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Kapitel 10: Zeitverlust, 1996

ZEITVERLUST

Bitterfeld, 1996

Sie holten mich zwei Tage vor dem Sommerfest ein weiteres Mal. Ich weiß noch, dass ich schrecklich genervt von ihrem schlechten Timing war. Wegen denen würde ich das Sommerfest noch verpassen. Ich hatte mich gerade erst wieder mit Eva versöhnt. Wir wollten zusammen dorthin gehen und wenn ich sie nun versetzen würde, wüsste ich nicht, wie ich mein Fehlen erklären sollte. Ich weiß, ganz schön übertrieben. Immerhin waren es noch zwei Tage bis dahin. Doch ich würde schon sehr bald feststellen, wie berechtigt meine Sorge war.

Sie brachten wieder diesen merkwürdigen, weißhäutigen Jungen zu mir. Zum Glück trug er dieses Mal Kleidung. Doch was er trug sah irgendwie eigenartig aus. Es war eine kurze rote Hose, ein langärmliges, darüber hängendes weißes Hemd und bunte Turnschuhe. Und dann diese angeklatschten schwarzen Haare … schrecklich. Er hatte sich eindeutig selbst zurecht gemacht. Steif kam er auf mich zugelaufen. Er stellte sich vor mich und erwartete scheinbar ein Lob. Doch da war er bei mir an der falschen Adresse. Die hatten mich aus meinem Teenieleben gerissen, nur damit ich einem Pleppo Designtipps gebe? Haben die noch alle?

„Meine Güte, siehst du schrecklich aus“, stellte ich energisch klar. „Hast du mal in den Spiegel geguckt?“

Er schien für einen Augenblick fast schon traurig, weil es mir nicht gefiel. Eigentlich hatte ich angenommen, er hätte gar keine menschlichen Gefühle. War ich vielleicht zu hart zu ihm?

„Ich verstehe nicht, was falsch ist“, äußerte er nun.

Ich holte tief Luft. „Oh Mann. Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Die angeklatschten Haare und dann die kurze Hose ...“

Er unterbrach mich, als wäre er in Eile. „Das weiß ich alles. Ich kann sehen, was du nicht gut findest. Ich verstehe nur nicht, wieso?“ Er musterte mich, als versuchte er in meinen Gedanken eine Antwort zu finden.

„Hör auf damit, in mich hineinzusehen“, fuhr ich ihn wütend an.

Doch er fragte lediglich: „Was sind Trends?“, als hätte er es gar nicht gehört.

Ich musste mich echt zusammenreißen, nicht auszuflippen.

„Die Menschen tragen bestimmte Sachen gerne und wenn jemand dazugehören will, trägt er sie auch“, antworte ich genervt.

„Ich muss dazugehören“, sagte er nickend.

Ich stutze für einen Moment. Muss? Eigenartige Wortwahl … Wieso muss er dazugehören? „Soll ich dir das alles zeigen, damit du zu uns auf die Erde kannst?“, fragte ich misstrauisch.

Er schaute sich nach den grauen Wesen um, die uns unbemerkt beobachteten, und dann sah er wieder zu mir, ohne zu antworten.

„Wie ist eigentlich dein Name?“, fragte ich weiter, als mir klar wurde, dass er auf meine erste Frage nicht antworten würde. Er hatte eine unglaubliche Neugier in mir geweckt. Sein Aussehen und komplette Persönlichkeit waren derart fremd, dass ich unbedingt mehr über ihn erfahren musste.

Er schaute aus der Wäsche, als wüsste er gar nicht, was ich von ihm wollte und schüttelte den Kopf.

„Was? Du hast keinen Namen?“ Ich überlegte einen Moment und ging ganz nah an ihn heran. Vorsichtig streckte ich meine Hand aus und berührte sein Gesicht. Es fühlte sich nicht anders an, als das eines Menschen. Ich betrachtete ihn ganz genau. Er hatte nicht eine einzige Sommersprosse oder Fältchen. Seine Haut wirkte makellos. „Ich nenne dich Tommy“, entschied ich selbstbewusst. Evas Hund trug diesen Namen. Tommy hatte genau die gleichen schwarzen Hundeaugen wie er.

