da in seiner formalen Uniform. An seinem Gürtel, seine Makarov. Die Kalaschnikov stand neben ihm an die Wand gelehnt. Durch das offene Fenster sah ich die Spiegelung des Sonnenuntergangs in der Glasscheibe eines Wolkenkratzers. Ich riss meinen Blick wieder los und wandte mich meinem General zu. Sein Gesicht war emotionslos. Wie das eines Soldaten in Formation. Aber seine Augen schienen mir das alles, was er mir niemals sagen würde, zu verraten. Sie hatten alles gesehen, was es von Brutalität auf dieser Welt zu sehen gab, trotzdem leuchteten sie immer noch.
«Du bist wunderschön, Leandra.»
Ich hielt inne, als ich diese Worte, die ich niemals von ihm erwartet hätte, hörte.
«Es ist für mich eine Ehre dich beschützen und dir dienen zu können.»
Gänsehaut bildete sich auf meinem Rücken. Ein letztes Mal drehte ich mich zu dem Spiegel um. Vor einem Jahr hatte meine Mutter ein Mädchen gesehen, eine junge Frau mit unerreichbaren Träumen in den Augen und Leidenschaft im Herzen. Heute würde eine Oligarchin vor ihr stehen. Eine Frau bekleidet in den teuersten Brillianten des Landes und mit Macht in einem Ausmaß, wie sie es sich nicht vorstellen konnte.
«Vasily?»
Ich kam nun wieder auf ihn zu.
«Ja, Leandra?»
Er umgriff meine Taille und drückte mich gegen seinen eigenen Körper.
«Versprichst du mir, dass wenn es massivst schief geht, du dann das machst, was wir besprochen haben?»
Wir hatten zuvor geklärt, was geschehen würde, falls meine Familie, aus welchem Grund auch immer, ein richtiges Drama aus meinem Auftreten machen würden.
Vasily würde dann mithilfe von Andrey und seiner Garde, die in einem separaten Auto kommen würde, das Haus für eine vermeintliche Durchsuchung stürmen würden. In dem Chaos könnte ich dann verschwinden.
«Natürlich, Leandra. Es ist mein verdammter Job, zu tun, was du mir befehlst.»
Er fasste mich nun an meinem Ellbogen und zog mich mit sanfter Bestimmtheit auf den Gang hinaus.
Ein weiteres Mal fuhren wir den Strahlen der sich setzenden Sonne entgegen. Je näher wir meinem zu Hause kamen, desto mehr Gefühle überwältigten mich. Diese Straßen kannte ich seit meiner frühesten Kindheit. Ich hatte nicht nur auf ihnen gespielt, gelacht und Spaß gehabt, ich hatte auch geweint, gelästert, verzweifelt und über meine Zukunft nachgedacht.
Tausende Variationen hatte ich in meinem Kopf gehabt. Von einem Auszug nach Moskau hatte ich geträumt. Von einem Studium, wo ich mit Oleg eine Basis für unsere Zukunft legen würse, auch. Von Geborgenheit, Familie und Liebe, aber niemals von dem hier. Niemals hatte ich gedacht, ich würde diesen Weg auf einem schwarzen Mercedes entlangfahren und schon gar nicht, dass in meinem Gürtel eine Makarov stecken würde.
Wir bogen nun in die Einfahrt unseres Mehrfamilienhauses ein. Von der Veranda hingen leuchtende Girlanden und auf den Bäumen waren Leuchtketten platziert. Zwar war es noch zu kalt, um draußen zu feiern, aber trozdem standen auch dort einige Tische mit Getränken, als wäre es eine Art Empfang. Neben diesen stand ein junger Mann mit blonden zerzausten Haaren in einem karierten Hemd und ausgebleichten Jeans.
In seiner Hand hielt er ein Blatt und ein Kugelschreiber mit dem er rumspielte. Dieser musste wohl Lenas Freund sein, der die Aufgabe bekommen hatte, die Gästeliste abzuhaken.
«Wie komm ich an dem vorbei, ohne, dass er jemanden holt, weil wir nicht auf der Liste stehen?»
Vasily analysierte ihn mit einem kritischen Blick.
«Wir steigen einfach gemeinsam hinaus und während du hineingehst erzähle ich ihm, was gleich passiert, wenn er nur einen Laut von sich gibt.»
