Bibliothek
Deutsch
Kapitel
Einstellungen

Kapitel 5: In der Falle, 2050/ Unheilvolles Prickeln, 1993

IN DER FALLE

Leipzig, 2050

Ich habe es mir auf meinem Bett bequem gemacht. An der Wand vor mir sind mehrere holografische Apps geöffnet. In einer davon verfolge ich die neusten Nachrichten der WSA und in einer anderen beobachte ich mein Postfach. Ich muss unbedingt herausfinden, wie die Lebensmittellieferungen zu mir kommen. Denn nur dann kann ich denjenigen kontaktieren und fragen, wieso er mir hilft.Seit nunmehr drei Stunden sitze ich bereits hier. Verdammt, hoffentlich ist die Warterei nicht umsonst. Immerhin hat Tommy gesagt, ich soll abhauen.

Ich höre den Nachrichtensprecher, der sagt, dass es wieder einen wirtschaftlichen Aufschwung gibt. Ich verdrehe genervt die Augen, während ich mir einen Schluck aus meinem Thermobecher genehmige. „Ja klar, wer es glaubt, wird selig.“

Noch während ich mich aufrege, fährt der Nachrichtensprecher fort: „Die Verhandlungen waren erfolgreich. Die World Star Alliance (WSA) hat Russland soeben zur Gemeinschaft hinzugefügt.“ Ich schüttle entgeistert den Kopf. Das darf nicht wahr sein. Die werden einfach immer größer. Die Länder werden wirtschaftlich dermaßen unter Druck gesetzt, dass ihnen am Ende keine Wahl mehr bleibt. Die Postfach-App, welche ich die ganze Zeit über im Blick habe, flackert kurz auf und ist im nächsten Moment verschwunden. „Was zum …?“, frage ich verwirrt, während ich hecktisch auf der Konsole meines Nachttisches herum drücke. Das kann kein Zufall sein. Die anderen Apps funktionieren ja offensichtlich. Schnurstracks begebe ich mich zum Fenster und schaue hinaus. In etwa zweihundert Meter Entfernung sieht man die Poststation. Es ist ein kleines Gebäude von ungefähr sechs mal sechs Metern. Es fliegen keine Gepäckdrohnen über dem Gebäude und auch Fahrzeuge sind keine zu sehen. Ist es womöglich doch nur ein Zufall, dass die App ausgefallen ist? Doch irgendetwas ist anders. Irgendwie scheint die Luft über dem Gebäude unnatürlich zu flimmern, etwa so wie bei starker Hitze. Doch dann, mit einem Mal, ist das Flimmern wieder verschwunden. Habe ich mir das eingebildet? Mein Kopf fährt zu den Apps herum. Das kann doch nicht ...

Ungläubig starre ich auf die Postfach-App, welche plötzlich wieder an meiner Zimmerwand prangt. Ein großes und ein kleines Paket liegen nun darin. Haben die vielleicht wieder eine neue Technologie, um Post zu transportieren?

Zügig werfe ich mir meinen weinroten Cardigan über und mache mich auf den Weg zur Packstation. Ich bin schon fast an dem Gebäude angekommen, als mir mehrere, darüber kreisende Sicherheitsdrohnen auffallen. Oh nein, was passiert hier? Angst macht sich nun in mir breit und bringt mich unweigerlich zum Stehen. Ich drehe ruckartig um und will wieder zurücklaufen. Vielleicht ist es noch nicht zu spät.

„Legen Sie sich auf den Boden“, ertönt es im selben Moment, ohrenbetäubend laut, aus allen Richtungen. Mehrere Polizisten kesseln mich von allen Seiten ein. Scheiße, das war‘s. Ich bin geliefert.

„Was habe ich getan?“, frage ich ängstlich. Und das ist nicht einmal gelogen. Ich weiß es wirklich nicht. Haben sie vielleicht herausbekommen, dass ich Lebensmittel bekomme, und wollen jetzt wissen, von wem?

Die Polizisten antworten nicht, stattdessen sagen sie erneut in bedrohlichem Tonfall: „Legen Sie sich auf den Boden!“ Ich habe keinen Zweifel daran, dass sie mich tasern werden, wenn ich es nicht tue. Also begebe ich mich ganz langsam auf die Knie in Richtung Erdboden.

Jetzt nehmen sie mich gefangen und stecken mich in eines ihrer Umerziehungslager.

Die pure Panik erfasst mich. Schwer atmend, schaue ich nach unten und warte auf das, was jetzt geschehen wird.

Doch es passiert nichts. Es ist totenstill um mich herum. Ich schaue vorsichtig auf.

Niemand bewegt sich. Sie wirken wie erstarrt.