„Ich bin Tommy“, sagte er roboterartig, als hätte ich ihm seinen Namen gerade einprogrammiert. „... aber ... warum heiße ich wie ein Hund?“

Ich musste unwillkürlich lachen, ohne ihm wirklich zu antworten. „Du bist echt schräg.“

Tommy stellte den Kopf schief, als wolle er überprüfen, ob seine Haltung tatsächlich gerade war. „Nein.“

Ich lachte abermals amüsiert auf und schlug ihm mit der Hand auf den Rücken. „Und auch noch witzig.“

Tommy verzog keine Miene. Er verstand ganz offenbar nicht, was ich so witzig fand. Dann schaute er wieder zu den grauen Wesen hinüber. „Du sollst mir die Schrift erklären.“

Ich schaute ihn verblüfft an und dann fuhr mein Blick zum Tisch an der Wand. Dort lag ein Block mit einem Bleistift. „Nicht dein Ernst? Ich würde mich viel lieber weiter mit dir unterhalten.“

Das war meine Chance. Beim letzten Mal war ich viel zu abgelenkt von seiner Nacktheit, um Fragen zu stellen. Und dann brachten sie ihn einfach weg. Doch nun wollten sie noch etwas von mir. Wegbringen würden sie ihn also nicht.

„Warum willst du unbedingt auf unseren Planeten? Ist euer nicht schön?“

Er schaute mich lediglich verunsichert an. „Ich weiß nicht.“

„Du weißt nicht; wie euer Planet aussieht? Warst du überhaupt schon mal draußen?“

Plötzlich durchfuhr mich eine Schmerzwelle. Mein ganzer Körper krümmte sich zusammen und ich fiel auf die Knie. In meinen Kopf wurde gesendet, dass ich aufhören soll. Bilder durchfluteten mich … Ich sah ein Atomkraftwerk, welches in sich zusammenbrach … verbrannte Menschen, die um ihr Leben rannten … eine Frau, die an der Strahlenkrankheit elendig zugrunde ging. Ich schaute mit schmerzverzerrter Miene zu den beiden Grauen. Sie waren das. Es gefiel ihnen nicht, dass ich so viele Fragen stellte. Warum nur schickten sie mir diese Bilder?

Tommy kam auf mich zu und streckte seine Hand aus. „Wir sollten jetzt zum Tisch gehen.“

Ich nahm seine Hand und ließ mich von ihm hochziehen. Schwach war er nicht. Es schien für ihn ein Leichtes zu sein. Als ich wieder auf den Beinen stand, schwankte ich merklich. Ich war noch ziemlich benebelt von dem Angriff auf meine Psyche. Vorsichtig berührte mich Tommy unter dem Arm. Ich glaube, er wollte mir beim Gehen helfen, wusste aber nicht, wie. Es war, als hätte er Angst, mir wehzutun, wenn er mich berührte. Oder er testete erst aus, ob es für mich okay war. Er las doch tatsächlich schon wieder meine Gedanken, obwohl ich ihm mehr als deutlich gemacht hatte, dass es mir unangenehm war. Wir setzten uns an den Tisch. Wütend funkelte ich die grauen Wesen an. Ich war doch nicht ihr Eigentum.

Dann begann ich, Tommy das Schreiben beizubringen. Er lernte recht schnell. Probleme hatte er nur mit den unlogischen Schreibweisen der Wörter.

„Aber warum wird das Wort mit Doppel-s geschrieben? Es hört sich doch genauso an wie das andere“, fragte er verwirrt.

Ich schlug die Hände über dem Kopf zusammen und ließ ihn auf den Tisch fallen. „Glaub mir. Es gibt da keine Logik. Die Rechtschreibung wird ständig geändert.“

„Aber wie wisst ihr, welche Rechtschreibung aktuell ist?“

Ich lachte auf. „Keiner weiß das. Meine Oma hat eine andere Rechtschreibung als meine Mutter und ich lerne wieder eine andere. Menschen sind eben nicht logisch.“

Ich blickte zu Tommy auf. Er wirkte genauso geschafft wie ich. Für mich war es schon total anstrengend, ihm das alles beizubringen. Wie musste es ihm erst gehen, der so viel Neues lernen musste. Es mussten mittlerweile etliche Stunden vergangen sein.

Ich schaute zu den Grauen hinüber und dann wieder zu Tommy. Nun beugte ich mich ganz nah zu ihm heran und flüsterte: „Was wollt ihr von uns?“

Tommy sagte keinen Ton und als ich einen leichten Blick nach links riskierte, stand da plötzlich einer der Grauen neben uns. Ich erschrak und fuhr schlagartig nach hinten, jeden Moment damit rechnend, die volle Wucht seiner Macht zu spüren zu bekommen. Doch es geschah nichts, stattdessen gab er mir zu verstehen, dass alles gut werden wird und ich keine Fragen mehr stellen soll.

Ich erwachte mit hämmernden Kopfschmerzen auf meinem Schlafzimmerfußboden.

Angestrengt stemmte ich mich nach oben. Diese grauen Ungetüme ... Sie hatten mein Hirn massakriert.

Es klopfte an der Tür. „Lena? Ich bin es. Kann ich reinkommen?“, erklang die besorgte Stimme meiner Oma.

