Kapitel5
13.März, 04:17 Perm
Eine goldene Kette glitt durch meine Finger. Mein Blick schweifte zu Vasilys Rolex am Nachtkasten. Gerade noch genug Licht, um da Ziffernblatt zu erkenen. Es war erst 4 Uhr morgens und schon wieder saß ich schlaflos auf der Bettkante.
Gar nicht der Gedanke vor den Kommilitonen zu stehen und vorzutragen war es, der mir Sorgen bereitete. Daran war ich gewohnt, im Grunde waren Pressekonferenzen auch nichts anderes. Doch die Idee vor meine Freunde zu treten, brachte mich zum Schaudern.
Genauso wusste ich, dass die Geschichte mit meiner Familie nicht beendet war. Dort wo wir gestern stehen geblieben waren, konnte ich es nicht lassen. Es würde mich innerlich auspressen.
Ich blickte auf Vasilys nackten muskulösen Rücken und dann auf mein Prada Kleid, welches am Boden lag. Gestern Nacht war ich vor meinen Ängsten geflohen, aber heute nahm ich es mir ganz fest vor, sie zu überwinden. Seufzend legte ich mich wieder hin und gab ich mich einer Erinnerung hin. Einschlafen würde ich sowieso nicht mehr können.
Throwback Anfang:
12.Dezember, Moskau 22:57
Moskaus Hochhäuser tauchten die Nacht in ein sagenhaftes Licht. Links und rechts von mir verschwammen hunderte von Aufschriften von Bars und Clubs, als mein Chauffeur den Mercedes nach einer Ampel beschleunigte. Überall waren weihnachtliche Girlanden zu sehen. Sternschnuppen schmückten die Fenster einiger Wohnungen und Lichterketten schienen die Straße zu verschlucken.
Vor noch einem Jahr, hatten meine Eltern unser zu Hause in ein ähnliches Paradies aus Glanz und Licht verwandelt. Das gemeinsame Schmücken des Tannenbaums war ein heiliges Ritual gewesen, an dem nicht nur meine Geschwister anwesend gewesen waren, sondern auch meine Großeltern.
Gemeinsam hatten wir danach immer einen Spaziergang in der wunderschönen Schneeebene von Perm unternommen. Als Kind war es meine Welt gewesen. Das ganze Jahr über hatte ich diesen Tag angestrebt. Später, als ich meinen ersten Freund hatte und zu den ersten Partys ging, war es immerhin ein Brauch geblieben.
Heute hatte ich es zum ersten Mal verpasst. Ob sie wohl an mich gedacht hatten? Mein Handy vibrierte in meiner Jackentasche. Alexey, über dessen Beine ich meine geschlagen hatte, drehte seinen Kopf in meine Richtung um. Seine hellblauen Augen leuchteten fast schon fiebrig. Ich lehnte meinen Oberkörper gegen seinen und zog mein Handy hinaus. Glücklicherweise war das nur meine Mutter, die mir ein Foto von unserer Familie um die Tanne schickte und schrieb: »Wir vermissen dich! Hoffentlich kannst du auch einen schönen, gemütlichen Abend verbringen. Denk daran, halte dich warm!»
Ich lächelte. Das war so typisch. Egal was, aber die Sorge, ob mir eh warm genug war, würde immer bestehen.
Während ich versuchte mit einer Hand mein Handy auszuschalten und mit der anderen mein Kleid, welches hochgerutscht war, hinunterzuziehen, öffnete ich unabsichtlich den Browser.
Aus welchem Grund auch immer startete dieser immer mit einer Nachrichtenseite, welche ich innerlich schon tausendmal verflucht hatte. Vor vielen Jahren hatte ich als Teenager, welcher kaum etwas von Politik verstand, stets auf diesem Weg Nachrichten erfahren. Diese hatten mir höllische Angst und schlaflose Nächte bereitet. Meine Angst vor Krieg und Krisen war damals fast unaushaltbar gewesen. Vor allem, wenn die einzige Quelle eine außerordentlich unseriöse gewesen war. Und heute spürte ich wieder den Hass gegen diese Seite.
Mit fetter Schrift stand ganz oben, für mich nicht zu übersehen: »Vorobjowa im nächsten Skandal: Was unsere Verteidigungsministerin nachts auf Moskaus düsteren Parkplätzen treibt.»
