Kapitel 7: Flucht nach vorn, 2050
FLUCHT NACH VORN
Leipzig, 2050
Angespannt stehe ich vor meinem Kleiderschrank und überlege, was ich in meinen Rucksack packen soll. Wie entscheidet man, welche Dinge von einem Neunundsechzig Jahre langen Leben es wert sind, mitgenommen zu werden? Noch einmal gehe ich meine Liste durch. Hoffentlich habe ich nichts vergessen. Vor Nervosität zwirbele ich mein allmählich immer grauer werdendes Haar. Es ist schon ewig her, seit ich diese Stadt verlassen habe. Aber wenn ich ganz ehrlich bin, hält mich schon lange nichts mehr hier. Was wird mich wohl da draußen erwarten? Und vor allem, was plant mein mysteriöser Besuch? Und warum brauchen sie ausgerechnet mich dafür? Den weißen Overall von ihnen trage ich bereits unter meiner Kleidung. Er fühlt sich an wie eine zweite Haut. Ich habe versucht, mich nicht zu auffällig zu kleiden, aber auch nicht zu unscheinbar, sonst würde ich wirken, als wäre mein Level zu niedrig. Ich entschied mich für ein himmelblau kariertes Schnüren-Kleid aus Polyamid und einer Lachslederhose. Die Kleidung aus recyceltem Material ist zwar teurer, aber Menschen mit höherem Level leisteten sie sich im Normalfall. Tommy habe ich eine Nachricht geschickt, dass etwas dazwischengekommen ist. Er hat bis jetzt nicht darauf geantwortet.
Ich schaue auf die Uhr. Es ist sechs. Langsam wird es dunkel. Ich lege meinen Call Strap auf den Tisch, setze meinen Rucksack auf und gehe durch die Tür in den Flur. Noch einmal schaue ich hinein in meine Wohnung und ziehe zögerlich die Haustür zu. Ein letztes Mal fahre ich mit dem klapprigen Fahrstuhl nach unten. Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Unbemerkt versuche ich zum Leipziger Hauptbahnhof zu gelangen. Die über der Stadt kreisenden Drohnen nehmen keine Notiz von mir. Der Overall scheint tatsächlich zu funktionieren. Ich laufe auf der Straße, um nicht ständig die Fußwegbeleuchtung auszulösen.
Wehmütig betrachte ich das Universitätsklinikum, an dem ich nun vorbeilaufe. Hier habe ich vor über zehn Jahren im Labor als Pathologin gearbeitet und hier endete auch meine Karriere. Meine Kollegin vergaß nach Arbeitsende ihren Computer zu sichern. Ich konnte, wie so häufig, meine Neugier nicht zügeln und schaute mir verschiedene Statistiken über verstorbene Patienten an. Mir fiel auf, dass fast alle Patienten dieselbe Todesursache hatten. Was allerdings noch viel unglaublicher war: Ein großer Teil der Verstorbenen wurde wieder als genesen entlassen. Völlig schockiert ging ich damit zur Klinikleitung und war tatsächlich so naiv zu glauben, es würde die Leute in der Chefetage interessieren. Stattdessen wurde ich entlassen und von Level fünf auf Level drei hinuntergestuft. Natürlich wusste ich zu dem Zeitpunkt schon länger, was hier läuft. Doch mit welcher hohen Intensität die Menschheit reduziert und gleichzeitig ersetzt werden sollte, hat mich dann doch schockiert.
Plötzlich höre ich etwas sehr Seltenes, was mich sofort aus meinen Erinnerungen herausreißt. Aus einem Haus erklingt aus dem offenen Fenster Musik. Mehrere Menschen lachen miteinander. Ich muss automatisch schmunzeln. Das hört man nur noch selten. Es ist schön und erinnert mich an frühere Zeiten. Ich bin nun am Roßplatz angelangt und gehe über die Kreuzung Richtung Bahnhof. Wie angewurzelt bleibe ich stehen und halte die Luft an. Da steht doch tatsächlich ein Einsatzfahrzeug der Sicherheitskräfte genau auf meinem angepeilten Weg. Doch keiner reagiert auf mich: Keine Polizisten, die mir Drohungen entgegenrufen. Es muss einen anderen Grund haben. Schnell laufe ich gegenüber in eine Parkanlage. Hoffentlich hat mich keiner bemerkt. Am Otto-Koch-Denkmal bleibe ich stehen, um Luft zu holen. Angestrengt atme ich ein und aus. Langsam werde ich zu alt für so etwas.