Zunächst musterte ich mein Erscheinungsbild in dem Spiegel an meinem Kleiderschrank. Doch es schien alles in Ordnung zu sein. Ich trug immer noch dieselbe Kleidung. Lediglich meine Haare waren etwas zerzaust. „Ja, komm rein.“

Sie betrat mein Zimmer. In den Händen hielt sie eine Schmuckschatulle.

Stimmt! In dem Moment fiel es mir ein. Ich hatte sie gefragt, ob sie mir Schmuck für das Sommerfest leiht. Meine Oma trug gerne Schmuck und hatte einen Haufen davon, überhaupt war sie eine sehr stilbewusste Frau. Während meine Mutti jegliche Art von Schnickschnack kategorisch ablehnte.

Mich genau von oben bis unten musternd, zog meine Oma die Stirn in Falten. „Was ist passiert?“

Passiert? Was meinte sie damit? Wie konnte sie wissen, dass irgendetwas geschehen war? „Äh, wieso?“, fragte ich zunächst einmal, noch gar nicht so recht wissend, wie viel ich ihr erzählen sollte.

„Wir waren gestern verabredet und als ich zu dir wollte, waren deine Eltern ganz eigenartig.“

Eigenartig? Gestern? Oh, mein Gott! „Welcher Tag ist heute?“, fragte ich, bereits ahnend, dass die Antwort mir definitiv nicht gefallen wird.

Nun rang meine Oma gänzlich um Fassung. „Es ist Samstag. In drei Stunden beginnt das Sommerfest. Waren die das?“

Meine Kinnlade klappte herunter. Zwei Tage? Das war doch nicht möglich. Ich erinnerte mich genau, dass ich nicht länger als einen Tag bei ihnen war. War ich doch länger bei ihnen und wusste es nicht? „Ja, aber … wieso? Was war mit meinen Eltern?“, stotterte ich. Wie konnte es sein, dass mein Verschwinden von niemandem bemerkt worden war?

„Sie sagten, du seist auf Reisen und als ich fragte, wohin, erklärten sie wie selbstverständlich, dass sie es nicht wüssten. Ich bin bald wahnsinnig geworden vor Angst. Was war eigentlich los? Kannst du dich an etwas erinnern?“

Meine Oma setzte sich, mich voller Erwartung anschauend, auf mein Bett. Jetzt musste ich es ihr erzählen. Warum auch eigentlich nicht? Sie war die Einzige mit der ich darüber sprechen konnte. Und doch … irgendwie war es mir peinlich. Obwohl sie mich gegen meinen Willen entführt hatten, mochte ich diesen Jungen. Abgesehen von diesem winzigen Detail erzählte ich ihr alles. Die Erlebnisse sprudelten aus mir heraus wie ein nicht enden wollender Geysir. Und dann … dann war ich unglaublich erleichtert. Es hatte sich so lange in mir aufgestaut.

Ich schaute meine Oma mit erleichtertem Gesichtsausdruck an, doch sie wirkte alles andere als erfreut.

Als sie endlich antwortete, schwang doch tatsächlich so etwas wie Vorwurf in ihrer Stimme mit: „Du hast diese Wesen angelernt? Wie konntest du das nur tun?“

Mit großen Augen starrte ich sie an. Soll das ein Scherz sein? „Du verstehst das nicht. Sie haben mir gar keine Wahl gelassen. Und dieser Junge … er wirkte überhaupt nicht gefährlich. Im Gegenteil. Er war sogar ganz süß.“

Oh nein, blöde Wortwahl. Doch als ich sah, wie sich das Gesicht meiner Oma langsam rot färbte, war es bereits zu spät.

Wütend schrie sie mich an: „Süß? Diese Monster haben dich aufgeschnitten und wer weiß, was für Sachen mit dir gemacht. Die entführen Menschen und du findest das süß? Verdammt, die haben dich genauso manipuliert wie deine Eltern. Wir müssen schleunigst zu Dr. Müller.“

„Nein. Auf keinen Fall. Ich wurde nicht manipuliert. Ich erinnere mich an alles.“ Ich sprang auf und rannte zu meinem Kleiderschrank. „Und jetzt geh! Ich muss mich für das Fest fertig machen.“

„Wie kannst du jetzt nur an dieses blöde Fest denken? Die benutzen dich, um ihre Zöglinge auszubilden, und wir wissen nicht mal, warum. Die könnten etwas Schreckliches planen.“

Genervt schnaufte ich auf. „Ja, ja, ganz schrecklich. Ich soll 'nem Jungen erklären, wie er sich anzieht. Schlimmer geht es nicht“, erwiderte ich sarkastisch.