«Wegen einer einzigen Überraschung so eine Aufruhr?»
Er grinste mich frech an: «Wenn deine Familie inklusive fremden Gästen gleich herausstürmt, gefährdet es im weitesten Sinne deine Sicherheit. Mein Aufgabe ist, diese zu bewahren und ich werde dafür auch alles tun.»
«Das ist weit hergeholt.»
«Schon mein Schwur vergessen?»
Abgelenkt schüttelte ich meinen Kopf.
Diese Nacht der Angelobung würde niemals mein Gedächtnis verlassen. Moskau. Lichter. Abendlicher Verkehr. Und schon wieder war auch Wien da. In allen Details, ausgeschmückt und wie am Teller präsentiert. Die beiden Szenarien verschmolzen in meinem Kopf. Donau. Vasily am Steuer. Maybach. Nein, da war etwas falsch. Vasily. Pressekonferenz. Schwur. Wachen. So war es richtig. Ohne den Wogen der Donau in meinem Gedächtnis.
«Leandra?»
«Ja?»
«An was denkst du?»
«An deinen Schwur.»
Es war nur zur Hälfte gelogen.
Zumindest erschien nun wieder ein Lächeln auf seinem Gesicht.
Wir parkten neben dem Kia SUV meiner Eltern in einer der letzten Ecken des Platzes. Währenddessen blieb Andrey um die Ecke stehen. Und zwar so, dass er alles durch die Büsche sehen konnte, aber eindeutig nicht gesehen wurde. Zumindest, wenn man nicht wusste, dass dort ein zweiter schwarzer Mercedes stehen sollte.
Vasily ließ den Motor unseres Wagens geräuschvoll auslaufen.
Sofort richtete der junge Mann seinen Blick auf uns und sah etwas gestresst in die Richtung unseres Autos und dann wieder zu dem Haus.
«Bereit?»
«Zu 99 Prozent.»
«Das reicht, der eine Prozent kommt im Kampf von selbst.»
«Ich bin kein Soldat im Krieg. Solche Schlüsse treffen nicht auf mich zu.»
«Die größte Schlacht im Leben ist die gegen sich selbst.»
«Aristoteles wird ja glatt neidisch auf dich», warf ich ironisch ein, während wir gleichzeitig die Türen aufmachten.
«War er schon vorher.»
Lukas Hände begannen auffällig am Klembrett zu zittern. Viellicht, weil er den Preis meines Pelzes erraten konnte. Mögicherwiese, aber weil Vadily sein Maschinengewehr nun in der Hand hatte.
«Seid ihr auch zu Lenas Party da?»
«Jap, wir haben eine Überraschung für sie», versuchte ich möglichst freundlich zu klingen.
«Das ist super, darf ich nach euren Namen fragen?»
Er wies auf die Liste mit den Gästen.
«Ich fürchte wir werden dort nicht zu finden sein.»
«Wieso? Falls ihr nicht eingeladen seid, darf ich euch nicht hineinlassen, sorry.»
«Naja, wie gesagt, wir sind eher Überraschungsgäste», Lügen war hier wohl fehl am Platz, «ich bin ihre Schwester.»
Sofort beäugte er mich respektvoll. War ja klar, dass er nicht aus dem düsteren Wald kam und genug über mich gehört hatte. Auch, wenn er mich nicht sofort erkennen konnte.
«Dann hole ich ganz schnell Ihre Mutter, Miss Vorobjowa. Lena kriegt somit ihre Überraschung und ich keinen Ärger.»
Verdammt, das war genau das, was ich zu verhindern versucht hatte!Zuerst wollte ich Lena das Geschenk geben, damit ich im Notfall gleich abhauen konnte. Würde ich mich zuerst mit meiner Mutter streiten, würde sie gar nichts bekommen.
«Bitte nicht, es hat schon seinen Sinn so», flehte ich ihn ein wenig übertrieben an.
«Es tut mir Leid, ich darf nicht. Ansonsten werde ich Probleme haben.»
«Dann werden wir zu anderen Methoden greifen müssen.»
Ich schielte zu Vasily hinüber.
Konnte der Junge nicht einfach nachgeben?
«Dann schreie ich.»
Schon versuchte er wegzurennen. Doch bevor er die erste Stufe bewältigen konnte, hatte Vasily ihn am Ärmel gepackt.
