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Kapitel 8: Der nackte Junge, 1996

DER NACKTE JUNGE

Bitterfeld, 1996

Ich stand mit meiner Freundin Eva auf dem Schulhof unseres Gymnasiums. Momentan war in meinem Leben schon fast so etwas wie Normalität eingekehrt. Die Wesen hatten mich nicht noch einmal entführt, zumindest so viel ich wusste. Es wäre natürlich genauso möglich gewesen, dass ich mich noch immer nicht daran erinnerte, wenn sie mich holten. Aber es war okay für mich. Ich machte einfach Dinge, die man als Teenager so tat, wie zum Beispiel auf Partys gehen. In zwei Monaten würde das Sommerfest stattfinden und ich freute mich riesig darauf, einfach einmal ein normaler Teenie zu sein.

„Ich trage ein rotes Samtkleid und lasse mir Locken drehen. Ich werde bombastisch aussehen“, erklärte meine schwarzhaarige Freundin Eva, freudig jauchzend.

Wir waren schon seit dem Kindergarten die besten Freunde. Sie war von uns beiden schon immer die Kontaktfreudigere. Ich war dann doch eher diejenige, welche sich von ihren Ideen mitreißen ließ. „Jetzt brauchen wir nur noch einen Typen“, fuhr sie fort.

Ich verdrehte lediglich die Augen. „Das nun wieder. Warum führt bei dir eigentlich immer alles zu demselben Thema?“

Sie war geradezu besessen darauf, endlich einen Freund zu haben. Für mich kam das gar nicht in Frage. Mein Leben war schon kompliziert genug.

„Ich frage mich, wie es bei dir nicht so sein kann. Schau dir meinen Schatz doch an. Sieht er nicht heiß aus?“ Eva deutete auf mein Hassobjekt schlechthin: Sandor. Blöderweise war sie von ihm am allermeisten besessen. Ich verzog angewidert das Gesicht. Er trug eine kurze Jeanshose und ein weißes Hemd mit einem offenen Hawaiihemd darüber. Ich verstand nicht im Entferntesten, wie sie das heiß finden konnte.

„Oh, mein Gott, er kommt her“, sagte Eva, während sie aufgeregt meinen Arm drückte.

Und sie hatte recht. Er kam, blöde grinsend, auf uns zu. Stand er tatsächlich auf Eva? Eigentlich hatte ich immer das gegenteilige Gefühl gehabt.

„Hey, Alien-Mädchen!“

Ich funkelte ihn nur böse an, während Eva „Hallo Sandor!“ säuselte. Doch er würdigte sie keines Blickes. Er ergötzte sich viel zu sehr daran, mich auf die Palme zu bringen.

„Sag, was du willst, und dann geh zu deinem Gefolge zurück“, fuhr ich ihn genervt an.

„Gehst du mit mir zum Sommerfest?“, fragte er mit einem selbstverliebten Grinsen auf dem Gesicht.

Mir blieb für einen Moment die Spucke weg. Und aus den Augenwickeln konnte ich erkennen, dass es Eva ähnlich erging. War das sein Ernst? Er nutzte jeden sich bietenden Augenblick aus, um mich zu ärgern, und jetzt wollte er mit mir ausgehen? Nein, das konnte er nicht ernst meinen. Er wollte mich wieder wie eine Idiotin dastehen lassen. Aber nicht mit mir.

„Nicht mal, wenn du der letzte noch lebende Mensch auf der Erde währst“, antwortete ich empört, drehte mich um und ließ einen völlig verdutzt dreinblickenden Sandor hinter mir zurück. Innerlich jubilierte ich. Das hatte gesessen. Diesmal hatte er es nicht geschafft, mich reinzulegen.

