Kapitel 3
Kapitel 3
Bella
Every inch of you is another star in the sky
An den vergangenen Abend würde ich mich noch lange erinnern. Ich saß bis spät in der Nacht an der Bar und sprach mit Noah, obwohl wir zugegebenermaßen die meiste Zeit nur lachten. Die laute Musik und die schreienden Fans blendete ich dabei vollkommen aus. Als er darauf bestand, mich nach der Arbeit nach Hause zu begleiten, wusste ich sofort, dass das eine schlechte Idee war. Es war nie ein guter Plan, nachts mit einem Jungen, von dem ich nicht viel wusste, nach Hause zu gehen, doch ein Gefühl sagte mir, dass ich ihm vertrauen konnte. Und so gingen wir beide durch die kalte Abendnacht. Der Rückweg verlief ziemlich ruhig. Wir unterhielten uns über ein paar belanglose Sachen und näherten uns so immer ein Stück näher an. Es wurde langsam kalt, und eine Seite von mir freute sich auf meine warme Wohnung, doch eine andere Seite wollte die Nacht noch nicht enden lassen. Nach ein paar Minuten Fußweg kamen wir an meiner Haustür an. Zu Hause angekommen, stieg ich die Veranda hinauf und wusste nicht so recht, was ich tun sollte. Unbeholfen schob ich meine kalten Finger in meine Jacke. Nervös drehte ich mich Noah entgegen und hoffte darauf, dass er die Stille durchbrechen würde. Doch nichts geschah. Noah kam ein paar Schritte auf mich zu, stand nur wenige Zentimeter von mir entfernt. Kurz darauf hob er seinen Arm und ich bemerkte, wie er mir eine lose Strähne, die sich aus meinem Zopf gelöst hatte, wieder hinter mein Ohr schob. Wie elektrisiert, ließ er seinen Arm schnell wieder sinken. Es war, als ob sein Arm zu schwer geworden war und er es sich anders überlegt hatte. Er sah mir tief in die Augen und kurzzeitig dachte ich, dass ich etwas in seinen Augen sah, dass es einen Moment zwischen uns gab, doch da musste ich mich getäuscht haben.
»Ich … ich muss jetzt gehen. Es war schön, dich kennengelernt zu haben. Schätze, wir sehen uns im Café.«
Kurz darauf machte er kehrt und verschwand in der dunklen Nacht. Ich konnte diese Situation gar nicht so schnell verarbeiten, da war er schon weg. Ich sah seinen Umrissen hinterher, ehe er ganz in Dunkelheit eintauchte. Es war, als stünde die Welt für den Bruchteil einer Sekunde still. Aber was hatte ich denn auch erwartet? Dass er mich reinbegleiten oder dass er sich erneut mit mir treffen würde? Plötzlich kam ich mir wie ein naives kleines Kind vor, das die Realität nach ihren Wünschen verdrehte. Ich meine, wollte ich denn überhaupt, dass wir uns wiedersehen? Diese Fragen musste ich erst einmal selbst klären und so grübelte ich ununterbrochen darüber nach, bis ich in einen tiefen Schlaf versank.