«Freundchen, du bleibst jetzt da stehen und tust genau das, was ich dir sage!»
Bevor er noch ein Geräusch von sich geben konnte, hatte Vasily den jungen Mann erfasst. Mit einen Handgriff drückte er seinen Handschuh gegen dessen Mund. Mit Schreien würde jetzt wohl nicht viel gehen.
«Ich habe ihn unter Kontrolle, Leandra.»
Was zum Teufel machten wir hier gerade? Wegen meinem persönlichen Problem ein Kind in Gewahrsam nehmen?
Zweifelnd blickte ich meinen General an. Das konnte doch so nicht richtig sein!
Trotzdem gab mir ein zuversichtliches Kopfzeichen. Anscheinend blieb er bei seiner These mit der Sicherheit.
Langsam bestieg ich die steinernen Treppen.
In der Mitte des ersten Stocks lag ein Gang, der zu zwei verschiedenen Wohnungen führte. Beiden besaßen jeweils zwei Stöcke und einen Dachboden sowie Keller.
Nein, meine Familie war nicht arm, aber nun mal keine Oligarchen. Als Architekt verdiente mein Vater genug für eine Doppelhaushälfte und einen Kia SUV, nicht für unzählige Mercedes, Helikopter, Jets, Pelzmäntel. Seine Tochter schon und damit würde er sich abfinden müssen.
Wie ich sah, hatten auch unsere Nachbarn ihre Tür offen. Ein Teil der Party fand wohl in deren Wohnzimmer statt. Jedoch schien die Mehrheit sich in unserer zu befinden. Mal wieder typisch, schließlich hatten meiner Eltern mit mindestens dopplet so viel Mühe alles eingerichtet.
Also betrat ich unsere Wohnung und versuchte dabei möglichst unauffällig zu wirken. Ansonsten musste Lukas dort umsonst leiden. Es standen überall Grüppchen von Leuten, die sich unterhielten, an ihren Getränken nippten und sich leicht im Takt der Musik bewegten. Der neueste Russischrap ballerte aus den Lautsprechern des Radios, was die Gäste besonders zu freuen schien.
Schließlich hatten unsere Rapper ein sehr begrenztes Vokabular - auf jeden Fall, wenn es um etwas über Schimpfwörter hinaus ging.
Scheinbar waren nicht nur die Freunde unserer Familie eingeladen worden, sondern auch fast die ganze Klasse meiner Schwester, sowie alle möglichen Parallelklassen und auch die halbe Nachbarschaft.
Eine Blondine in einem engen, bauchfreien Top mit einem tiefen Ausschnitt leerte mir fast ihr Champagnerglass über die Jacke. Nur ein Satz zur Seite rettete das teure Pelz. Ein unfassbares Glück für sie. Ihre Gesprächspartner warfen mir einen arroganten Blick zu und wandten sich dann wieder von mir ab. Diese Leute schauten wohl keine Nachrichten.
Auf der Suche nach meiner Schwester ließ ich meinen Blick durch die beängstigende Menge schweifen. Wann war ich zum letzten Mal alleine in einer wilden Ansammlung gewesen? Vor mehr als einem Jahr, da hatte ich mich noch wohlgefühlt. Jetzt war das Einzige, was mir zwischen vielen Leute, billigen Getränken und schlechter Musik, Sicherheit bot, meine Makarov.
Und dann nahm ich plötzlich Lena war, die sich gerade in die ansonsten leere Küche begab. Ihr folgend, stieß ich einige Gäste zur Seite und wurde nicht nur einmal mit Schimpfwörtern bespuckt. Aber ich quittierte sie nur mit einem Lächeln.
Wenn diese Leute dachten, sie würden dadurch etwas bewirken, dann hatten sie noch nie eine Ölkonferenz miterlebt. Wie es dort zuging, besonders, wenn man miteinrechnete, dass fast jeder Waffen besaß, war eine andere Kategorie.
Lena blieb vor dem Wasserhahn stehen und verdünnte ein Glas mit eine grell gelbe Flüssigkeit, welche wie eine Art Sirup aussah, mit Wasser. Währenddessen stand ich wartend im Türrahmen und beobachtete sie. In ihrem blauen, warmen Kleid und dem hellbraunen Haar wirkte sie, wie eine Kopie unserer Mutter.
