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Kapitel 4: Graue Monster, 1990

GRAUE MONSTER

Leipzig, 1990

Ich saß im Wartezimmer eines Psychologen gemeinsam mit meinen Eltern. Dieser Psychologe hatte in Ostdeutschland die meiste Erfahrung in Sachen Kinderpsychologie. Seinen Namen weiß ich nicht mehr. Ich weiß nur noch, dass er mir nicht helfen konnte.

Zu Beginn waren meine Eltern nicht sehr begeistert von der Idee meiner Oma. Nachdem ich sie jedoch anflehte, ließen sie sich schließlich breitschlagen. Hätten sie gewusst, dass der Psychologe mit ihnen mehr Gespräche führen würde als mit mir, hätten sie es sich vermutlich noch einmal anders überlegt. Nervös sah ich mich in dem Warteraum um. Er besaß sogar eine kleine Spielecke. Doch ich hatte mittlerweile jegliche Spiele durchgespielt. Vor einem Jahr hatte ich noch geglaubt, ich ginge ein paar Mal hierher und schon sei alles wieder gut. Aber da war ich auf dem Holzweg. Die Albträume wurden nämlich ganz und gar nicht weniger, im Gegenteil. Ich bekam das Gefühl, umso mehr ich mich mit dem Thema auseinandersetzte, desto schlimmer wurde es. Ich wartete ein halbes Jahr, bis ich einen Termin bei diesem Doktor mit den schielenden Augen bekam. Danach wurde mir lediglich gesagt, ich solle ein Traumtagebuch führen. Mit ihm sprechen konnte ich nur einmal alle vierzehn Tage für eine Stunde und das seit ungefähr einem Jahr. Na ja, Sprechen war zu viel gesagt. Meistens malte ich ihm Bilder von meinen Erlebnissen. Mein Name ertönte aus dem Lautsprecher. Zögernd stand ich auf und begab mich zusammen mit meinen Eltern ins Sprechzimmer. Das war merkwürdig. Es war schon länger her, dass wir alle gemeinsam ins Sprechzimmer sollten. Normalerweise wollte er uns immer nur getrennt sehen. Der Schieledoktor saß an seinem Schreibtisch, lächelte uns freundlich an und bedeutete mit einer Handbewegung, dass wir uns setzen sollten. Als Erstes sprach er mit mir: „Lena, wie geht es dir? Hast du denn bislang eine Verbesserung bei deinen Albträumen feststellen können?“ Mit fragendem Blick schüttelte ich den Kopf. Sofort schwang seine Aufmerksamkeit von mir weg, in Richtung meiner Eltern. „Ich befürchte, die Ursache ihrer Albträume liegt tief verborgen in ihrer Vergangenheit. Ihr Unterbewusstsein zwingt sie dazu. Leider habe ich es nicht geschafft zu ergründen, wo das Ereignis liegt. Ich habe ganz offensichtlich daran gekratzt. Denn ihre Albträume wurden schlimmer. Genau aus dem Grund dürfen wir jetzt auch nicht aufhören.“ Der Doktor gab meinen Eltern eine Karte. „Dr. Müller ist der führende Spezialist im deutschen Raum, was Hypnose betrifft.“

Meine Eltern schauten ihn entgeistert an. „Sie wollen meine Tochter zu einem Scharlatan schicken?“, fragte mein Vater säuerlich.

Der Doktor seufzte. „Irgendetwas ist mit ihrer Tochter geschehen. Ich nehme an, sie will sich überhaupt nicht daran erinnern. Sie wehrt sich dagegen. Also müssen wir irgendwie versuchen, die Erinnerung ans Tageslicht zu befördern. Nur so werden die Albträume verschwinden.“

Ich hatte die ganze Zeit über aufmerksam zugehört und kein Wort gesagt, doch nun musste ich es einfach tun. „Ich will es“, rief ich dem Doktor aufgeregt entgegen. Ich wollte unbedingt diese Albträume loswerden ... unbedingt.

Meine Eltern starrten mich nachdenklich an. „Wir denken darüber nach“, sagte meine Mutter nun, stand bereits wieder auf und begab sich in Richtung Ausgang.