Nächster Morgen
**Bzzzzz, Bzzzzzz**
**Bzzzzz, Bzzzzzz**
Knurrend hob ich meinen schweren Arm und versuchte auf dem Bildschirm meines Handys einzuschlagen, sodass dieses endlich aufhören würde, mich mit diesem schrecklichen Klingelton aus dem Bett zu zwingen. Murrend schwang ich meine abgespannten Beine über den Rand des Bettes und schleppte mich in Richtung Badezimmer. Ich nahm mir meine Zahnbürste und schaute dabei aus dem kleinen Fenster. Meine Gedanken schweiften wieder an den gestrigen Abend zurück und schnell musste ich mich dabei erwischen, wie ich unbewusst lächelte. Der letzte Abend fühlte sich so unwirklich an, als ob es ein Traum und nie passiert war. Bevor ich mir noch weiter den Kopf zerbrach, zog ich mir schnell meine Sportsachen über und schnappte mir meine bereits fertig gepackte Sporttasche. Als ich in meiner kleinen Küche ankam, schnappte ich mir mit einer flinken Bewegung einen Müsliriegel aus der offenen Schüssel und befüllte meine noch leere Trinkflasche. An der Tür angekommen, schlüpfte ich in meine geliebten Sportschuhe und griff nach meinen Kopfhörern. Diese koppelte ich mit meinem Handy, nachdem ich die Haustür geschlossen hatte und ließ mir von meiner Lieblingsplaylist die Stimmung aufhellen. Morgens joggte ich immer zu meinem fast täglichen Training, denn nur so konnte ich meinen Kopf von all den möglichen Gedanken befreie. Ich versuchte immer noch herauszufinden, weshalb Noah sich gestern Abend so kühl und abrupt verabschiedet hatte. Die halbe Nacht lag ich wach und ließ den gestrigen Abend noch einmal Revue passieren. Ich konnte mich nicht daran erinnern, dass ich etwas Falsches gesagt oder getan hatte, aber vielleicht hatte ich es auch einfach nicht mitbekommen. Vielleicht war doch etwas vorgefallen, nur ich wusste direkt nichts davon. Vielleicht war er auch einfach nur freundlich und hatte währenddessen eine Freundin, die auf ihn wartete. Deshalb war er auch so schnell gegangen, als wir bei meinem Haus waren. Er wollte die Situation entschärfen, bevor ich ihn um ein weiteres Treffen fragen konnte. Ich bekam gar nicht mit, wie die Kilometer verstrichen und sich mein Atem immer schneller beschleunigte. Meine Muskeln fingen langsam an zu brennen und ich liebte dieses Gefühl. Ich rannte so schnell ich konnte, um vor meinen Gedanken zu fliehen. Meine müden Füße prallten über den harten Asphalt, bis ich vor dem Boxclub zum Stehen kam.
Im Boxclub angekommen, ging ich direkt zu den Umkleideräumen und band mir die dunkelblauen Bandagen, um meine bereits aufgerissenen Fingerknöchel. Seit dem Tag des Verschwindens meiner Eltern musste ich meine Wut zügeln und das Boxen half mir dabei. Seit ihrem Verschwinden gab ich mir selbst die Schuld.
Waren sie meinetwegen verschwunden?
Wollten sie mich nicht mehr?
Hatte ich etwas falsch gemacht?
Täglich machte ich mir immer wieder dieselben Vorwürfe.
»Du musst Bella sein«, meldete sich eine tiefe Stimme hinter mir. Ich erschrak und drehte mich zu der dunklen Stimme um und erblickte einen großen, sehr kräftigen jungen Mann. Mit seinem blonden Haar sah er relativ sympathisch aus, obwohl ich erkannte, dass es gefärbt war. Er trug ein schwarzes T-Shirt und eine lange schwarze Jogginghose, aber keine Schuhe. Er stand barfuß auf der Übungsmatte. Er fing wohl meinen leicht verwirrten Blick auf.
»Ich trainiere und unterrichte immer ohne Schuhe, falls du dich das gerade fragen solltest. Genug von mir. Fangen wir an!« Na, das konnte bestimmt heiter werden, dachte ich mir. Cole war ein guter Lehrer, sehr streng, aber er wusste, wovon er sprach. Er zeigte mir andere Sachen als mein Onkel. Er ließ mich nicht nur ein paar Runden laufen, sondern durch einen vorbereiteten Parkour rennen. Cole dokumentierte meine Zeit und nickte ein paar Mal zufrieden. Ich wusste, dass ich mich morgen auf einen schmerzenden Muskelkater einstellen konnte. Es gab keine Pause nach dem Aufwärmen und ich trat an den hängenden Boxsack, um meine Schläge zu optimieren. Cole ahnte, was ich vorhatte und stoppte mich abrupt. »Das kannst du gleich sein lassen. Du brauchst nicht am Boxsack zu trainieren, ich will dich hier auf der Matte.« Okay, ich war leicht verwirrt, tat jedoch, was er von mir verlangte und stellte mich ihm gegenüber.
