Kapitel 1: Schöne neue Welt, 2050
EINLEITUNG
Wir schreiben das Jahr 2050.
Die letzten dreißig Jahre waren in meinen Augen die friedlichsten und zugleich schlimmsten unserer Geschichte. In den 2020er Jahren ist das Finanzsystem komplett zusammengebrochen. Im Zuge der Weltwirtschaftskrise wurde die WSA (World Star Alliance) geründet. Dabei ist bis heute den wenigsten Menschen bewusst, dass man den Namen „World Star Alliance“ wörtlich nehmen sollte. Die meisten Staaten traten der WSA bei, und welche dies nicht taten, wurden medial und wirtschaftlich unter Druck gesetzt. Die Länder verloren jegliche Souveränität. Es fand eine systematische Enteignung statt. Die Arbeitslosigkeit stieg auf rund dreißig Prozent, genaue Zahlen wurden unter Verschluss gehalten. Wahrheitsgetreue Statistiken wurden nicht mehr veröffentlicht, damit keine Unruhen entstehen. Dann kam das bedingungslose Grundeinkommen. In dem Zuge wurden auch die Renten abgeschafft. Per Gesetz wurde der Bargeldverkehr vollständig eingestellt. In den 2030er Jahren wurde für jeden Bürger das LBS (Leistungsbezugssystem) eingeführt. Jeder bekommt nach einem Levelsystem von 1 bis 10 bestimmte Leistungen erstattet.
Die Weltbevölkerung hat sich massiv reduziert und tut es noch immer, doch niemand scheint sich dafür zu interessieren.
Überall heißt es nur, dies sei die beste Zeit, die die Menschheit je erlebt hat …
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SCHÖNE NEUE WELT
Mein Traum:
Ich laufe über eine wunderschöne grüne Wiese. Die Sonne scheint und das Gras schmeckt gut. Die anderen und ich müssen uns über nichts Gedanken machen. Ab und zu kommt der Schäfer vorbei und schaut nach uns. Er befreit uns von unserem Winterfell und gelegentlich gibt es einen Piks. Oft nimmt er ein paar Schafe mit sich. Die kommen dann nie wieder. Ich frage die anderen Schafe, ob sie darüber etwas wissen, aber sie schauen mich nur mit leeren Augen an. Ich schreie aus Leibeskräften, sie sollen nicht mit ihm gehen, doch die Herde läuft einfach weiter.
Leipzig, 2050
Mein Name ist Lena Brautschuh. Ich bin 69 Jahre alt und schuldig. Ich bin schuldig des Nichtstuns. Ich bin schuldig daran, dass unsere Kinder in einer Welt wie dieser aufwachsen müssen. Mich aufgeregt umblickend, laufe ich durch die Leipziger Innenstadt auf dem Weg zu ihm … Ich muss schnell sein. Die Ausgangssperre beginnt in Kürze und dann treffen sie sich. Ist dann noch einer von uns draußen, wird es hässlich. Selbst ohne Ausgangssperre ist es eher verpönt, sich ohne Order von ihnen draußen aufzuhalten. Wenn man zu oft dagegen verstößt, wird man schnell als Unsicherheit betrachtet und genauer in Augenschein genommen. Die Stadt wirkt wie ausgestorben. Ich laufe an leerstehenden Häusern vorbei. Geschäfte oder Restaurants gibt es schon eine ganze Weile nicht mehr. An den Gebäuden prangen nun große, sich ständig verändernde Holowände, auf denen Werbespots laufen, in denen den Leuten erklärt wird, wie viel besser jetzt doch alles sei. Ab und zu kommt ein lautloses Shuttle vorbei. Mit dem privaten Auto in die Stadt zu fahren ist verboten und ich weiß auch gar nicht, wer so etwas noch besitzt. Selbst die Shuttles dürfen lediglich benutzt werden, wenn du mindestens einen Nano-Identcode Level vier hast. Dein Register muss absolut makellos sein, um diese Stufe zu erreichen, und das ist bei mir schon sehr lange nicht mehr der Fall. Ich habe Level drei und werde bereits als Unsicherheit betrachtet. Vermutlich ist Tommy der einzige Grund, warum sie mich noch nicht mitgenommen haben. Es kommt mir ein schwarzer Transporter entgegen, an dessen Seiten große, goldene Schriftzeichen und 4D-Codes erstrahlen. Die Schrift ähnelt sumerischer Keilschrift, lässt sich jedoch nicht übersetzen und auch die Codes lassen sich nicht entschlüsseln. Ich habe es viele Male probiert. Abgesehen von den Shuttles sieht man vor allem in den letzten Jahren sehr häufig solche Transporter durch die Straßen fahren. Sie transportieren darin scheinbar irgendetwas Wichtiges. Ich bekomme immer mehr das Gefühl, dass sich etwas anbahnt, etwas Großes.