Drawback Ende
Ich drehte mich wieder auf die andere Seite, um aus dem Fenster schauen zu können. Mein Herz fühlte sich schwer an, während ich daran dachte, dass Sascha meinen Eltern gestern wohl alles brühwarm dargelegt hatte.
Beweise hatte er mehr als genug. Dieser eine Artikel war nur ein Bruchteil dessen, was über mich bekannt war. Er könnte innerhalb weniger Minuten mir mit jedem Politiker und Oligarch eine Affäre andichten und es würde ihm jeder glauben. Ich musste dafür sorgen, dass meine Mutter meiner Aussage mehr Vertrauen schenken würde. Je früher, ich es hinter mir hatte, desto mehr Chancen hatte ich.
Und ich würde damit anfangen, dass ich meiner Mutter eine Entschuldigung schreiben würde. Also stand ich leise seufzend auf und begab mich auf die Suche nach meinem Handy. Dabei versuchte ich auch mein Kleid wieder aufzuhängen, und zwar ohne Vasily aus dem Schlaf zu reißen. Meine Mission scheiterte. Die Tür des Schranks schwang etwas unsanft zu. Keine drei Sekunden später griff er schon nach seiner Pistole. Und nach einer weiteren hatte er sie auf mich gerichtet.
Mich hatten genauso, wie ihn die russischen Spezialeinsatzeinheiten ausgebildet. Aus Instinkt packte ich die am Boden liegende Kalaschnikov. Gegen eine Waffe konnte man nur mit einer Waffe ankommen, so viel stand fest.
Er ließ die Pistole fallen und mein Verstand schaltete sich wieder ein. Es war nur Vasily, kein Geiselnehmer oder Bandit. Mein Reflex war absolut umsonst gewesen.
«Alles in Ordnung?»
Ein anderer Mann hätte mich an dieser Stelle wohl angeschrien, was ich um diese Uhrzeit machte, aber nicht er.
«Ja, ich suche nur mein Handy», erklärte ich ihm und fügte dann noch hinzu, «sorry.»
«Sicher, oder willst du mich loswerden?»
Vasily wies auf sein Maschinengewehr in meiner Hand.
«Du hast angefangen», konterte ich.
«Weil ich dachte, jemand will dich umbringen!»
«Ooh, so dramatisch?»
«Warum versuchst du dich dann überhaupt gegen mich zu wehren?»
«Weil du es mir so beigebracht hast!»
«Da habe ich wohl solche Situationen nicht mit hinein bezogen.»
Ohne einen weiteren Augenblick zu zögern, stand er auf, legte seine Uhr um und begann sich anzuziehen. Sowie seine Waffen einzusammeln, was aber einen beachtlichen Zeitraum einnahm. In seinen Waffengürtel passte nämlich weitaus mehr als man glauben konnte.
Nachdem ich meine Jackentasche durchsucht hatte und in dieser nur meine Pistole vorfand, war diesmal meine erste Reaktion ein Schreien. Die zweite war, diese gegen die Wand zu schmeißen, was ich mit Mühe verhindern konnte. Ich hatte mein Handy in der Küche meiner Eltern vergessen.
*1 Stunde später*
Meine Hand zitterte so sehr, dass ich es kaum schaffte, die Lage meiner Haube im Autospiegel zu korrigieren. Meine nude lackierten Nägel blieben stets in dem Pelz hängen und ließen mich immer gereizter werden. Schließlich riss ich sie mir vom Kopf und warf sie unter Vasilys verwundertem Blick auf die Rückbank.
Ich richtete meine Augen auf das Haus, welches wir gestern überstürzt verlassen hatten. Von leuchtenden Girlanden war nichts mehr zu sehen, nur einige Plastikbecher lagen auf dem Boden vor der Veranda.
In meiner Hand lag der Schlüssel, welchen ich vor zehn langen Jahren bekommen hatte. Nun würde ich ihn zum ersten Mal seit fast einem Jahr benützen. Wir stiegen in den kühlen Morgen auf den fast leeren Parkplatz hinaus.
Nur der SUV meiner Eltern, die Limousine von Sascha, sowie der Jeep unserer Nachbarn parkten außer uns dort, wo gestern über 10 weitere Fahrzeuge gewesen waren.
«Kommst du?»
Vasily reichte mir die Hand, als er bemerkte, dass ich wie eingefroren auf einem Platz stand und auf den Eingang starrte.