Eva kam hinter mir hergelaufen. „Was sollte das? Bist du verrückt?“

Überrascht schaute ich sie an. „Ich dachte; du willst ihn?“

Sie blickte bekümmert nach unten auf die Erde. „Ach, er beachtet mich doch gar nicht. Nicht wenn du neben mir stehst.“

Ich lachte mit abwehrender Haltung auf. „Oh, bitte. Dieser Typ will mir das Leben zur Hölle machen, nichts weiter. Und im Übrigen glaube ich, dass er eh nur sich selbst liebt. Der ist doch gar nicht dazu fähig, jemand anderes zu sehen.“

„Nein, so ist er nicht“, entgegnete Eva mit verträumtem Blick.

Langsam wurde ich wütend. Ich fand, ich hatte ihr gegenüber schon sehr viel Verständnis an den Tag gelegt, wenn man bedachte, dass sie auf einen Typen stand, der derart gemein zu mir war. Aber jetzt reichte es. „Sei doch nicht naiv. Sandor ist das Letzte. Er hat für dich und mich nichts als Verachtung übrig.“

Ein wütendes Blitzen trat in Evas Augen. „Was weißt du denn schon. Wenn jemand nichts davon versteht, dann ja wohl du.“

Sie lief wutentbrannt in die Schule hinein. Was sollte das jetzt nun wieder bedeuten? Nur weil ich keinen Kerl wollte, hieß das nicht, dass ich keine Ahnung hatte. Na toll, jetzt stritten wir uns auch noch wegen diesem Kerl. Das wollte ich eigentlich mit allen Mitteln vermeiden und nun das.

An diesem Tag ging Eva nicht mit mir zusammen nach Hause. Aber das war mir auch egal. Ich war ganz froh über etwas Zeit für mich. Und als ich schon gar nicht mehr an die unheimlichen Wesen dachte, entführten sie mich plötzlich erneut.

Und dieses Mal erinnerte ich mich an so einige merkwürdige Details:

Ich fand mich in einem weißen Raum wieder. Wie ich dorthin gelangt war, wusste ich nicht. Es war, als wenn man einen Traum träumt und dann einfach an einem Ort auftaucht. Es kam mir in diesem Moment völlig normal vor, dass ich dort war. Ich verspürte nicht einmal Angst.

An der Wand des Raumes standen ein Tisch und zwei Stühle. Und etwas weiter entfernt lag ein Riesenhaufen Kleidungsstücke aufgetürmt. Bestimmt wollten sie wieder, dass ich die Kinder unterrichte. Die Tür ging auf und zwei, mir wohlbekannte, grauhäutige Wesen kamen herein. Ihre knochigen Körper und kalten schwarzen Augen würde ich fortan nie mehr vergessen. Hinter ihnen lief ein nackter, schwarzhaariger, menschlich aussehender Junge, vielleicht etwas älter als ich selbst. Die grauen Wesen gaben mir zu verstehen, dass ich ihn unterrichten sollte, und begaben sich, uns beide musternd, in eine Ecke des Zimmers. Der Junge stellte sich, mit großen neugierigen Augen, direkt vor mich, während ich lediglich beschämt wegsah. Er war zwar durchaus gutaussehend, allerdings wirkte er nicht wie ein normaler Junge seines Alters. Sein Körper erschien steif, genauso wie sein Gesicht und er hatte auffallend helle Haut. Er starrte mich unaufhörlich an, ohne nur einmal den Blick von mir zu nehmen oder auch nur zu blinzeln.

„Du sollst mich anziehen“, äußerte er in roboterartigem Ton.

Ich schaute ihn entrüstet an. „Da … Das kannst du vergessen.“

Anstatt zu antworten ging er zu dem Haufen mit Kleidungsstücken und hielt eine Hose hoch. „Was ist das?“

Wollte er mich verarschen? Er wusste nicht, was eine Hose war?

Als hätte er seine Antwort bereits erhalten, fragte er weiter, diesmal ein T-Shirt hochhaltend. „Und was macht man damit?“ „Warum hat das kurze Arme und das andere lange?“, fragte er gleich darauf die nächste Frage.

Ich errötete, als mir allmählich klar wurde, warum er keine Antwort meinerseits abwartete. „Hör auf, meine Gedanken zu lesen“, fuhr ich ihn empört an.