Als sie sich langsam zum Umdrehen begann und ihr Blick mich traf, lächelte ich sie breit an. Sie würde nicht wissen, dass es mehr als gespielt war.
»Alles Gute zum Geburtstag, Lenachka!»
«Lea!»
Sie stellte ihr Getränk mit einem ungläubigen Blick ab und stürzte sich mit diesen Worten auf mich. So sehr presste sie mich in eine Umarmung, dass ich nahezu zu ersticken drohte. Dabei hoffte ich sehr stark, dass sie meine Pistole in der Jackentasche nicht spüren konnte. Nach einigen Sekunden ließ mich wieder los und starrte mich weiter fasziniert an.
«Du bist echt hübsch geworden», versuchte ich ein Gespräch anzufangen.
«Du aber auch! Ich meine, ich hätte dich auf der Straße nicht erkannt!»
Damit war es auch schon wieder.
Während wir beide vergeblich nach Worten suchten, wurden wir schon von einer dritten Person unterbrochen. Mein 13-jähriger Bruder Mitya betrat mit seinem Handy in der Hand die Küche.
«Oh mein Gott, Leaaaa!»
Sein Gekreische konnten vermutlich unsere Business Partner in Abu Dhabi hören.
«Ich kann es ja nicht glauben, was machst du da?»
Genauso wie seine Schwester zuvor, fiel er mir auch um den Hals.
«Lena ihr Geschenk vorbeibringen», sagte ich wahrheitsgemäß.
«Das ist aber doch nicht nötig! Wir haben dich alle so vermisst, du bist ja schon selbst genug», versprach mir diese.
Obwohl ich überaus warm aufgenommen worden war, hatte ich das Gefühl zwischen den Wänden zerquetscht zu werden. Alles schien mir zu eng, zu stickig, zu laut. Aus dem gegenüberliegenden Fenster des Wohnzimmers konnte ich einen Teil des Mercedes von meiner Wache sehen und in diesem Moment musste ich mich zusammenreißen, um nicht in Panik zu verfallen. Es war leicht angesehen zu werden, wenn einen fünf Männer mit Maschinengewehren begleiteten, aber jetzt spürte ich auf einmal wie verletzlich ich war.
Nichtsdestotrotz atmete ich tief ein und aus und bemühte mich um ein freundliches Lächeln.
«Zeit, dir dein Geschenk zu zeigen, oder?»
«Wie du magst, aber es muss wirklich nicht sein.»
Bevor ich ihr die Packung überreichte, nahm ich mein Handy heraus und legte es auf der Küchenplatte ab.
«Das brauch ich noch», warf ich immer noch grinsend ein.
«Oh meine Güte, das ist ja...!»
Weiter kam Lena nicht, weil noch weitere Gäste die Küche betreten hatten.
Nastjas Mutter stand mit dem Rücken zu uns, während sie sich mit Alina, meiner 26-jährigen Schwester unterhielt.
Als sie sich umdrehten, vergingen einige Sekunden bis sie die Situation verstanden hatten. Weitaus lauter als Lena und Mitya riefen sie ungläubig meinen Namen aus. Alina ließ wie in einer Trance ihr Sektglas fallen. Guten Abend, an mich selbst. Wer hätte es sich anders vorstellen können?
Meine Mutter rief noch nichtsahnend aus dem Wohnzimmer: »Alina, ist etwas kaputt?»
Keiner regte sich.
«Alina?», versuchte sie es noch einmal.
Mein gesamter Körper verkrampfte sich, während sich ihre Schritte der Küche näherten. Gleich würde das Finale kommen - bis jetzt war alles wie von mir pessimistisch prognostiziert gelaufen.
Wenige Sekunden später stand sie in der Küche und starrte meine große Schwester beschuldigend an.
Jetzt war es im Grunde genommen auch schon egal. Genau das war der Augenblick, den ich so sehr gefürchtet hatte. Also trat ich kurzerhand direkt vor sie.
Ihre Augen weiteten sich, sie wich einen Schritt zurück, dann musterte sie mich von oben bis unten, schließlich blieb sie wie versteinert stehen.
Meinen jüngeren Geschwistern mochte es egal sein, wie ich aussah und was sich an mir verändert hatte, aber für meine Mutter war es ein Schock mich so zu sehen.
«Leandra?»
Ihre Stimme klang vorsichtig, fast schon das, was sie sah, leugnend.