»Okay, und jetzt?«, fragte ich, doch Cole reagierte nicht auf meine Frage, sondern nahm eine Kampfstellung ein. Mehr brauchte ich nicht zu wissen. Wenn er sehen wollte, was ich draufhatte, dann würde ich ihm das nur allzu gerne zeigen. Ich war bereit, nahm meine Fäuste vor mein Gesicht und trat einen Schritt auf ihn zu. Doch bevor ich mich sammeln konnte, wurde meine Faust von seiner großen Hand abgefangen. Ehe ich reagieren konnte, lag ich mit einem lauten Aufprall auf dem kalten Boden. Ein heißer Schmerz durchzog meinen Körper und ich wusste, dass ich mir ein paar Rippen geprellt haben musste. Ich versuchte mich wiederaufzurichten, wurde jedoch gleich wieder unsanft zu Boden gerammt. Es fühlte sich, wie eine reißende Welle im offenen Meer an. Sie zog mich immer und immer wieder unter Wasser. Meine Rippen schmerzten, doch ich konzentrierte mich auf das Aufstehen. Cole löste sich langsam von mir und hielt mir eine helfende Hand hin. Zunächst zögerte ich noch, doch dann nahm ich seine Hilfe dankend an. Er zog mich ruckartig wieder auf die Beine. »Du bist schnell, aber du brauchst dringend Unterricht im Nahkampf, hat dir Ty das nicht beigebracht?«
»Anscheinend nicht.«, antwortete ich ihm mit zusammengepressten Lippen.
Ich fühlte mich gedemütigt. Cole hatte mich nicht gelehrt, sondern schlicht und einfach gedemütigt.
»Du musst mehr mit dem Kopf denken als mit deiner Wut, Bella. Es ist nicht einfach nur Zuschlagen, du musst kreativ werden und mich überlisten. Also versuchen wir es mal damit«, befahl er mir, ehe er urplötzlich seinen Griff um meinen Hals legte. Das hatte ich nicht erwartet und keuchte nach Atem. Ich versuchte, seinen Arm von mir wegzuschlagen und ihn von mir zu drängen, doch alles schien sinnlos. Er rührte sich kein Stück. Langsam wurde ich panisch und pure Angst überkam mich.
»Denk nach, Bella, denk nach«, hallte es mir im Kopf wider. Ich erinnerte mich an Coles Worte und musste schnell reagieren, das war klar. Rasch lehnte ich mich gegen meinen Angreifer, riss meine beiden Arme in die Höhe und ließ sie zusammengeballt direkt über Coles bedrohlichem Arm sinken. Es funktionierte, denn ich zog ihn mit meinem ganzen Gewicht hinunter. Offensichtlich hatte Cole das nicht erwartet, denn er geriet kurz ins Straucheln. Das war meine Chance! Keine Sekunde später duckte ich mich unter ihm hindurch und versetzte ihm einen harten Kick in die Kniekehle, was ihn siegessicher zu Boden bringen würde. Mit Stolz erfüllt grinste ich über mich selbst und schaute herausfordernd zu meinem auf dem Boden liegenden Trainer hinunter. Cole schien offensichtlich keine Schmerzen zu haben und kam recht zügig wieder auf die Beine. Wie schaffte dieser Typ das nur? Hatte er keine Schmerzrezeptoren? Er sah mich eine Weile lang an und nickte mir schließlich lächelnd zu. »Gut gemacht, in den nächsten Tagen werden wir deine Technik erweitern.«
Cole trainierte noch eine weitere Stunde mit mir, bevor jede Zelle meines Körpers sich nach einer warmen Dusche und nach meiner himmlisch weichen Couch sehnte.
Noah
Mir fiel es schwer, die Augen wachsam aufzuhalten. Ich hatte die Nacht zuvor noch bis spät in die Nacht im Café gearbeitet, weil dort eine weitere Band auftrat. John, einer meiner Lieblingskollegen, der gleichzeitig mein bester Freund war, wandte sich mir zu.