Was war es, das ich vergessen hatte? Und würde ich es je erfahren ohne dieses Hypnozeugs?

Als ich dann am Abend schlaflos in meinem Bett lag, hörte ich sie streiten. Scheinbar war meine Oma zu Besuch gekommen. Neugierig tippelte ich zu meiner Zimmertür und lauschte.

„Das ist in Westdeutschland“, schrie meine Mutter aufgebracht. „Wie stellst du dir das vor? Und außerdem werden diese Kosten nicht einmal von der Krankenkasse getragen.“

Meine Oma schnaufte genervt auf. „Dann fahre ich eben mit Lena nach Westdeutschland und bezahlen werde ich es ebenfalls. Hauptsache es geht ihr endlich besser.“

Nun mischte sich mein Vater ein: „Es ging ihr blendend bis zu dem Moment, als du sie zu diesem Psychologen geschleppt hast.“

„Bin ich jetzt etwa schuld an ihren Albträumen. Ach komm schon.“

Sie stritten noch eine ganze Weile. Doch irgendwann hatten sich meine Eltern dann breitschlagen lassen. Sie liebten mich und hätten einfach alles getan, damit es mir endlich wieder gut ging.

Stuttgart, 1991

Es dauerte noch ein Jahr, bis wir endlich einen Termin bei ihm bekamen: Dr. Müller. Ein Mann Mitte fünfzig, welcher in mich hineinzuschauen vermochte wie kein anderer Mensch. Jedenfalls kam es mir damals so vor. Er öffnete mir eine zweite Welt, die Welt der Träume. Er wohnte in einem normalen Mehrfamilienhaus. Im obersten Stock führte er seine Traumwanderungen durch, wie er sie mir gegenüber nannte. Bei meiner ersten Sitzung lag ich auf seiner Couch und sollte mich entspannen. Ich sollte tief ein- und ausatmen. Dr. Müller redete mit mir, doch was er sagte, weiß ich nicht mehr. Ich fiel schnell in einen wohl bekannten Albtraum, nur dass er diesmal sehr viel realer wirkte.

Tonbandaufnahme Sitzung Nr. 1:

~

„Ich liege auf einem metallenen Tisch“, begann ich.

„Kannst du erkennen, wo du bist?“, ertönte die tiefe Stimme von Dr. Müller.

Ich: „Das Licht blendet mich. Der Raum erscheint irgendwie ungewohnt ... fast rund.“

Dr. Müller: „Ist jemand bei dir?“

Ich: „Über mir steht ein Mann.“

Dr. Müller: „Kennst du den Mann?“

Ich: „Er ist mir völlig unbekannt. Und irgendetwas stimmt nicht mit ihm...“ (leises Wimmern)

Dr. Müller: „Was ist mit ihm?“

Ich: „Seine Augen sind so schwarz und scheinen viel zu groß zu sein für die Größe seines Kopfes. Er versucht, mich zu beruhigen.“

Dr. Müller: „Spricht er mit dir?“

Ich: „Sein Mund bewegt sich nicht.“

Dr. Müller: „Wie beruhigt er dich denn?“

Ich: „Ich verstehe ihn trotzdem. Ich bin ganz ruhig und habe keine Angst mehr.“

~

Nach unserer Sitzung schickte mich Dr. Müller ins Wartezimmer und rief meine Oma herein. Ich erfuhr erst viel später, worum es dabei ging. Er hatte festgestellt, dass ich mich definitiv an ein reales Erlebnis erinnert hatte. Er konnte sich nur noch keinen Reim daraus machen, wo diese Erinnerungen hingehörten. Er befragte meine Großmutter nach allen, möglicherweise traumatischen Erlebnissen aus meiner Kindheit. Doch da war nichts. Dr. Müller war sehr interessiert an meinem Fall und wollte sich gerne etwas genauer damit beschäftigen. Ich traf ihn daraufhin öfter, was meine Albträume zunächst sogar noch weiter verschlimmerte. Im Nachhinein bezweifle ich, dass er mir tatsächlich helfen wollte. Ich war ein Rätsel für ihn, das er unbedingt lösen wollte. Wirklich ins Schleudern brachte ihn dann unsere vierte Sitzung, denn da waren sie endlich …