Ich schluckte schwer und richtete mich etwas auf: »Ja, Mama, das bin ich.»
Sie blieb weiter reglos stehen.
«Das kann nicht sein», ihre Stimme begann zu zittern, «oh mein Gott, das bist du doch nicht. Nein, das kann nicht sein. Oh meine Güte, was ist aus dir geworden?! Du bist doch nicht meine Tochter. Nein, oh Gott, nein, das gibt es nicht.»
Sie brach ab und ich sah, wie Tränen ihre Wangen hinunterflossen. Alina und Lena schlossen diese sofort in ihre Arme. Ich blieb unbeweglich. Hatte ich nicht genau dieses Szenario vorausgesagt? Hatte ich nicht deswegen die letzten Stunden zitternd verbracht? Hatte ich nicht gewusst, was aus mir geworden war?
Nach einer Zeit ließ sie meine Schwestern los und trat nun wieder auf mich zu. Sie musterte mich noch einmal von Kopf bis Fuß und schüttelte dann mit dem Kopf.
«Ich kann es nicht glauben, Lea. Das bist du, aber es gibt nichts, was mich an dich erinnert»
Sie weinte immer noch lautlos und Alinas Versuch die Glasscherben vom Boden aufzuheben, wurde in der Stille zu einem polternden Geräusch.
In einem Versuch die Stimmung aufzulockern lachten alle im Raum Anwesenden ein trockenes Lachen.
Schließlich kam sie näher und zog mich endlich in eine Umarmung. Was lange nicht hieß, dass die Situation geregelt war, aber zumindest trug sie den Anschein.
«Wie? Ich verstehe es nicht, Lea! Du warst ein Mädchen, welches eine kurze Hose und ein pinkes Top trug, als du von hier gefahren bist. Ich erinnere mich noch genau an diesen Tag. Du bist zu mir in mein Arbeitszimmer gekommen und hast gesagt, du würdest dich mit jemandem Wichtigen treffen.
Mit wem, hast du nicht gesagt. Danach bist du nicht mehr zurückgekommen. Alles, was wir von dir hatten, waren knappe Telefongespräche, in denen du jeder Frage ausgewichen bist. In den verdammte Nachrichten, in denen die Presse aus dir ein Monster gemacht hat, konnte ich dich nur für wenige Sekunden betrachten. Kein Wort habe ich ihnen geglaubt und immer gedacht, du wärst dieselbe wie früher.
Zehn Monate später kehrst du zurück und du bist eine Frau. Hätte ich dich auf der Straße gesehen, hätte ich nicht einmal gedacht, dass du meine Lea sein könntest!»
Alina hatte wieder einen Arm tröstlich um sie gelegt. Den anklagenden Gesichtsausdrücken konnte ich nicht ausweichen. Ja, ich war ein Monster, die Presse log nicht. Was sollte ich machen? Mich verteidigen?
Ich konnte nichts sagen. Es gab nichts zu sagen.
Ein schweres Schweigen umgab alle Anwesenden. Im Hintergrund tönte der schwere Beat eines Songs, in dem der Sänger über Alkohol, Frauen und durwachte Nächte rappte.
Eine einzige Zeile genügte, um mich wieder in meinem eigenen Verstand fliegen zu lassen.
«Завтра будет, как вчера.» - «Morgen wird alles sein, wie gestern.»
Nebel.
Februar. Kälte. Rote Rosen. Ja, ich war ein schlechter Mensch. Wieder dieser Maybach, diese verfluchte Farbenkombination. Ich schauderte. Ein Segen, dass meine Mutter keine Gedanken lesen konnte.
Die peinliche Stille wurde von quitschenden Sneakers am Boden unterbrochen. Mit erhellten Mienen blickten alle auf.
«Oh Lukas, da bist du ja, das ist übrigens L...», weiter kam Lena nicht.
Sein Gesicht war so bleich, dass seine Lippen schon fast blau waren. Die Pupillen unnatürlich geweitet.
Er unterbrach sie mit sich überschlagender Stimme: «Wisst ihr was mi...mir gerade passiert ist? Shit, ich dachte scho...schon,...!»