Ich will gerade aufstehen, um mir das etwas genauer anzuschauen, als plötzlich alles um mich herum schwarz wird. „Also doch eine neue Technik …“, ist das Letzte, was ich denke, bevor ich in Ohnmacht falle.

UNHEILVOLLES PRICKELN

Bitterfeld, 1993

Mein Leben ging zunächst völlig normal weiter. Na ja, jedenfalls so, wie es vermutlich vielen Familien in dieser Zeit erging. Meine Eltern schimpften sehr oft und wünschten sich ihr Leben zurück, bevor die Mauer fiel. Ich konnte ihre Sorgen zu der Zeit nur sehr schwer nachvollziehen. Für mich war es einfach nur toll und aufregend. Mein Vater musste sein Geschäft, in welchem er vor der Wende gearbeitet hatte, schließen. Nachdem er ein Jahr zu Hause war, fing er an der Polizeischule in Aschersleben an. Leider war er nicht mehr oft zu Hause, aber ich war dennoch total stolz auf ihn. Mein Papa würde Polizist sein. Meine Mutti arbeitete immer noch im Rathaus, wurde allerdings ins Pass- und Meldewesen versetzt. Es hörte sich schon etwas langweilig an, aber ich glaubte, nach einer Weile gewöhnte sie sich daran. Mein Bruder Chris war mittlerweile ausgezogen, um an der Universität in Tübingen Astrophysik zu studieren. Ihn als kleines Genie zu bezeichnen ist, glaube ich, nicht übertrieben. An meiner Wand hängen Poster von der Band Take That, während bei ihm in meinem Alter ein Bild von Albert Einstein hing. Oft machte ich mich über die Strebsamkeit meines Bruders lustig, doch eigentlich bewunderte ich ihn. Ich wäre gerne genauso. Ein Ziel vor Augen, dass man mit allen Mitteln erreichen wollte. Ich hatte zwar ebenfalls nicht gerade schlechte Noten in der Schule, jedoch hatte ich nichts, was mich speziell begeistern würde. Ich war lediglich gut im Auswendiglernen. Gerade jetzt saß ich wieder an meinem Tisch im Klassenraum und träumte vor mich hin, während meine Geschichtslehrerin irgendetwas erzählte. „Ach egal. Ich leihe mir nachher einfach die Notizen meiner Freundin Eva aus“, dachte ich. Die Pausenklingel ertönte. Gott sei Dank! Mein Kopf fiel, umklammert von meinen Armen, auf den Tisch hinab. Ich hörte die Jungen am Nachbartisch über die neuste „Star Trek: The Next Generation“-Folge reden. Sandor, von den Jungen einer der beliebtesten, versuchte gerade wieder alle Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Er warf sich mit seiner blonden Geltolle dramatisch in Szene und spielte eine Borg-Drohne nach. „Widerstand ist zwecklos! Sie werden assimiliert werden!“

Ich lachte kurz auf und sagte: „So etwas tun Aliens nicht.“

Schlagartig waren alle Blicke auf mich gerichtet, auch Sandors. Er schien nicht erfreut darüber, dass ich seine Show unterbrochen hatte. „Woher willst du das denn wissen?“

Ohne groß darüber nachzudenken antwortete ich: „Weil ich selbst schon von Außerirdischen entführt wurde.“

In dem Moment brach schallendes Gelächter im Klassenraum aus. „Ich wusste gar nicht, dass ich mit einer Verrückten in eine Klasse gehe“, entgegnete Sandor abschätzig grinsend.

Meine großen blauen Augen füllten sich langsam mit Tränen. Ich musste hier raus. Warum hatte ich das auch gesagt? Ich war so blöd. Ohne eine Erwiderung rannte ich aus dem Klassenraum. Seit diesem Tag wurde ich nur noch Alien-Mädchen genannt. Dieses Erlebnis ließ mich vorsichtiger werden, wem ich etwas erzählte. Zu dem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, dass die Aliens mich schon bald wieder holen würden.

Es geschah in der Nacht, in der mein Opa starb. Er war schon seit Längerem sehr krank und lebte bereits seit einem Jahr im Pflegeheim. Meine Mutter und meine Oma waren bei ihm. Da Chris an der Universität und mein Vater an der Polizeischule waren, war ich in dieser Nacht allein Zuhause. Das war eigentlich kein Problem für mich. Ich war bereits zwölf Jahre alt und kam eigentlich schon ganz gut allein zurecht. Das Einschlafen fiel mir nicht einmal schwer, obwohl ich durchaus wusste, dass mein Opa in dieser Nacht sterben könnte.

