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Kapitel 9: Falsche Identität, 2050

FALSCHE IDENTITÄT

2050

Ich laufe durch den Zug und betrachte aufgeregt meine Umgebung. Bevor sich die Tür des Zuges überhaupt geöffnet hat, musste ich zuallererst mein Ziel angeben. Irgendwie habe ich ein mulmiges Gefühl. Wenn sie die alte Frau finden, wissen sie genau, dass ich nach Wittenberg gefahren bin. Das Einzige, was mich vor dem Entdecktwerden schützt, ist der Overall, den ich am Leib trage. In meiner Phantasie male ich mir die allerschrägsten Fluchtszenarien aus. Es ist schon ewig her, dass ich mit einem Zug gefahren bin. Es sitzen nur noch zwei andere Personen in diesem Abteil. Dennoch gehe ich die Treppe hinauf ins Oberabteil des Zuges und setze mich auf eine Sitzbank. Hier bin ich nun völlig allein. Ich habe mich in den letzten Jahren irgendwie an die Einsamkeit gewöhnt. Es stört mich nicht mehr. Ich kann erkennen, dass der Zug bereits fährt, doch man spürt es fast gar nicht. An dem Sitz vor mir öffne ich eine Klappe und hole zwei versiegelte Ohrstöpsel heraus. Dann aktiviere ich das Entertainmentprogramm auf dem Call Strap. In meiner Fensterscheibe erscheint nun eine riesige Auswahl an Unterhaltungs-Apps. Ich entsiegele die Ohrstöpsel und stecke sie in meine Ohren. Nachdem ich mich von Reisenews bis Wettervorhersagen durchgezappt habe, bleibe ich bei WSA-News hängen. Unser Außenminister hält gerade eine Rede. Etwas gelangweilt und den Kopf auf dem ausklappbaren Tisch vor mir abgelegt, höre ich ihm zu. „Die Überbevölkerung muss unbedingt gestoppt werden, denn sie hat katastrophale Folgen für unseren Planeten. Wir haben 5,8 Milliarden Menschen, für die wir vernünftige Lebensbedingungen schaffen müssen. Erreichen wir erst einmal die sechs Milliarden Grenze, bekommen wir große Probleme.“

Mein Atem stockt augenblicklich. Was erzählt der da? Ich bin mir hundert prozentig sicher, dass wir früher sieben Milliarden Menschen waren. Das bedeutet doch, es gibt mittlerweile über eine Milliarde Menschen weniger als damals. Meine Gedanken fahren Achterbahn. Das darf nicht wahr sein. Wenn man die ganzen Hybriden mitrechnet, fehlen noch viel mehr Menschen. Schockiert starre ich auf den Bildschirm. Ich habe vermutet, dass bereits viele Menschen gestorben sind, doch so viele …

Wutentbrannt schließe ich die Apps. Was mich am allermeisten zermürbt, und das nicht erst seit jetzt, ist, dass außer mir offenbar niemand zu merken scheint, was hier geschieht. Und wenn es doch mal jemand tut, dann erfährt man es nicht. Denn die kontrollieren alles. Man hat lediglich Kontakt zu Menschen seines näheren Umfelds. Und leider sind die Menschen, mit denen ich in den vergangenen Jahren Kontakt gehabt habe, keine Menschen mehr. Gedankenversunken schaue ich aus dem Fenster in die dunkle Nacht hinaus.

„Lena?“, höre ich eine krächzende Frauenstimme neben mir fragen.

Überrascht schaue ich neben mich. Oh, mein Gott. Es steht eine ältere Dame neben mir. Ihr Gesicht ist von Falten übersät und ihre Haare sind grau. Doch ich erkenne sie trotzdem. Wie könnte ich dieses Gesicht vergessen. Es ist meine ehemals beste Freundin Eva. Ich habe sie eine halbe Ewigkeit nicht mehr gesehen.

„Hallo“, sage ich nur, viel zu überrascht durch ihr Erscheinungsbild. Ich sehe viel jünger aus als sie. Wie kann das sein? War das wirklich nur der Zeitdilatation geschuldet? Hatte ich derart viel Zeit bei denen verbracht oder lag es womöglich an Eva selbst?

„Arbeitest du noch in der Pathologie?“, fragt Eva in gefühlskaltem Ton und setzt sich auf die Sitzbank gegenüber.