„Dies wäre ineffizient“, antwortete er kurz angebunden, nur um im nächsten Augenblick die nächste Frage zu stellen: „Wozu ist das?“

Er hielt doch tatsächlich, immer noch nackt vor mir stehend, einen Schlüpfer hoch. Wenn es möglich gewesen wäre, noch mehr zu erröten, hätte ich es getan.

Völlig empört, über eine derartige Blödheit seinerseits, ging ich zu ihm und riss ihm den Schlüpfer aus der Hand. „Setz dich hin“, sagte ich in resolutem Ton.

Er schaute sich um und nahm auf einem Stuhl an der Wand Platz. Ich zog den Schlüpfer an seinen Beinen hoch. „So, und jetzt hochziehen.“

Er stand auf und betrachtete den Schlüpfer, welcher an seinen Beinen hing. Dann zog er ihn unglaublich langsam nach oben, so als wolle er es perfekt machen. Er wirkte dabei wie ein kleines Kind, das seinen Eltern zeigen wollte, was es gelernt hatte. Tat er das gerade zum allerersten Mal? Unglaublich!

„Habe ich es richtig gemacht?“, fragte er nun.

Ich schaute ihn mit großen Augen an, nicht so richtig wissend, was ich zu so einer Selbstverständlichkeit sagen sollte. „Äh, ich denke schon.“

Ich erklärte ihm daraufhin jedes einzelne Kleidungsstück und beantwortete jede einzelne seiner Fragen. Völlig geschafft ließ ich mich nun auf einen Stuhl fallen.

Der Junge wollte sich gerade wieder auf den Weg nach draußen machen, da rief ich ihm wütend hinterher: „Nicht so schnell, Freundchen. Jetzt bist du dran. Setz dich gefälligst an den Tisch.“ Ich weiß nicht genau, woher ich diesen Mut genommen hatte. Immerhin war ich entführt wurden. Vermutlich lag es daran, dass der Junge so unschuldig wirkte.

Er schaute mich eine ganze Weile an, scheinbar unschlüssig, was er jetzt tun sollte. Dann nahm er Blickkontakt mit den grauen Wesen auf. Offensichtlich hatten sie nichts dagegen, denn er setzte sich tatsächlich zu mir an den Tisch.

„Worum geht es hier?“, fragte ich sogleich.

Der Junge antwortete in seiner typisch roboterartigen Stimmlage. „Du sollst mir zeigen, wie man sich bei euch anzieht.“

„Ja, aber warum?“, fragte ich genervt.

„Wir müssen uns anpassen.“

„Warum siehst du aus wie wir?“

Er drehte sich zu den grauen Wesen um. Sie gingen in Richtung Tür. „Danke, Lena!“, sagte der Junge zu mir, während er sich aufmachte, ihnen zu folgen.

„Nein, warte“, rief ich ihm hinterher.

Und im nächsten Augenblick klingelte mein Wecker. Ich fuhr nach oben und setzte mich auf die Bettkante, völlig gerädert von dem Erlebten. Hätte ich nicht schon meine Erfahrungen gesammelt und Dr. Müller mir nicht erklärt, woran ich erkenne, wann es ein Traum war, würde ich mir jetzt gar nichts dabei denken. Ich wusste, dass ich nicht geschlafen hatte. Deshalb war ich auch so müde. Der Traum kam mir derart detailreich vor, dass es keiner sein konnte. Ich habe diesen Jungen tatsächlich getroffen. Ich wusste nur nicht so recht, was ich mit diesem Erlebnis anfangen sollte. Warum wollte dieser, eigentlich menschlich aussehende Junge, all jenes von mir wissen? Er war doch ganz offensichtlich keines dieser Wesen. Ich verstand es nicht, aber nun, wo ich nicht sofort wieder alles vergaß, würde ich es schon herausfinden.

Ich ging hinunter in die Küche. Mein Bruder Chris stand dort und schmierte sich eine Schnitte. Er war zu Besuch bei uns zu Hause während seines Urlaubs. Mittlerweile hatte er eine Stelle am Max-Planck-Institut für Kernphysik in Heidelberg angenommen.