Seine Augen trafen meine. Damit war alles geklärt, er würde hier kein Wort verraten. Theoretisch interessierte es mir auch nicht mehr. Ich hatte sowieso schon alles vermasselt! Aber zumindest sollten sie nicht wissen, dass ich mit bewaffneten Streitkräften unschuldige Leute bedrohte.
«Was ist denn passiert? Du zitterst ja!»
Der Elan in der Stimme meiner Mutter war unverkennbar, anscheinend war sogar so eine Ablenkung bei ihr willkommen.
«Ehm», begann er, ich griff in meine Jackentasche, «ich wurde gerade», meine Finger waren am Auslöser, «ich meine, dort ist», noch ein Wort und ich würde die Kontrolle verlieren, «dort ist ein...»
«Wer ist dort?», forschte mein Bruder nach, «ein Sniper am Baum?»
Lukas sah auf mich. Er konnte erahnen, dass ich eine Pistole hatte.
«Ach niemand», er winkte mit der Hand ab, «warum fangen wir nicht damit an, die Geschenke für Lena aufzumachen? Dannach können, die, die Besseres zu tun haben, wieder gehen!»
Alle um mich herum zuckten verwirrt mit den Schultern.
«Dann lass uns zu den anderen gehen», schlug Alina vor.
Stumm folgte ihr der Rest in das Wohnzimmer, wo ein immer härter werdende Bass dröhnte.
«Hey, hat hier jemand eine falsche politische Meinung, oder warum stehen da zwei Mercedes mit getönten Fensterscheiben und Diplomatennummernschildern?»
Sascha, der Mann von Alina, begrüßte uns mit einem Weinglass in der Hand.
Lässig lehnte der Versicherungsagent auf der dunklen Couch.
«Dort stehen wer?», fragte meine Schwester skeptisch nach.
«Ja, ja, glaub mir nicht. Zwei schwarze AMG Mercedes mit blickdichten Fensterscheiben und CD Kennzeichen stehen dort. Einer in der Einfahrt, noch um die Ecke, mit laufendem Motor und ein zweiter parkt dort, wo alle anderen stehen.»
Sein schelmisches Lächeln sprach Bände. Dieser Mann war ein Fan unserer Regierung, für ihn waren die Speznas weitaus mehr als Helden.
«Jemand hier, der sich der Opposition zugewandt hat?»
«Also ich war es nicht, aber so fangen normalerweise Filme an», witzelte Alina.
Er trank einen Schluck mit einem Zwinkern in die Runde.
«Lea, wir haben dich gar nicht gefragt, willst du etwas zum Trinken?», wandte sich Lena nun an mich.
Obwohl ich zuvor versucht hatte, mich hinter meiner Familie zu verstecken, richtete sich sein Blick auf mich. Willkommen in der finalen Staffel der Serie «Blamage». So viel, wie er über die Politik wusste, würde er jetzt vermutlich jedem ein Lied über mein Leben singen.
«Nein danke, ich kann leider auch nicht so lange bleiben», wimmelte ich ab.
«Was? Ich habe gedacht, du bleibst zumindest für ein paar Tage!», empörte sich meine Mutter.
Aha, und mein Job konnte flöten gehen? Oder sollte Vasily in der Zwischenzeit alle Anrufe und Unterschriften erledigen und mit Alexey ein Video drehen?
Sascha zog die Augenbrauen hoch.
«Morgen muss ich eine Präsentation über ein paar ökonomische Themen halten, da wäre es nicht so schlecht, wenn ich nicht so spät schlafen gehen würde.»
Schwache Ausrede, das hätte sogar ein Kleindkind besser hinbekommen.
«Deswegen solltest du ja am besten hier bleiben und in Ruhe in deinem eigenen Zimmer schlafen», argumentierte meine Mutter weiter, «würdest du das nicht auch wollen?»
»Ich habe alle meine Sachen im Hotelzimmer.»
«Du hast alle deine alten Kleider in deinem Zimmer», ging die Debatte weiter.
«Die zieh ich ganz sicher nicht an.»
Ich biss mir auf die Zunge.
Darauf konnte niemand etwas zu erwidern. Der Satz hatte gesessen. Meine Nachricht war in der Form «Ich bin zu gut für euch und ihr seid wie eine mittelalterliche Bauernfamilie gekleidet» angekommen.
Nur Sascha traute sich leise zu lachen. «Inna», sprach er meine Mutter an, «sie will einfach nicht. Vielleicht solltest du einsehen, dass sie jemanden hat, mit dem sie die Nacht verbringen wird.»