»Na? Lange Nacht gehabt?« Er zog eine Augenbraue merkwürdig nach oben und sein Mund nahm ein schiefes Grinsen an. Lachend schüttelte ich mit dem Kopf.
»Nicht ganz, Mann. Ich war bis heute Morgen noch mit meinem Zweitjob beschäftigt«, erklärte ich ihm.
»Noah, ich habe es dir schon einmal gesagt, und ich sage es dir noch einmal: Du musst weniger Stunden arbeiten und mehr schlafen!«, versuchte John mich mit einem ermahnenden Blick zu überreden. Da war also der lang ersehnte Spruch meines besten Freundes. Das hörte sich zwar alles schön und gut an, doch John wusste ganz genau, warum ich keinen der beiden Jobs aufgeben konnte.
»Du weißt genau, dass ich das nicht kann. Ich benötige wenigstens ein paar Stunden in meinem Leben, die sich einigermaßen normal anfühlen. Dieser Job hier ist klasse, keine Frage, aber er zerrt auch ordentlich an meinen Nerven. Das solltest DU doch am besten verstehen.«, erklärte ich ihm.
John und ich arbeiteten schon mehr als drei Jahre in derselben Abteilung, was in unserem Job bereits eine halbe Ewigkeit war. Wir hatten uns damals in der Ausbildung kennengelernt und waren seitdem fast nie getrennt worden. Es ist schön, einer Person vertrauen zu können und einen Freund bei der Arbeit zu haben. Der Abteilungsleiter fand, dass John mit seinen breiten Schultern und ich mit meinen tätowierten Armen perfekt für den Undercover-Job wären.
»Das weiß ich, glaub mir.«, sprach mein bester Freund bedrückt. Ich wusste sofort, worauf er sich bezog, oder besser gesagt, auf wen. Tory und John waren schon lange ein Paar, und sie wusste, worauf sie sich damals einließ. Doch seit einigen Monaten wurde Johns Job immer mehr zum täglichen Streitthema. Eines Tages wurde es ihr zu viel, und sie zog zu ihren Eltern, um über die Beziehung der beiden nachzudenken. Keine weiteren Tage vergingen, als sie ihm erklärte, dass sie sich von ihm trennen wollte.
»Was hat sie gesagt, als ihr telefoniert habt?«, wollte ich neugierig von ihm wissen. Er berichtete mir, dass er seit dem Auszug fast täglich mit ihr telefonierte, aber auch merkte, dass sie distanzierter auf ihn wirkte.
»Das Gleiche wie immer. Dass es nicht daran lag, dass sie mich nicht lieben würde, dass sie aber auch nicht mit der permanenten Angst und Besorgnis leben konnte«, teilte er mir bedrückt mit.
»Genau das hält mich von Bella fern.«
»Hey, ich habe gleich noch Training. Kommst du mit oder bist du erst morgen dran?«, erkundigte ich mich bei ihm.
»Ich war heute Morgen schon, aber eine kleine Ablenkung wird mir sicherlich ganz guttun. Ich komme mit, muss eben zum Spind und meine Sporttasche holen.«
Ich nickte ihm zu.
»Muss ich auch.«
Eine Ablenkung wird mir auch ganz guttun, um das herrschende Chaos in meinem Kopf zu ordnen. Zudem war ich froh, dass John zum Training mitkam, denn allein macht es nur halb so viel Spaß und die anderen Gegner sind nicht halb so gut wie er. Somit machte es definitiv mehr Spaß, wenn John dabei war.
Ich musste immer noch herausfinden, wie ich die Sache mit Bella, die eigentlich noch keine Sache war, aber eine werden könnte, angehen sollte. Wollte ich sie kennenlernen? Ja, definitiv. Also musste ich sie mehr oder weniger nach einem Date fragen, um mehr über sie herauszufinden. Etwas Wichtiges, die wahre Bella kennenlernen und nicht nur die Informationen, die ich bereits aus ihrer Akte kannte – ein Akt, von dem sie hoffentlich niemals etwas erfahren würde.