Ich wurde von einem unglaublich lauten, kettensägenartigen Geräusch geweckt. Als ich auf die Uhr sah, bemerkte ich, dass es gerade einmal zwei Uhr nachts war. Die Luft fühlte sich irgendwie elektrisiert an. Ich ging hinaus in den Vorgarten. Anscheinend war ich die einzige Person, die sich davon gestört fühlte, denn niemand sonst ging nach draußen. Es waren auch alle Lichter in den Fenstern aus. Was war das nur für ein Krach? Ich versuchte, mich auf das Geräusch zu konzentrieren. Nein, eine Kettensäge war es nicht. Es hörte sich viel mehr wie ein lautes Vibrieren an.

Dann wurde es mit einem Mal hell, als hätte jemand ein Flutlicht auf mich gerichtet. Mein ganzer Körper fing an zu kribbeln. Es fühlte sich ein wenig an, als würde ich schweben.

Und bevor ich mich versah, war es Tag. Ich hatte hämmernde Kopfschmerzen und fasste mich an die Stirn. Menschen tummelten sich auf den Gehwegen und Autos fuhren vorbei. Verwirrt schaute ich mich um. Was war passiert? Wo ist die Zeit hin? Ich schaute an mir herunter, vermutend, dass ich immer noch ein Nachthemd tragen würde. Doch ich trug ein mir völlig unbekanntes blaues Sommerkleid, obwohl es gerade einmal März war. Außerdem fiel mir eine dunkle Stelle auf dem Rasen unseres Vorgartens auf. Ich lief zu der Stelle und betrachtete sie. Es sah aus, als wäre der Rasen kreisförmig verbrannt worden. Ich bekam sogleich eine Gänsehaut. Abgesehen von den vorbeilaufenden Menschen war es unglaublich still. Normalerweise wimmelte es in unserem, aus drei Bäumen bestehenden Vorgarten von Vögeln. Es zirpte und zwitscherte hier in einer Tour. Doch jetzt konnte ich nicht einen Vogel entdecken. Komplett verwirrt, ging ich durch die Eingangstür meines Hauses. Meine Mutti und meine Oma saßen am Esszimmertisch und schauten sogleich in meine Richtung, als ich eintrat.

„Hallo mein Schatz, wie war es in der Schule?“, fragte meine Mutter, ohne den Funken eines Lächelns auf dem Gesicht.

Ich schaute sie nur verdutzt an. Wie spät war es denn bereits? Ich verstand gar nichts mehr.

Meine Oma runzelte die Stirn und musterte mich besorgt. Sie hatte sofort bemerkt, dass etwas nicht stimmte. Kein Wunder. Ich trug ja nicht einmal einen Schulranzen.

Meine Mutter jedoch hatte im Moment scheinbar anderes im Kopf und stand auf. „Ich lass euch allein“, sagte sie zerknirscht.

Nun war es mir klar. Mein Opa war gestorben. Die Augen meiner Oma waren rot unterlaufen, als wenn sie gerade geweint hätte. Traurig äußerte sie: „Dein Opa ist gestern Abend eingeschlafen.“

Ich nahm meine Oma in den Arm und schluchzte: „Das tut mir leid, Oma.“

Langsam löste sie sich von mir und musterte mich besorgt. „Ist mit dir alles okay?“

Ich war drauf und dran, ihr alles zu erzählen, fieberte geradezu danach. Doch als ich in die verheulten Augen meiner Oma sah, bekam ich plötzlich Hemmungen. Sie hatte definitiv momentan genug um die Ohren. Ich wollte sie nicht auch noch mit meinen Problemen belasten. Jetzt musste sie die Trauerfeier organisieren. Hätte ich ihr erzählt, dass die grauen Monster wieder da waren, würde sie sofort mit mir zu Dr. Müller fahren wollen.

Also sagte ich lediglich: „Es geht mir gut. Ich habe nur schlecht geschlafen.“ Wahrscheinlich hätte ich ihr lieber davon erzählen sollen, denn es dauerte nicht lange bis sie wiederkamen.

La Palma, 1993

In den Sommerferien hatten wir einen Urlaub nach La Palma geplant. Da meine Oma trauerte und wir sie aufheitern wollten, nahmen wir sie mit dorthin. Wir hatten ein großes Familienzimmer im Sol Hotel gebucht. Meine Oma war noch nie so weit weg von Zuhause gewesen, da mein Opa Flugangst gehabt hatte. Es war ihr anzusehen, wie sehr sie die Landschaft und Menschen faszinierten. Sie war schon immer ein sehr neugieriger und interessierter Mensch gewesen. Das mochte ich so an ihr.

Nach dem Abendessen machten wir alle zusammen einen Verdauungsspaziergang am schwarzen Sandstrand von Poerto Naos.

„Wir müssen unbedingt eine Schluchtenwanderung machen. Damals bei unserem Urlaub im Elbsandsteingebirge, hat das am meisten Spaß gemacht“, rief ich euphorisch.