Er trug nun seinen normalen Tarnanzug, sowie eine kugelsichere Weste und schien mit seiner Kalaschnikov für den Kampf gerüstet zu sein. Nach der Blamage gestern würde ich niemals dieses Haus, auch wenn ich mir sicher war, dass alle schliefen, ohne einem Mann, wie ihm, betreten.
«Wenn sie wach sind, renn ich raus», warnte ich ihn, während wir die Treppen hinaufgingen.
Er lachte leise.
»Sag nur vorher Bescheid, ansonsten werde ich dort alleine mit einem Maschinengewehr stehen und erklären müssen, wie ich reingekommen bin.»
Ich sperrte die Tür so leise es ging auf und wir betraten die Wohnung, wo ich über 18 Jahre meines Lebens verbracht hatte. Man konnte schon am Flur erkennen, dass meine Mutter sich große Mühe gegeben hatte, alles aufzuräumen. Jedoch vermutlich keine Zeit für Details mehr gehabt hatte. Wie beispielsweise den Spiegel, welcher von Fingerabdrücken übersät war, zu putzen.
Nichteinmal sein eigenes Abbild konnte man erkennen, nur die verschwommenen Konturen und Farben der Kleidung. Im Wohnzimmer war es um einiges sauberer. Zwar lagen die Polster auf der Couch so, als ob ein Hubschrauber neben ihnen gestartet wäre, aber ansonsten war nichts von vergessenem Geschirr oder leeren Flaschen zu sehen.
Dafür hatte sich meine Mutter und wahrscheinlich auch Alina schon mal einen großen Applaus verdient. Besonders, wenn man die Anzahl der Gäste, die gestern da gewesen waren, betrachtete.
In der Küche war es durch die geschlossenen Jalousien noch dunkel, als ich mich nach meinem Handy umsah. Doch selbst nachdem ich das Licht eingeschaltet hatte, war davon noch keine Spur zu sehen.
«Vasily», zischte ich, «die haben einfach mein Handy mitgenommen!»
Er kam näher und vergewisserte sich selbst, dass es dort nicht lag.
«Glaubst du, ich bin irgendwie blind oder dumm?!», fuhr ich ihn daraufhin an.
«Leandra», er legte beschwichtigend seinen Arm auf meinen Rücken, «wenn man zwei Jahre im Krieg verbracht hat, dann nimmt man Sachen wahr, die niemand anderer bemerkt.»
Die Augen über seine Referenz zum Kriegsdienst verdrehend, öffnete ich noch ein paar Schubladen. Immer noch in der Hoffnung, jemand hätte es dort deponiert, damit niemand von den Gästen es mitnahm.
Ich versuchte darüber nachzudenken, wo ich es hin getan hätte, wenn ich meine Mutter gewesen wäre.
«Vielleicht ist es in deinem Zimmer», meinte mein General plötzlich, fast meine Gedanken lesend.
Einen Versuch war es zumindest wert. Die Uhr über dem Herd zeigte 5:30. Früher war zumindest mein Vater um dreiviertel 6 aufgestanden. Wenn ich Glück hatte, würde er es wieder um diese Uhrzeit, wenn nicht später, tun.
Ich zog Vasily die Treppe in den zweiten Stock, wo die Zimmer von mir und meinen Eltern sowie meines Bruders waren, hoch.
Einerseits verstand ich es selbst nicht, warum es mir so eine Furcht bereitete, in meinem Elternhaus alleine zu sein, aber anderseits hatte ich das Gefühl, dass Vasily mich aus jeder peinlichen Situation hinausziehen könnte. Sei es mit einer Geschichte aus dem Krieg oder seiner Kalschnikov.
Meine Mutter würde uns sicher zusammenschlagen, wenn sie mitbekommen würde, dass wir, ich in meinen High Heels und vor allem er in seinen Stiefeln, auf dem frisch geputzten Boden im zweiten Stock herumliefen.
Innerlich betete ich, dass sie die Zimmer nicht getauscht hatten und meins immer noch das ganz rechts war. Trotzdem öffnete ich zuerst die Tür nur einen Spalt breit und spähte vorsichtig hinein. Es war leer. Die Wände waren immer noch dieselben pinken, wie sie seit meinem 8. Lebensjahr gewesen waren.