Ein unscheinbar wirkender Mann kommt mir auf dem Gehweg entgegen. Sein Blick ist starr geradeaus gerichtet in völliger Emotionslosigkeit. Dies ist ganz normal. Die wenigen Menschen, die sich noch nach draußen trauen, sind ihnen hörig. Jetzt gibt es nur noch die Menschen, die menschlich sein wollen, und die Menschen, die keine mehr sind.
In dem Park neben mir sehe ich mehrere Serviceroboter arbeiten. Sie pflanzen neue Bäume, um den Park zu vergrößern. Die Erhaltung der Natur ist ihnen wichtig, sie steht über allem.
Drohnen kreisen wie Geier über der Stadt und beobachten jegliche Aktivität der Bevölkerung. Eine davon entkoppelt sich aus ihrer Formation und macht sich auf den Weg in meine Richtung. „Nennen Sie den Grund Ihres Aufenthalts! Die Ausgangssperre tritt in fünf Minuten in Kraft“, ertönt eine Computerstimme aus der Drohne. Ohne zu antworten, laufe ich, so schnell ich kann, davon. Wie konnte es nur dazu kommen? Wieso hat niemand etwas unternommen? Wieso habe ich nichts unternommen? Es gab so viele Hinweise. Und selbst Tommy hat es mir gesagt. Wirklich geglaubt habe ich es aber erst, als es bereits zu spät war, als niemand mehr etwas dagegen tun konnte. Ich erinnere mich an eine Zeit, in der die Menschen frei waren, alles zu tun, was sie wollten, eine Zeit, in der die Menschen glücklich waren. Natürlich wusste ich zu der Zeit nicht, was für ein Glück ich hatte. Wer weiß das schon? Man erkennt eben erst, was man verloren hat, wenn es weg ist. Ich bin damals unglaublich gerne verreist und habe es geliebt, fremde Kulturen kennenzulernen. Jetzt wird dir lediglich über Propaganda eingeimpft, was du von anderen Menschen zu halten hast. Ist dein Level zu niedrig, wirst du als Aussätziger behandelt. Natürlich wollen sie es genauso haben. Denn eine gespaltene Menschheit ist eine kontrollierbare Menschheit. Viele haben es noch immer nicht erkannt. Sie protestieren nicht gegen ihren Käfig, weil sie ihn nicht sehen. Nun ist er Normalität und Alltag für sie geworden. Gab es einen Punkt, wo ich etwas hätte unternehmen können? Oder sind wir lediglich Schafe und sie unsere Hirten? Ich bin an unserem Treffpunkt angekommen. Mittlerweile sind es bereits drei Drohnen, die über mir kreisen, jederzeit bereit, die Ordner zu rufen, wenn die Ausgangssperre in Kraft tritt. Ich stehe nun vor der Leipziger Universität. An der Front prangt ein riesiges Hologramm, durch das die neusten Verordnungen und Verhaltensregeln bekannt gegeben werden. Universitäten werden nur noch von ihnen genutzt. Du benötigst nur das Wissen, was du für deine zugewiesene Aufgabe brauchst. Zu viel Bildung schadet der Kontrolle. Und Kontrolle ist das Allerwichtigste für sie.