Die Gesichtszüge meiner Oma wurden langsam wieder weicher. Wahrscheinlich hatte sie erkannt, dass gegen einen sturen, zornigen Teenager nur schwer anzukommen war. „Du weißt, ich will nur das Beste für dich. Ich will nur, dass du vorsichtig bist. Lass dich nicht von ihnen einwickeln.“

Dann ging sie aus dem Zimmer und ließ mich nachdenklich zurück. Hatte sie recht? Wurde ich manipuliert? Immerhin war ich offensichtlich zwei Tage bei ihnen gewesen, erinnerte mich aber nur an einen. Das war äußerst beunruhigend.

Ich war auf dem Fest angekommen. Es war bereits in vollem Gange. Natürlich, ich war ja auch eine geschlagene Stunde zu spät. Zögerlich schaute ich mich nach Eva um. Sicher war sie sauer auf mich. Doch ich konnte sie nirgends entdecken.

Ich durchstreifte den ganzen Saal, doch nirgends eine Spur von ihr.

Am Buffet stand Sandor, blöde grinsend, zusammen mit drei Jungen aus seiner Klicke.

Widerwillig ging ich zu ihm. Wenn Eva sich an jemandes Fersen geheftet hatte, während ich weg war, dann an seine.

„Hey, habt ihr zufällig Eva gesehen?“

Die drei Jungen fingen an zu lachen. Was war bitte an der Frage derart witzig?

Sandor hingegen musterte mich mit einem derart teuflischen Grinsen auf dem Gesicht, dass ich für einen Moment die Luft anhielt. „Ich vermute, sie ist auf der Toilette.“

Was? So lange? Irgendetwas musste passiert sein.

„Äh, danke“, rief ich über die Schulter, mich bereits in Richtung Toilette bewegend. Und als ich die Mädchentoilette betrat, hörte ich auch bereits ihr Schluchzen.

„Eva?“ Die zweite Toilettentür von links sprang auf und eine vollkommen verheulte Eva kam zum Vorschein.

„Wo warst du denn so lange?“, fragte sie gequält.

Ich ging zu ihr und nahm sie in den Arm. „Was ist denn nur passiert?“

Nachdem sich Eva wieder einigermaßen beruhigt hatte, antwortete sie: „Er hat gesagt, er findet mich langweilig. Mich! Kannst du dir das vorstellen? Ich bin doch nun alles andere als das.“

„Was? Wer …“, begann ich, doch dann wurde es mir klar. Als ich nicht kam, muss sie Sandor angesprochen haben und dieses Arschloch hat ihr eine Abfuhr erteilt. „Dieser dämliche … Nein, glaub ihm bloß nicht. Der hat doch gar keine Ahnung. Er ist ein Idiot.“

Zu meiner Überraschung widersprach Eva dieses Mal nicht, sondern nickte. „Ja, du hattest recht.“

„Genau, er hat dich gar nicht verdient“, versuchte ich sie aufzubauen und es funktionierte.

Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und präsentierte wieder ihr typisches, optimistisches Eva-Lächeln.

„Erklärst du mir, warum es gerade er sein musste?“, fragte ich, ehrlich interessiert. Außer dass er einigermaßen gut aussah, konnte ich beim besten Willen nichts Besonderes an dem Kerl entdecken.

Eva schien in Erinnerungen zu schwelgen. „Weißt du, es ist eine gefühlte Ewigkeit her … Irgendwann in der Grundschule, da waren unsere Eltern befreundet. Wir spielten damals ständig zusammen und er war so lieb zu mir ...“

„Echt jetzt?“, fragte ich, mehr als überrascht. Die beiden haben miteinander gespielt?

Eva nickte, während sich nun wieder ein trauriger Schatten auf ihr Gesicht geschlichen hatte. Verdammt, hoffentlich mache ich es gerade nicht noch schlimmer.

„Was war passiert?“

Sie zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht. Irgendwann trafen sich unsere Eltern einfach nicht mehr und Sandor spielte nicht mehr mit mir. Meine Eltern wollten mir nicht sagen, was geschehen war. Ich vermute, seine Eltern haben sich einfach getrennt.“

Das ist alles? „Buhuuuu, nur weil Mami und Papi sich nicht mehr liebhaben, gibt ihm das noch lange nicht das Recht, auf anderen herumzutrampeln“, rief ich wütend.

Offenbar ließ sich Eva von mir anstecken, denn sie stand ebenfalls auf und erklärte selbstbewusst: „Der kann uns mal. Wir gehen jetzt raus und zeigen ihm, wie egal er uns ist.“

Ich lächelte sie freudig an. „Das ist meine Eva.“

Wir hatten an diesem Abend noch unglaublich viel Spaß. Ich erinnere mich immer wieder gerne daran. Leider gehören solche Feste nun der Vergangenheit an.

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