Tonbandaufnahme Sitzung Nr. 4:

~

Dr. Müller: „Was siehst du?“

Ich: „Die grauen Monster sind da.“

Dr. Müller: „Kannst du sie beschreiben?“

Ich: „Es sind drei. Sie haben große, haarlose Köpfe und schauen mich aus schwarzen Augen an. Ich kann mich nicht bewegen.“

Dr. Müller: „Wieso nicht?“

Ich: „Sie wollen es nicht und darum kann ich es auch nicht. Sie machen irgendetwas mit mir.“

Dr. Müller: „Kannst du erkennen, was?“

Ich: „Nein, ich glaube irgendetwas Medizinisches.“

Dr. Müller: „Hast du Schmerzen?“

Ich: „Ja, ich habe starke Kopfschmerzen und irgendwas läuft aus meiner Nase.“

Dr. Müller: „Ist das Blut?“

Ich: „Ich weiß es nicht. Ich kann meinen Kopf nicht bewegen.“

~

Ich verstand nicht, warum die grauen Monster erst jetzt auftauchten, immerhin war ich ihretwegen hier. Dr. Müller sprach nun abermals mit meiner Oma. Als sie aus seinem Behandlungszimmer kam, schien sie ängstlich zu sein und sagte auf dem Nachhauseweg kein Wort zu mir. Sie erzählte es mir erst, als ich sie eines nachmittags, auf dem Nachhauseweg, darauf ansprach.

„Kann Dr. Müller mir nicht helfen?“, fragte ich sie traurig.

Sie blieb abrupt stehen und musterte mich eine ganze Weile. „Ich weiß es nicht. Es ist scheinbar nicht so einfach.“

Nicht so einfach? Was stimmte nicht mit mir? Ich dachte dieser Mann sei ein Spezialist auf seinem Gebiet. „Und jetzt?“

Meine Oma seufzte und führte mich zu einer unter einem Baum gelegenen Bank. „Deinen Eltern sollten wir lieber nichts davon sagen. Sie würden es nicht verstehen. Dr. Müller hat mir erzählt, er hätte schon viele Patienten mit ähnlichen Träumen wie deinen behandelt. Er forscht schon eine ganze Weile an der Ursache.“

Menschen mit ähnlichen Träumen? Was sollte das bedeuten? „Sind das Kinder wie ich?“

„Nein, überwiegend Erwachsene.“

Erwachsene mit Albträumen von grauen Monstern? Ich verstand nicht, worauf meine Oma eigentlich hinauswollte. Mit großen Augen schaute ich sie an.

„Du kennst doch die Serie Star Trek, oder?“, fragte sie mich nun.

Ich nickte lediglich. Natürlich kannte ich diese Serie. Chris schaute sie regelmäßig mit mir zusammen.

„Dr. Müller vermutet, dass es sich bei deinen Träumen um Entführungen durch Außerirdische handeln könnte“, fuhr meine Oma fort. Was erzählte meine Oma da? Ich bekam augenblicklich eine Gänsehaut, als ich darüber nachdachte.

Meine Oma schien kurz an vergangene Zeiten zu denken. „Und irgendwie glaube ich ihm, weil … Na ja. Er redete eine Weile mit mir und … Ich hatte früher ähnliche Träume.“

Was? Meine Oma hatte Albträume wie ich? Will sie mir damit sagen, dass sie ebenfalls glaubt, entführt worden zu sein? Ich blickte meine Oma mit großen Augen an und fragte: „Was wollen die denn von uns?“

„Ich weiß es nicht, mein Kind.“

Ich brauchte eine ganze Weile, um mir der Tragweite dieser Tatsache bewusst zu werden. Eine Zeit lang fand ich es sogar richtig cool. Zumal meine Albträume auch urplötzlich aufhörten. Es ging mir tatsächlich besser. Je mehr Zeit verging, umso mehr kam es mir vor wie eine weitentfernte, aufregende Erinnerung. Dies war, aus der Ferne betrachtet, ganz schön bescheuert, denn nun weiß ich, dass die Atempause nicht lange währen würde. Zwei Jahre später kamen sie erneut ...

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