Kapitel 2: Unheilvolle Träume, 1989
UNHEILVOLLE TRÄUME
Bitterfeld, 1989
Ich lag aufgeregt in meinem Bett und spielte mit meinen hellbraunen Locken. Morgen würde ich meinen achten Geburtstag feiern. Meine Eltern hatten eine große Feier für mich geplant.
Irgendwann muss ich es anscheinend doch noch geschafft haben, einzuschlafen. Im Nachhinein betrachtet, hätte ich wohl lieber wach bleiben sollen...
Ich hatte wieder diesen schrecklichen Albtraum. Gruselig aussehende graue Monster, mit großen leblosen Augen, standen um mein Bett herum. Sie sagten kein Wort. Das taten sie nie. Ich hatte solche Angst. Ich schrie, so laut ich konnte, und versuchte, mich zu wehren, doch ich schaffte es einfach nicht, mich zu bewegen. Sie ließen mich nicht. Meine Mutter schaltete das Licht an und kam hereingestürmt. „Oh, mein Gott, was ist los?“, fragte sie und nahm mich sogleich in den Arm. Ich schaute mich völlig aufgelöst in meinem Zimmer um. Die Monster waren weg und bewegen konnte ich mich auch plötzlich wieder. Ich weinte und presste mein von Tränen nasses Gesicht an die Brust meiner Mutter. „Sie sind wieder da. Die grauen Monster.“
Meine Mutter schaute mich mitleidig an. Mittlerweile war auch mein Vater in mein Zimmer gekommen. Verschlafen betrachtete er mich. „Hier ist nichts. Schlaf weiter! Du hast morgen einen langen, aufregenden Tag vor dir.“
Schluchzend sehe ich ihn an. Nimmt er mich etwa nicht richtig ernst? „Nein, sie sind hier!“
Nun kam mein Vater auf mich zu und nahm meine Hand. „Komm, ich zeig es dir.“ Er führte mich an den Schrank und öffnete ihn. „Nichts.“ Dann zum Bett und schob es zur Seite. „Auch nichts. Hier ist absolut nichts, wovor du Angst haben musst“, erklärte er mir in leicht genervtem Ton. Und ich wusste, im Grunde wollte er lediglich seine Ruhe. Daher nickte ich, obwohl ich keineswegs überzeugt war. Meine Eltern gaben mir beide einen Kuss und verließen wieder mein Zimmer. Mein Herz klopfte mir bis zum Hals. Ängstlich starrte ich an die Decke. Natürlich würde ich nicht noch einmal einschlafen. Stattdessen malte sich meine Fantasie die schrecklichsten Dinge aus, die die Monster mit mir tun könnten.
Am nächsten Morgen war ich wie gerädert. Mein Traum war zwar nur noch eine schwache Erinnerung, so wie es bei Träumen nun einmal üblich war, aber dennoch war meine Freude über diesen Tag wie weggeblasen. „Lena, reiß dich zusammen! Es war nur ein Traum. Das hat überhaupt nichts zu bedeuten“, versuchte ich mir flüsternd einzureden und ging hinunter ins Wohnzimmer. Dort stand meine Mutter und drehte sich freudestrahlend zu mir um. „Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, mein Schatz!“ Ich lächelte zögerlich zurück. Doch meine Mutter bemerkte sofort, dass etwas nicht stimmte. „Ist es immer noch wegen dem Traum?“ Ich nickte, wohl wissend, was jetzt kommen würde. Ich hatte diesen Traum schon sehr oft und meist wurde ich dafür lediglich belächelt. Wie immer schmunzelte meine Mutter und streichelte über mein Haar. „Das ist ganz normal bei Kindern in deinem Alter. Euer kleines Gehirn muss am Tag so viele Dinge verarbeiten, dass es sich in der Nacht die verrücktesten Geschichten zusammengeträumt.“ Traurig schaute ich zu meiner Mutter auf. Sie hätte wenigstens fragen können, was ich geträumt habe, aber es war ihr völlig egal. Hauptsache sie hatte ihre Ruhe. In dem Moment kam mein großer Bruder Chris schelmisch grinsend die Treppe herunter. „Na, wie fühlt man sich als alte Frau?“
„Ha, ha!“, antwortete ich lediglich und streckte die Zunge heraus.