„Hey, Kleine, wie geht's?“, fragte er lächelnd, während er in seine Schokoladenschnitte biss.

Ich lächelte zurück und sagte: „Na ja, geht so, kennst du ja sicher, Teenie-Probleme.“

Er nickte. „Ich denke, ich weiß, was du meinst, nur dass meine große Liebe schon immer die Physik war.“

Ich musterte meinen acht Jahre älteren Bruder für einen Moment. Er war vielleicht etwas zu dünn, aber alles andere als unattraktiv in meinen Augen. Genauso wie ich hatte er blaue Augen und hellbraunes Haar, welches er vielleicht mal öfter schneiden lassen könnte. Es reichte ihm mittlerweile bis zu den Schultern. Ich hatte nie verstanden, warum er nie eine Freundin mit nach Hause brachte. Doch vielleicht stimmte es ja und er war lieber mit der Physik verheiratet. Da kam mir plötzlich ein Gedanke. Wenn jemand Ahnung haben könnte, was hier abging, dann doch wohl mein Bruder. Er war unglaublich schlau und beschäftigte sich schon seit Kindheitstagen mit den Gegebenheiten des Weltraums.

„Sag mal, du kennst dich doch recht gut aus mit dem Weltraum ...“, fing ich an.

„Ja?“, fragte er neugierig.

Wie sollte ich ihm nur sagen, was hier geschah, ohne dass er mich für völlig verrückt hielt?

„Kannst du dir vorstellen, dass da oben“, ich schaute Richtung Himmel, „noch andere intelligente Wesen wie wir existieren?“

Chris runzelte nachdenklich die Stirn. „Es gibt Trilliarden Sterne im Universum. Die Annahme, wir wären die einzigen intelligenten Wesen, wäre doch ziemlich überheblich.“

Innerlich schrie ich laut auf. Er glaubte an Außerirdische. Vielleicht konnte er mir helfen. „Denkst du, dass sie hier sein könnten, in unserem Sonnensystem? Und ... na ja, Menschen mitnehmen, um sie zu untersuchen?“

Er lachte laut auf, scheinbar belustigt durch meine Aussage. „Warum sollten sie denn so etwas tun? Wenn Aliens tatsächlich die Technologie besitzen, bis hierher zu fliegen, würden sie sich bestimmt nicht mit solch unterentwickelten Wesen wie uns abgeben.“

Ich starrte ihn mit offenem Mund an. Meine Hoffnung löste sich mit einem Mal in nichts auf. Er wusste keinen Grund. Der klügste Mensch, den ich kannte. „Aber was ist mit Star Trek? Was ist mit dem allgemeinen Forscherdrang? Warum sollten Aliens denn nicht genauso denken wie wir?“

„Das ist eine Serie, Lena, nichts weiter“, sagte er und ließ sich auf unser Sofa fallen. „Warum interessiert dich das eigentlich?“

Ich schüttelte den Kopf. „Vergiss es. Ich habe nur überlegt eine ähnliche berufliche Richtung anzusteuern.“

Chris zog überrascht seine Augenbrauen nach oben. „Du? Sind deine Noten denn schon besser geworden?“

Ich schupste ihn zur Seite, so dass er nun auf dem Sofa lag. „Hey, so schlecht bin ich nun auch nicht. Mit einer gewissen Wartezeit, wäre es bestimmt möglich.“

Er fing schallend an zu lachen und zeigte mit dem Finger in meine Richtung. „Du? Ich glaub’s nicht.“

Ich sprang auf ihn drauf und hielt ihm den Mund zu, nun ebenfalls lachend. „Mach dich nicht über mich lustig. Ich meine es ernst.“ Ich verbrachte gerne Zeit mit meinem Bruder und fand es wirklich schade, dass ich ihn nun nur noch selten sah. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, wie kostbar die gemeinsamen Momente mit ihm waren, und dass es schon bald zu Ende sein würde.

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