Da ist er auch schon: Tommy. Er kommt in perfekt gerader Haltung, in einem Patchwork-Oberteil und schwarzer Hose, auf mich zu gelaufen. Ein leichtes Lächeln umspielt seine Mundwinkel. Seine schwarzen, perfekt sitzenden Haare bewegen sich nicht einen Millimeter, obwohl es heute windig ist. Ich muss unweigerlich schmunzeln. Er hatte schon immer die Angewohnheit, die Dinge zu übertreiben. Haare, die in dein Gesicht hängen, sind schließlich nicht zweckmäßig. „Hallo Lena“, spricht er emotionslos und hebt zur Begrüßung seine rechte Hand. Wir kennen uns nun schon so lange, dass ich mich mittlerweile an seine kühle Art gewöhnt habe. Ich fand es stets merkwürdig, wenn er versucht hatte, uns nachzuahmen, und auf Teufel komm raus Emotionen zu simulieren. Zum Glück hat er mittlerweile seine eigene Persönlichkeit gefunden.
Die Drohnen über uns sind nun verschwunden. Ich weiß nicht was der große Tom Reinhard mittlerweile für eine Stellung bei der WSA hat, aber sein Einfluss ist immerhin so groß, dass er die Sicherheitsüberwachung außer Kraft setzen kann. Selbstbewusst baue ich mich vor ihm auf. „Was ist denn so wichtig, dass du mich hier in der Sperrstunde unbedingt sprechen willst?“ Er hat mich zu diesem Treffen gebeten, was äußerst untypisch für ihn ist.
Tommy nickt kaum merklich, sich in alle Richtungen umblickend. Macht er sich etwa Sorgen um mich? „Lena, ich weiß nicht, was du und deine Freunde vor haben, aber wenn du nicht damit aufhörst, kann ich dich nicht mehr schützen.“ Was redet er da? Ich überlege kurz, komme aber zu keinem Resultat. „Ich weiß nicht was du von mir willst. Was soll ich vor haben? Ich werde nächstes Jahr siebzig und habe keine Freunde. Die sind alle tot.“ Seine dunklen Augen durchbohren mich Sekunden lang, bis er schließlich nickt. „Hm, anscheinend sagst du die Wahrheit.“ Beleidigt schüttle ich den Kopf. „Du bist unmöglich. Wir kennen uns schon über fünfzig Jahre, und du musst mich immer noch scannen, um zu erfahren, ob ich die Wahrheit sage.“ „Ach Lena“, seufzt er entschuldigend. „Was soll ich denn sonst davon halten? Die Landessicherheit hat deinen Wohnbezirk fest im Fokus.“ Meine Kehle schnürt sich unweigerlich zu. Das war´s dann also. Er will mir sagen, dass er mich nicht mehr beschützen kann. Darum bin ich hier. Traurig schüttele ich den Kopf. „Mittlerweile wundert mich Garnichts mehr. Die Welt, welche ich kannte habt ihr zerstört. Die Menschen sterben wie die Fliegen, und die, die noch da sind, bewegen sich wie Zombies.“ Abwehrend hebt Tommy seine Hand. Als würde er aus der Zeitung vorlesen, erklärt er: „Lena, ich habe es dir doch schon so oft erklärt. Wir geben lediglich das Ziel vor. In die Umsetzung mischen wir uns nicht ein.“ Ich bin auf der Suche nach einem winzigen Aufblitzen von Reue in seinem Gesicht. Doch da ist nichts. Fassungslos fahr ich ihn an: „Das ist ganz schön zynisch, findest du nicht? Die Leute im unteren Level bekommen nur krankmachende Lebensmittel zugeteilt. Würdest du mir nicht jede Woche spezielle unbehandelte Vorräte schicken, wäre ich mit Sicherheit bereits tot. Ist das etwa keine Einmischung?“ Wortlos steht Tommy einfach nur da und starrt mich an. Warum gibt er es nicht einfach zu? Er will nicht, dass die Mutter seines Kindes stirbt. Doch Tommy zieht es offenbar vor mich stattdessen mit seinen durchdringenden dunklen Augen zu fixieren.
Wann hat dieser ganze Irrsinn eigentlich begonnen? Ich weiß es nicht genau. Ich glaube noch nicht einmal, dass Tommy es weiß. Ich weiß lediglich, wann es für mich begonnen hat…