Hinter mir höre ich plötzlich ein wohlbekanntes Summen. Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie sich eine kleine Drohne um mich herum manövriert. Ohne groß darüber nachzudenken schlage ich mit meinem Rucksack auf sie ein. Die Drohne knallt gegen das steinerne Denkmal und zerspringt in mehrere Einzelteile. Nun aber nichts wie weg, bevor jemand die Drohne vermisst. Ich bin nun am Bahnhof angelangt und gehe zur automatischen Tür des Seiteneinganges. Doch zu meiner Überraschung öffnet sie sich nicht. Verdammt, sie erkennt mich nicht – vermutlich aufgrund meines Overalls. Was mache ich denn jetzt? Mehrere Minuten stehe ich wie angewurzelt da und gehe meine Möglichkeiten durch. Ich hätte schon fast aufgegeben, da kommt eine ältere Dame, die scheinbar genau durch diese Tür hindurch will, auf mich zu. Sie legt ein geradezu schneckenartiges Tempo an den Tag, weshalb es für mich ein Leichtes ist, zusammen mit ihr hindurch zu schlüpfen. „Geschafft!“, jubele ich innerlich, als ich endlich drin bin. An den Bahnsteigen stehen ein paar Leute herum, aber sonst ist der Bahnhof leer. Es ist zwar schon ewig her, dass ich Zug gefahren bin, doch ich bezweifle, dass ich als Unsichtbare in einen hineinkommen würde. Ich musste mir etwas anderes ausdenken. Die ältere Dame, welche mir bereits bei der Eingangstür wertvolle Dienste geleistet hatte, tippelt zur Rolltreppe. Ich mustere sie. Diese Frau funktioniert wie ein unglaublich langsamer Türöffner. Wenn ich an ihr dranbleibe, habe ich vielleicht Glück und sie muss zufällig in den gleichen Zug wie ich. Ich fahre mit ihr zusammen die Rolltreppe nach unten. Plötzlich krümmt sich die Frau vor mir zusammen. „Was zu…“ Die alte Schachtel stirbt doch nicht wirklich in dem Moment, wenn ich einen Fluchtversuch unternehme? Ich greife nach ihrem Arm, doch einen Zentimeter bevor ich ihn packen kann, fällt die Frau nach vorne die Rolltreppe hinunter und bleibt am unteren Ende, etwa fünf Meter tiefer liegen. So schnell ich kann, laufe ich nach unten und beuge mich über sie. Hecktisch schaue ich mich nach allen Seiten um. Niemand hat es gesehen. Ich ziehe sie unter die Rolltreppe. Ohne Call Strap kann ich keinen Notruf absetzen. Aber wenn der Call Strap der Alten nicht gesichert ist, könnte ich es damit versuchen. Ich nehme ihn von ihrem Arm. Und tatsächlich, er lässt sich aktivieren. Ich öffne eine Diagnose App. Der Name der Frau wird angezeigt, genauso wie ihre Krankenakte. Da steht: Level fünf! Allmählich bildet sich eine Blutlache unter dem Kopf der Frau. Die Diagnose-App läuft seit einer Minute. Die Vitalfunktionen der Alten sind vollkommen zusammengebrochen. Die Frau ist so gut wie tot. Allerdings habe ich bereits so viele Menschen sterben sehen, dass meine Trauer sich in Grenzen hält. Zumindest durfte sie älter werden als die meisten. Ein Lächeln umspielt allmählich meine Mundwinkel. Etwas Besseres hätte mir eigentlich nicht passieren können. Ihr Call Strap ist mein Ticket in die Freiheit. Ich habe immer geholfen, doch dieses Mal nicht. Heute bin ich dran. Ich schiebe die Frau in die tiefste Nische der Rolltreppe. Umso später man sie findet, umso länger würde ihr Call Strap in Funktion bleiben. Vielleicht schaffe ich es auf diese Art tatsächlich bis an mein Ziel. Ich suche meine Kleidung nach Blutflecken ab. Sehr gut, immer noch wie neu.
Mit einem fröhlichen Grinsen auf dem Gesicht gehe ich zu meinem Bahnsteig. Heute musste mein Glückstag sein. Der Zug wartet bereits auf mich.