Nun wandte Chris sich an meine Mutter. „Ich muss nochmal zu Stephan. Wir müssen noch viel vorbereiten, wenn wir morgen über die Grenze fahren. Ich bin schon ganz gespannt, was uns dort erwartet.“
Meine Mutter betrachtete ihn ängstlich. „Sei morgen bloß vorsichtig. Da drüben ist es anders als hier, nicht nur die Umgebung, auch die Menschen. Gehe mit niemandem mit!“
Mein Bruder verdrehte die Augen. „Ja, ja, ich werde keine Süßigkeiten von gruseligen, schwarzen Männern annehmen. Versprochen!“
„Ich meine es ernst. Das ist kein Spaß. Und sei heute pünktlich um fünfzehn Uhr zur Geburtstagsfeier deiner Schwester wieder zu Hause!“
„Ja, ja“, entgegnete er abermals, während er meiner Mutter einen Kuss auf die Wange drückte. Im nächsten Augenblick rannte er auch schon aufgeregt zur Tür hinaus.
Am Nachmittag war die Feier in vollem Gange. Allmählich hatte ich auch tatsächlich Spaß an dem Trubel. Mein Albtraum war beinahe vergessen, zumindest bis zu dem Moment, als ich plötzlich wieder daran erinnert wurde.
Ich war gerade dabei, mir ein Stück Kuchen vom Buffet zu nehmen, als meine Oma mich ansprach: „Deine Mutter hat mir erzählt, du seist heute nicht so gut drauf aufgrund eines schlimmen Traumes?“
Oh nein, sie hatte ihr tatsächlich davon erzählt. Wie peinlich! Ich bin nun bereits acht Jahre alt und kein kleines Baby mehr. Meine Oma musste glauben, ich fürchtete mich vor einem lächerlichen Albtraum. Da es mir etwas peinlich war, antwortete ich: „Ach, es war nur ein Albtraum. Ist schon gut.“
Meine Oma lächelte mich liebevoll an. „Ist schon okay. Weißt du, manchmal hilft es schon, wenn man mit jemanden darüber spricht. Ich hatte auch oft Albträume als Kind. Was hast du denn geträumt?“
Sie wollte es tatsächlich wissen? Irgendwie brannte ich geradezu darauf, mit jemanden darüber sprechen zu können, also nickte ich.
„Setzen wir uns doch in eine ruhige Ecke“, sagte sie und führte mich in mein Zimmer.
Sie interessierte sich scheinbar wirklich dafür. Es war ein gutes Gefühl, verstanden zu werden. Dasselbe hätte ich mir von meiner Mutter gewünscht.
Wir setzten uns auf mein Bett. „Es ist eigentlich gar nichts passiert. Es war eher … na ja …“, begann ich aufgeregt, während meine Oma aufmerksam zuhörte. „Ich hatte diesen Traum schon so oft … von diesen grauen Monstern mit den großen schwarzen Augen. Sie stehen einfach nur da und beobachten mich …“
Die Augen meiner Oma vergrößerten sich sichtlich. Sie schien durch mich hindurchzusehen und über irgendetwas nachzudenken. Wow, sie fühlte echt mit mir. Scheinbar hatte sie nicht gelogen, als sie sagte, dass sie wusste, wie das war. Erwartungsvoll schaute ich sie an und wartete.
„Unter Umständen kenne ich da jemanden, der dir helfen kann“, warf meine Oma nun ein.
Mein Atem stockte. Sie wusste tatsächlich eine Möglichkeit, mir zu helfen? Das klang einfach nur toll. Nie wieder Albträume! Ich nickte und griente meine Oma dabei freudig an.
Allmählich nahm das Gesicht meiner Oma zu meiner Überraschung einen mitleidigen Ausdruck an. „Bei mir war es genauso.“
Damals hatte ich geglaubt, meine Oma würde mich von meinen Albträumen befreien und alles sei wieder gut. Wie naiv ich doch war. Ich hätte mir womöglich viel Leid erspart, wenn ich einfach gelernt hätte, mit den Albträumen zu leben. Diese waren nämlich lediglich der Anfang …