Sie verdrehte genervt seufzend die Augen.
»Alexander, du wirst doch nicht behaupten, dass meine kleine Lea so etwas tun würde!»
«Doch, doch. Lea, lass mich dich doch fragen. Wird es heute Titarenko oder der Oppositionär sein?»
Meiner Mutter blieb der Mund offen stehen.
»Bitte, was?»
Es war alles kein Geheimnis. Eine Person, wie er, die sich für die Politik interessierte und dementsprechend Skandale verfolgte, wusste eben Bescheid. Sogar den wahren Namen von Alexey traute er sich nicht auszusprechen. Ganz der musterhafte Bürger Russlands.
Es reichte mir. Ich hatte gehofft, es würde alles so sein wie früher, aber es war nicht so gekommen. Je länger ich hier verweilte, desto mehr würde sich die Situation verschärfen. Sie sollten sich nicht wegen mir streiten.
«Einen schönen Abend noch.»
Kühl nickte ich in die Runde, drehte mich auf meinen Absätzen um und begann das Haus zu verlassen.
«Lea, bitte, der hat doch keine Ahnung von dem, was er redet!»
Rufend rannte meine Mutter mir nach.
Mein Vater, der meine Anwesenheit zuvor nicht bemerkt hatte, folgte ihr mit einem verwirrten Gesichtsausdruck. Jedoch verfolgte er eindeutig dasselbe Ziel wie sie - mich zu stoppen. Vor der Treppe, nun wissend, dass Vasily mich sehen konnte, drehte ich mich zu ihnen um.
«Es tut mir Leid, aber ich gehöre nicht mehr hierher. Ich hoffe, Lena hat mein Geschenk gefallen und sie wird eine Verwendung dafür haben. Wir werden uns hören.»
Mit diesen Worten stürmte ich in die kalte, windige Nacht hinaus und rannte, immer noch von meinen Eltern verfolgt, zu meinem Mercedes. Als ich stehen blieb, um die Türe aufzumachen, war der Ausdruck in den Augen meines Vaters etwas, was ich niemals vergessen würde.
Vasily saß kerzengerade in dem Fahrersitz und startete kaum eine Sekunde, nachdem ich eingestiegen war, den starken Motor.
Das Heulen des AMGs durchschnitt die Nacht. Auf der Treppe standen nun auch alle anderen Beteiligten. Lena schien zu weinen.
Als Tochter war ich schon lange gescheitert, als Schwester nun auch offiziell.
«Auf einer Skala von 1-10, wie schnell soll ich fahren?»
Die Augen des Generals schwenkten unruhig zwischen meinem Vater, der wenige Meter vor dem Mercedes stand, und mir.
«7 und danach schau, wie du mich ablenken kannst!»
«Jawohl, Frau Verteidigungsministerin!»
Er salutierte mir in einer übertrieben formellen Manier, im Gegensatz zu dem verschmitzten Blitzen in seinen Augen.
Mit einem Satz war der Mercedes aus der Parklücke draußen und raste die Ausfahrt hinunter. Andrey hängte sich hinter uns dran und wir fuhren dem Vollmond und den Wolkenkratzern entgegen.
Wenn das hier so gelaufen war, was würde erst morgen an der Uni passieren? Was würden Nastja, Jana und meinen Dozenten sagen, wenn ich morgen so vor ihnen stehen würde? Ich lehnte mich gegen das kühle Fenster und seufzte. Vasily strich über meinen Oberschenkel und riss kurz seinen Blick von der Straße los, um mir in die Augen zu schauen.
Als ich die Lichter der Großstadt in seinen Pupillen widerspiegeln sah, wusste ich, dass ich zumindest frei war.
Mein Geld und meine Macht konnte mir keiner mehr nehmen. Hier war ich inmitten tausender Lichter meiner Heimatsstadt, zurückgekehrt als Oberbefehlhaberin über die russiche Armee, Öloligarchin, umgeben von meiner Wache.
An meiner Seite mein General Vasily Titarenko, von dem nicht nur eine Oligarchin dieses Landes vor dem Einschlafen träumte, der wusste, was es war zu kämpfen, der mir seine Treue geschworen hatte. Und heute Nacht würden wir eindeutig nicht über Ölpreise verhandeln.