Das Bett mit der violetten Tagesdecke stand im selben Eck und sogar mein alter Laptop, welchen ich zurückgelassen hatte, lag auf dem weißen Schreibtisch vor dem Fenster.
Während ich den Raum nach meinem Gerät absuchte, blieben meine Augen am Spiegel hängen.
Es schien so falsch hier in diesem Raum, in welchem ich aufgewachsen war, in einem weißen Pelzmantel zu stehen. Unter diesem war ein Teil meines dunkelblauen Kleides zu sehen. Es war schwer für mich gewesen, nicht eine Netzstrumpfhose anzuziehen, um die Reaktion meiner Dozenten zu sehen. Aber die Frage, ob sie mich trotz meiner bewaffneten Männer rausgeschmissen hätten, musste wohl unbeantwortet bleiben.
Nur ein kleiner Teil meiner schwarzen, blickdichten Strumpfhose war zwischen dem Mantel und den farblich dazu passenden High Heels zu sehen. Meine Haare hatte ich mithilfe von einem Steckkamm aus Diamanten hochgesteckt, der gemeinsam mit den, mit Swarovski Elementen verfeinerten, Perlenohrringen und einer Kette aus eben diesen, leicht funkelte. Während ich mit meinem Finger versuchte meinen Lidschatten - welchen ich zuvor innerhalb von fünf Minuten aufgetragen hatte - auf die Schnelle zu korrigieren, hörte ich plötzlich eine Tür im Flur quitschen. Vasily, der halb am Gang stand, drehte sich alarmiert um, aber da war es schon zu spät. Selbst ein Satz in mein Zimmer hinein, hätte ihn nicht gerettet.
Aus dem Raum genau gegenüber von meinem trat mein Bruder hinaus. Er rieb sich eben noch verschlafen mit den Ärmeln seines grünen Pyjama die Augen, als er auf einmal hellwach schien. Aus Reaktion trat ich hinter die halboffene Tür in Deckung und für Mitya wirkte es, als ob einfach ein Soldat mit einem Maschinengewehr vor ihm stand.
Der Schrei, der darauf folgte, war von der Lautstärke nicht nur meiner Makarov überlegen, sondern einem ganzen Flugzeugbataillon. Vasily hatte natürlich Angst meinen Bruder irgendwie zu verletzen und tat nichts, um ihn verstummen zu lassen.
«Hilfe!», als er doch auf ihn zutrat, versuchte er ihm auszuweichen und stieß mit voller Wucht schreiend gegen die Wand, «hilfe!»
Es dauerte keine Sekunde bis ich Schritte hörte und mein Vater am Gang stand und wohl versuchte einzuschätzen, ob es ein Traum war oder, ob der Freitagmorgen einfach nur aus allen Fugen geraten war.
Wie ich aus meiner Position erkennen konnte, schloss er die Augen, machte sie wieder auf, schloss sie erneut, öffnete sie und riss sie dann endgültig auf.
«Was...geht...hier...vor?»
Er musterte seinen Sohn, welcher an die Wand gepresst stand und dann den bewaffneten General.
Vasily trat vor und salutierte. «Mein Name ist Vasily Titarenko, es ist mir eine Ehre Sie kennenzulernen, Mr. Vorobjow», die Situation schien immer makabrer zu werden.
«Ehh, mir ebenfalls, Herr Ti...», er unterbrach den Satz, weil ihm anscheinend der Name bekannt schien.
«Vadim, was ist los?», Alexander kam, sich die Krawatte richtend, in einem Anzug die Treppen hinunter.
Anscheinend hatte er mit Alina hier übernachtet und musste nun früher aufbrechen, um rechtzeitig zu seiner Arbeit als Versicherungsagent zu kommen.
«Ach, gar nichts», ich hatte den Eindruck, mein Vater konnte überhaupt gar nichts mehr verstehen und entschied sich einfach alles gelassen zu nehmen.
«Das ist doch General Titarenko!», schrie Alexander plötzlich.
Vasily fasste seine Waffe etwas fester.
«Ja,ja, er hat sich bereits vorgestellt», winkte mein Vater mit der Hand ab.
Stille. Mitya stand immer noch in seiner komischen Position, Alexander war auf der Treppe verharrt und mein Vater spielte so, als ob alles selbstverständlich war.