Mit Tränen in den Augen starre ich sie an. Mit dieser Frau habe ich einige der schönsten Erlebnisse meines Lebens geteilt. Überwältigt von dieser unerwarteten Begegnung, falle ich ihr um den Hals. Doch sie erwidert es nicht. Vielmehr erinnert mich ihre steife Reaktion an Tommy. Doch das ist nicht Tommy. Es ist meine stets gut gelaunte Freundin Eva, die bei den unpassendsten Gelegenheiten anfängt zu lachen und die Leute meist einfach nur so umarmt, auch wenn sie sie gar nicht kennt. Doch nun … nun schaut sie wie die.

Ich betrachte sie mit gerunzelter Stirn. „Was ist mit dir passiert?“

„Ich weiß nicht, was du meinst?“, fragt sie, ohne eine Miene zu verziehen. „Du bist doch diejenige, welche sich unangebracht benimmt, und das in der Öffentlichkeit.“

Mein Kopf dreht sich nach allen Seiten. Niemand war in der Nähe. Unglaublich wie sie sie verändert haben. Wenn sie das mit ihr, der lebenslustigsten Frau, die ich je kennengelernt habe, machen können, dann wundert mich nichts mehr. Traurig schaue ich in die leeren Augen meiner ehemals besten Freundin. „Es tut mir leid.“

Eva nickt automatisiert. „Entschuldigung angenommen.“ Offensichtlich denkt sie, ich möchte mich tatsächlich dafür entschuldigen, dass ich sie umarmt habe. Dabei tut es mir eigentlich nur leid um das wundervolle Mädchen von damals, was nun endgültig verschwunden ist.

„Nein, ich arbeite nicht mehr in der Pathologie“, beantworte ich nun ihre Frage von vorhin.

„Ist es nicht toll, dass wir in Zeiten leben, in denen man nicht mehr unbedingt arbeiten muss?“, fragt sie mich daraufhin.

Meint sie das ernst?

„Ankunft Wittenberg“ erscheint nun hell erleuchtet auf meiner Fensterscheibe.

„Ich muss hier raus“, sage ich und begebe mich schnurstracks nach unten. Ich hätte sowieso nicht gewusst, was ich ihr sagen sollte. Wir leben ganz offensichtlich mittlerweile in verschiedenen Realitäten. Jetzt aber raus hier. Schnell verlasse ich den Zug. Ich habe es tatsächlich geschafft. Es ist bereits Mitternacht. Der Bahnhof ist menschenleer. Ich tue so, als würde ich mich im Gesicht kratzen, um es zu verdecken. An Bahnsteigen sind Face Scans durchaus üblich. Als ich durch den Ausgang hindurch gehe, ist das Einzige, was ich sehe, ein Cleaning Roboter, der Laub beseitigt. Ich schaue auf meinen Call Strap. Er ist noch in Funktion. Ich aktiviere die Shuttle App. Keine fünf Minuten später kommt bereits ein Shuttle um die Ecke gefahren. Die Schiebetür öffnet sich. Es ertönt eine freundliche Frauenstimme: „Guten Abend, Frau Schreiber. Hier ist der Zubringerservice des deutschen Nahverkehrs. Was kann ich für Sie tun?“

„Ebenfalls einen guten Abend“, antworte ich erleichtert und steige ein. Die Sitze sind angenehm beheizt und super bequem. Einfach toll. Ich bin schon ewig nicht mehr mit einem autonomen Fahrzeug gefahren.

„Bitte nennen Sie Ihr Ziel!“, ertönt abermals die Stimme.

„Jetzt mach doch nicht so einen Stress, Kleine. Ich muss erst nachschauen!“, entgegne ich genervt. Blöder Computer, als hätte der noch groß anderes zu tun. Ich betrachte die Koordinaten. Sollte ich tatsächlich das genaue Ziel nennen? Sicher soll der Treffpunkt geheim bleiben. Doch was bleibt mir als Alternative? In der Nacht allein umherlaufen? Irgendwie gruselt es mich bei dem Gedanken. Ich kenne diese Gegend nicht besonders gut. Wenn überhaupt bin ich vor Jahrzehnten einmal hier durchgefahren. Ich suche mir ein Dorf in der Nähe der Koordinaten aus.

„Nennen Sie bitte Ihren Zielort!“

„Zellendorf!“, schreie ich der aufdringlichen Computerstimme entgegen.