Meine Mutter lachte belustigt auf: „Das weißt du noch? Du warst doch gerade einmal fünf Jahre alt.“

Ich lachte vergnügt. „Natürlich. Und außerdem habe ich genug Fotos gesehen, um zu wissen, dass es toll war.“

Mein Vater blieb plötzlich stehen und schaute nach oben. „Das ist der perfekte Platz. Der Himmel ist heute unglaublich klar. Erinnerst du dich, Lena? Beim letzten Mal hast du es geliebt, mit uns im Sand zu liegen und die Sterne zu beobachten.“

„Mmmh“, antwortete ich, ebenfalls in den Himmel blickend.

Das stimmte, ich hatte es wirklich geliebt. Doch heute bekam ich aus irgendeinem Grund eine Gänsehaut, als ich nach oben schaute. Dieses Gefühl … es war das gleiche wie in der Nacht, als mein Opa starb. Ich verspürte ein merkwürdiges Prickeln auf der Haut und die Luft schien wie elektrisiert.

Dennoch setzte ich mich zusammen mit meiner Oma und meinen Eltern in den Sand.

Neugierig schaute ich hinüber zu meiner Oma. Sie runzelte die Stirn und wirkte ebenfalls nicht wirklich entspannt. Hatte sie vielleicht ein ähnlich mulmiges Gefühl?

„Schaut mal, wie hell der da ist“, rief mein Vater.

Ich sah, was er meinte. Es war ein Stern, welcher viel heller war als alle anderen.

Und irgendwie schien er von Sekunde zu Sekunde heller zu werden. Und …

Das war doch nicht möglich. Er schien auch immer größer zu werden.

„Ich glaube nicht, dass das ein Stern ist“, murmelte meine Oma ängstlich. Sie hatte recht. Das war niemals ein Stern. Es wurde immer heller …

Ich erwachte völlig geschafft im Sand. Wieso habe ich im Sand geschlafen? Verwirrt schaute ich mich um. Meine Eltern und meine Oma lagen schlafend neben mir. Was war geschehen?

Stimmt ... Da war ein Stern. Nein, kein Stern …

Da war ein heller Raum mit … Ich weiß es nicht mehr.

„Was ist passiert?“, hörte ich meine Mutter sagen. Sie und mein Vater waren ebenfalls erwacht.

Mein Vater schaute auf seine Armbanduhr und dann ungläubig zu meiner Mutter: „Wir sitzen seit zwei Stunden hier? Wie kann das sein? Wir sind doch gerade erst gekommen.“

Meine Mutti zuckte mit den Schultern. „Vielleicht der Wein. Der hat uns müde gemacht.“

Meine Augenbrauen wanderten nach oben. Das war kein besonders überzeugender Grund. Meine Oma und ich hatten keinen Wein getrunken und dennoch sind wir eingeschlafen. Ich hatte auch ganz und gar nicht das Gefühl, geschlafen zu haben, im Gegenteil: Ich fühlte mich wie gerädert.

Wir gingen wieder zurück zum Hotel und legten uns in unsere Betten. Doch obwohl ich unglaublich müde war, lag ich wach im Bett und starrte an die Zimmerdecke. Irgendwie musste es doch möglich sein, sich zu erinnern, was passiert war. Es knackste an der Tür. Ich fuhr erschrocken hoch, erwartete alles Mögliche, was gleich geschehen könnte.

Doch es war meine Oma, die vorsichtig durch den Türspalt blickte. „Kannst du auch nicht schlafen?“, fragte sie vorsichtig.

„Ja“, antwortete ich, völlig steif im Bett sitzend.

Sie setzte sich neben mich und schien alles andere als gefasst. Trauerte sie vielleicht um meinen Opa? „Sie haben uns geholt und ich kann mich daran erinnern …“, begann sie verängstigt zu erzählen.

Oh, mein Gott, es ging tatsächlich um das Erlebnis von vorhin.

„Sie brauchen dich, für das, was sie vorhaben. Sie gaben mir zu verstehen, dass ich nichts tun kann. Du wurdest aus dem Raum gebracht. Ich konnte mich nicht bewegen.“

Was, sie brauchten mich? Wofür? „Wie konnten sie uns denn hier finden?“, fragte ich aufgebracht.

Meine Oma schaute mich nur an, scheinbar unfähig, etwas zu erwidern. Dann brach sie auf einmal in Tränen aus und schluchzte: „Ich verspreche dir, es herauszufinden.“

Ich streichelte ihren Arm und versuchte, sie zu trösten, obwohl ich in diesem Moment genau so große Angst verspürte wie sie.

Laden Sie die App herunter, um die Belohnung zu erhalten
Scannen Sie den QR-Code, um die Hinovel-App herunterzuladen.