«Wohnungsdurchsuche», meinte Vasily plötzlich, «wir sind auf einer Wohnungsdurchsuche, weil wir einen anonymen Anruf erhalten haben mit den Hinweisen, Sie würden im Besitz von illegalen Gegenständen beziehungsweise Substanzen sein.»
Ich beglückwünschte mich selbst dafür, ihn mitgenommen zu haben. Zwar war die Aussage fragewürdig, aber es würde keiner sie tatsächlich in Frage stellen oder mich damit in Verbindung bringen können. Außer vielleicht Alinas Mann, aber der konnte nun auch nicht all zu viel bewirken.
«Das ist...», begann mein Vater. «Kompletter Blödsinn», ergänzte Sascha.
«Meine Kameraden werden trotzdem eine gründliche Durchsuchung durchführen müssen.»
Kaum hatte er die Worte gesprochen, da griff er bereits nach seinem Funkgerät und befahl Andrey mit seinen Männern die Wohnung zu stürmen.
«Meine Familie muss sich bald für die Schule sowie Arbeit fertigmachen. Sie verstehen sicher, dass wir nicht den Erfolg unserer Kinder riskieren können! Die Schulleitung wird und niemals abnehmen, dass Spezialeinsatzkräfte unser Haus gestürmt haben!»
Für ihn waren unsere Schulerfolge tatsächlich immer oberste Priorität gewesen, aber gegen den General damit zu argumentieren war besonders gewagt.
Dieser zog die Augenbrauen hoch: »Schaut das wie mein Problem aus?»
Ich sog scharf die Luft ein. Einerseits war ich ihm dankbar dafür, dass er so auf meiner Seite stand und mich aus der Affäre zog, aber anderseits tat mir auch meine Familie leid. Illegale Substanzen hatten sie nämlich sicher keine. Die beiden Männer zuckten mit den Schultern.
«Soll ich meine Frau und Kinder wecken?», erkundigte sich mein Vater schließlich.
«Nein, wir sind der Weckservice», Vasily lächelte ironisch und Mitya rannte, sichtlich erleichtert, eine Ausrede zu haben, um sich vom Fleck zu bewegen, in das Zimmer meiner Mutter.
Keine Minute später standen schon fünf weitere bewaffneten Männer auf dem Gang und beschmutzten den sauberen Boden noch mehr als wir es getan hatten.
Lena tapste nur in einem Tanktop und ihrer Unterwäsche die Treppen hinunter und eine schlaflose Nacht war ihr ansehbar. Zuerst tippte ich auf Lukas, weil ihr um so viel helleres Haar als meines, zerzaust in alle Richtungen wegstand. Doch dann belehrten mich ihre verweinten, angeschwollenen Augen eines besseren. Die Sorge um unseren Disput, oder eher mein einfaches Verschwinden war wohl das, was ihr den Schlaf geraubt hatte.
Sie ging an meinem Zimmer vorbei, ohne auf die leicht geöffnete Tür zu achten und wollte dann das Badezimmer betreten, als sie plötzlich einen Sprung zur Seite machte. Andrey stand im Türrahmen mit seiner Kalaschnikov und versperrte ihr den Zugang.
«Mädchen, für dein Rendevousz kannst du dich später fertigmachen, lass die Profis ihre Arbeit machen», seine Stimme hörte sich für mich so an, als ob er kurz vor einem Lachanfall stände, aber für sie war er einfach ein verdammt brutaler Soldat in Uniform.
Trotzdem verließ er den Raum und sie schlüpfte dort ohne weiteren Umschweif hinein und sperrte hörbar die Tür zu.
«Andrey», zischte ich, als er in mein Zimmer hineinblickte, «mein Handy! Sucht mein Handy!»
Dieser kam grinsend zu mir hinein. »Schau, dass du selbst hinauskommst, dein Handy finden wir schon.»
«Wie?», verdrehte ich die Augen, «ich möchte ja nichts sagen, aber mit einem von euch werde ich ganz sicher nicht verwechselt werden.»
«Wie hoch ist das Fenster?»
Er trat an meinen Schreibtisch heran und blickte hinaus auf den Parkplatz.
«Wir sind im zweiten Stock», fuhr ich ihn an.
«Spring hinaus, ich renn daweil runter und fang dich dann auf.»
Ich zog über seine Aussage die Augenbrauen hoch, aber ließ sie unkommentiert.