Auf der Trennscheibe vor mir, welche mich vom Computercockpit trennt, erscheint nun blau leuchtend der Zielort Zellendorf. „Danke für die Zielzuweisung. Die Fahrtdauer beträgt vierundvierzig Minuten. Bitte schnallen Sie sich an.“

Ich schnalle mich an und noch im selben Augenblick fährt das Fahrzeug auch schon los.

Außerhalb des Shuttles sehe ich nichts als Dunkelheit. Diese ländliche Gegend ist offenbar nur noch spärlich bewohnt. Kein Wunder. Es gibt hier sicher keine Geschäfte oder Shuttles, geschweige denn Arbeit. Nun fahren wir an einem riesigen Feld vorbei. Es wird von mehreren autonom arbeitenden Landmaschinen beleuchtet. Fasziniert betrachte ich den Himmel. Er erstrahlt in leuchtend hellen Streifen. Es sind Drohnen, unglaublich viele, in perfekter Formation hintereinander fliegend, wie an einer Perlenschnur. Drohnenautobahnen sind mir nicht neu, doch derart viele an einem Ort habe ich bisher noch nie gesehen. Jede verläuft in eine andere Richtung. Die meisten fliegen Richtung Berlin. Fast geräuschlos entfernen wir uns von dem Drohnenfeuerwerk und gleiten weiter über die Straße in Richtung Dunkelheit.

Nach einer Zeit nicht enden wollender Schwärze kommt uns das erste Mal ein Fahrzeug entgegen. Es handelt sich ebenfalls um ein Shuttle. Wer darin sitzt, kann ich leider nicht erkennen. Scheinbar ist es möglich, die Scheiben von außen blickdicht werden zu lassen. Gut zu wissen. Vielleicht hätte ich mir doch mal die Gebrauchsanweisung von dem Ding durchlesen sollen. Es ist bestimmt zwanzig Jahre her, seit ich das letzte Mal selbst ein Fahrzeug gesteuert habe. Das waren noch Zeiten. Mittlerweile verblasst die Erinnerung allmählich und erscheint wie ein längst vergangener Traum. Ich kann kaum noch die Augen offenhalten. Angestrengt versuche ich, nicht einzuschlafen.

Von einem Moment zum anderen stoppt das Shuttle plötzlich. Mit einem Mal bin ich wieder hellwach und schaue mich erschrocken um. Was ist passiert?

„Äh, sind wir schon da?“

Es bleibt totenstill … keine Reaktion. Ist dieses Ding jetzt etwa kaputt? „Shuttle, wo sind wir?“

„Eine Auskunft über den Standort ist nicht möglich“, erklingt nun eine monotone Computerstimme, welche die freundliche Frauenstimme scheinbar ersetzt hat.

Aufgeregt drücke ich auf dem Bedienfeld vor mir herum, doch es reagiert in keinster Weise.

Ich bemerke ein rotes Blinken an meinem rechten Arm. Oh nein, mein Call Strap. Er wurde deaktiviert. Sie haben die alte Frau gefunden. Sie suchen bestimmt schon nach mir.

Ich betätige den Türöffner. Nichts! Verdammt, ich bin gefangen.

„Mach sofort die Tür auf!“, schreie ich wütend, immer und immer wieder den Türöffner betätigend.

„Die Türen sind außer Funktion. Bitte bewahren sie Ruhe. Hilfe trifft jeden Moment ein.“

Das darf nicht wahr sein. Ich bin geliefert. „Wenn du nicht sofort die Tür öffnest, dann schlage ich alles hier drinnen kurz und klein.“ Versuche ich gerade wirklich einem Computer zu drohen? So etwas Blödes.

Ich lege mich auf die Seite und trete mit aller mir zur Verfügung stehender Kraft gegen die Seitentür. Doch ich schaffe es nicht, der Tür auch nur eine einzige winzige Beule zuzufügen.

Dann versuche ich es mit der Scheibe und trete immer und immer wieder dagegen. Doch es hat keinerlei Wirkung. Nach gefühlten fünfzig Tritten gegen absolut alles, breche ich schließlich völlig fertig auf der Sitzbank zusammen. Ich kann nicht mehr. Tränen sammeln sich in meinen Augen. Vor Panik und Überanstrengung muss ich mich übergeben. Nein, so darf es nicht enden. Nicht so!

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