Meine Mutter stand nämlich nun auch am Gang und das Letzte, was ich wollte war, dass sie meine Stimme hörte.
«Vadim, was hast du getan?», schrie sie meinen Vater, wohl im Glauben, er wäre für dieses Spektakel verantwortlich, an.
«Gar nichts, Inna! Ich habe keine Ahnung, was sie hier machen!», versuchte er vergeblich die Ruhe zu bewahren.
Langsam verstand auch ich die Sinnlosigkeit hinter meinem Gewaltsauftritt. Es war in mein Blut übergegangen, sofort jegliche Zweifel zu beseitigen. Zwischen Öloligarchen mochte das eine Wirkung erzielen, wenn es zu einer Debatte kam. Aber dort waren alle bewaffnete Männer mit Millionen auf ihren Kontos und vergoldeten Autos auf dem Parkplatz.
Für sie war das alles ein Spiel. Für meine Familie, gestern Lukas und Clarissa, war es ein wahrgewordener Alptraum. Sie hatten es sich nicht aussuchen können. Keiner von ihnen hatte sich gewünscht, dass ein einst unscheinbares Mädchen mit einer Sturmtruppe auftauchen würde und allen, die von ihr erwarteten, so zu sein, wie sie einst gewesen war, auf eine unsanfte Weise die Wahrheit beibringen würde.
Ich war nicht dermaßen gefühlskalt, dass ich es nicht nachvollziehen konnte. Es war mir mehr als bewusst, dass ich mich dafür schämen sollte, meine Macht dermaßen zu misshandeln.
Es wäre für alle Beteiligten besser gewesen, hätte ich mich wie ein normaler Mensch gemeldet und gesagt, dass ich zu der Party kommen würde. Es hatten weder Lukas noch Clarissa verdient, nur weil sie zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen waren, um ihr Leben zu fürchten. Auch Lena hatte nichts getan, um ihren 16. Geburtstag von der älteren Schwester, welche nicht mehr wusste wohin mit ihrem Geld, zerstören zu lassen.
Verdammte Wut brauste in mir auf. Auf die letzten zwei Tage, auf die Nacht in Wien, einfach auf mich selbst. Aber wo konnte ich sie auslassen, ohne weiteren Schaden anzurichten?
Ich griff nach meiner eigenen Makarov und riss Andrey, der immer noch aus dem Fenster blickte, an der Schulter herum. Mit der Waffe presste ich ihn die Wand.
Andrey, der seit einem halben Jahrzehnt nichts anderes tat als sich auf genau solche Situationen vorzubereiten, reagierte entsprechend. Er hatte innerhalb von Sekunden die Pistole aus meiner Hand gedreht. Mit seinem ganzen Körpergewicht drückte er mich nun auf den Boden, mit welchem ich schmerzhaft Bekanntschaft schloss. Im Gegensatz zu ihm, der ganz genau wusste, dass er keinen Laut von sich geben sollte, stieß ich einen schrillen Schrei aus, als er auf mich fiel.
«Oh Gott, Leandra!»
Er sprang sofort von mir auf und zog mich wieder so schwungvoll hoch, dass ich nun gegen seine Brust knallte.
In seinen Augen stand der pure Schock. Wir stand einfach da und schienen nicht zu wissen, was wir denken geschweige sagen sollten. Ich hatte unglaubliches Glück gehabt.
Wenn ein Soldat in voller Montur auf einen fiel, ging das normalerweise nicht so geimpflich aus. Und für ihn, dessen oberste Priorität meine Sicherheit war, war das mehr als eine Katastrophe.
Schon allein, wenn man darüber nachdachte, dass er nicht nur mir seine Treue geschworen hatte, sondern auch vor Vasily, der ihn für sein Missgeschick sicher köpfen würde. Mal wieder Glückwunsch an mich- keinen Schaden anrichten hatte nicht so geklappt.
Aber bevor wir auch nur dazu kamen, unsere Gedanken auszusprechen, kam auch schon meine Mutter in den Raum gerannt. Sie hatte, ihren geweiteten Augen und der gehetzten Haltung nach, anscheinend gedacht, dass einer der Truppe irgendwen von meinen Geschwister verletzt oder zumindest belästigt hatte. Ihre gelbe Bluse, welche erstaunlicherweise richtig zugeknöpft war und den schwarzen Jeans - ihrem Lieblingsoutfit für zu Hause - ließen mich wieder an die Zeit, die es niemals wieder geben würde, denken.
Ich war nun kein Kind mehr und würde es nie mehr sein, aber konnte zumindest ihre Erinnerungen an mich von damals retten? Ohne wirklich hinzuschauen hetzte sie bis zu der Mitte des Raumes. Dann blieb sie vor meinem ehemaligem Bett stehen und starrte ungläubig auf mich und den Offizier.
«Leandra», fing sie an, als sie mein erneutes Auftauchen realisiert hatte, aber verharrt dann damit.
Weißes Fell und Diamanten. Ich wusste, wie ich aussah, aber vermutlich würde ich es nie verstehen, wie ich für sie aussehen musste.
«Ich suche nur mein Handy.»
Am liebsten hätte ich mir für diese Aussage selbst eine Ohrfeige verpasst. Die Peinlichkeit von gestern Abend war gerade getoppt worden.
«Ehhm ja, da...das habe i...ich», stotterte sie, «ich meine ich ha...habe es für dich aufbewahrt.»
Andrey war in der Zwischenzeit von mir etwas zurückgetreten. Mit verschränkten Armen stand er an die Fensterbank gelehnt, was das ganze Szenario nicht gerade neutralisierte.
«Danke.»
Ich nickte, ohne von dem hellen Parkettboden, auf dem schwarze Spuren von Andreys Stiefeln waren, aufzuschauen.
Es vergingen Sekunden, aber keiner rührte sich. Mein Mutter starrte auf mich, Andrey spielte mal wieder den Profi, der nur seinen Job machte und ich versuchte krampfhaft einen klaren Gedanken zu fassen.
Ein dumpfes Geräusch ließ uns schließlich zusammenzucken. Mein Steckkam hatte sich aus meinem Haar gelöst und war auf den Boden geplumpst. Andrey und ich bückten uns gleichzeitig, um diese aufzuheben. Dabei stieß ich mit meiner Stirn gegen seine.
«Andrey!», sog ich erschrocken die Luft ein, «du willst mich doch loswerden, gib es zu!»
Er schwieg. Meine Mutter auch.
Irgendwo tief in meinem Inneren verspürte ich den Drang sie zu bitten, meine Haare wieder entsprechend zu frisieren, wie sie es tausende Male in meiner Kindheit getan hatte. Besonders vor dem 1. September, dem ersten Schultag, welcher stets unglaublich gefeiert worden war, wie es in Russland Brauch war. Sie hatte Stunden damit verbracht, meine Haare zu kunstvollen Frisuren zu flechten. Aber auch im Alltag war sie bis vor wenigen Jahr stets meine Rettung gewesen, egal ob es um ein Date oder einen einfachen Ausflug in den Wald ging.
Ich schluckte, holte Luft und wollte schon endlich die Worte sprechen, als mein eigener Stolz mich stoppte. Den Mund wieder schließend, seufzte ich. Die Zeit war vorbei, heute war ich alleine. Die einzigen, die an meiner Seite standen, waren Männer mit Maschinengewehren, die ihr Leben meinem jederzeit unterordnen würden.
Ich war den falschen Weg gegangen und hatte meine Familie im Stich gelassen. Gegen Geld, Macht und Waffen hatte ich sie eingetauscht. Ohne zu reden blickte ich meiner Mutter in die Augen. Das, was ich ihr so gerne gesagt hatte, behielt ich in mir. Die Entschuldigung dafür, dass ich niemals eine Familie wie ihre bilden würde können, weil ich verdammt noch einmal nicht in der Lage war, jemanden wahrhaftig zu lieben. Weil ich mich inzwischen diesen tausenden Verführungen nicht kontrollieren konnte. Weil ich inmitten von hunderten Kameras die Selbstbeherrschung verlor und einen verheirateten Mann küsste. Weil ich morgens neben dem russischen General aufwachte und am nächsten Abend in den Armen eines Oppositionellen einschlief.
Weil ich in dieser Wüste aus dem Schein der Diamanten meiner Colliers, funkelnder Lichter von Großstädten und auf die Sterne zustrebender Jets, nicht mehr klar sehen konnte.
Aber ich lächelte sie an. Mich konnte ich ihr nicht mehr zurückgeben, aber die Erinnerung daran, dass wir glücklich gewesen waren, schon. Und das war das Mindeste, was ich tun konnte.