Kapitel 9
Selim Sarbaev
- Ich bringe dich um!
Bevor ich das Büro meines Vaters betreten konnte, flog ein Ordner auf mich zu und schlug mit einem Knall gegen die Wand. Zum Glück habe ich eine gute Reaktionszeit, ich konnte ausweichen.
Ich richte mich auf, schüttle den unsichtbaren Staub von meiner Jacke und richte meinen Blick wieder auf meinen Vater, der sich über den Empfang wundert.
- Du bist erst seit ein paar Wochen in der Stadt und hast mir schon eine Menge Ärger bereitet! - Er keucht, schnappt nach Luft und schenkt sich einen Schluck Wodka ein. Er seufzt schwer. Was mich sehr überrascht.
Trügen mich meine Augen? Nein, das kann nicht sein!
Vater hat nie getrunken. Niemals! Es ist von den Kanonikern verboten. Das ist das erste Mal, dass ich ihn Alkohol trinken sehe.
Das ist doch klar. Er hatte einen Zusammenbruch. Der Grund für den Zusammenbruch ist in diesem Fall katastrophal ernst. Es muss ein Problem mit seinem Geschäft geben! Oder schlimmer noch, sein Ruf steht auf dem Spiel.
Ich schaue mich im Büro meines Vaters um und sehe meine Mutter, meine Großmutter, meine Schwester und meinen Bruder auf dem Ledersofa gegenüber dem Glastisch sitzen. Alle starren mich wie auf Kommando mit haifischartigen Blicken an.
- Haben wir etwa einen Familienrat? - Ich grinse schief und trete näher heran. Aber niemand ist erpicht darauf, den Platz mit mir zu teilen, alle sitzen mit steinernen Gesichtern da, wie bei einer Beerdigung.
- Wir haben das Video gesehen! - Oma schnaubt. - Wie konntest du nur, Selim! Das ist ja unerhört!
- Idiot", fügt meine Lieblingsschwester hinzu, die Arme vor der Brust verschränkt, das Kinn hoch erhoben.
Sie schaut mich schief an, als wäre ich ein Kanalisationsfrosch. Und die Mutter schluchzt auf, zieht ein Taschentuch aus ihrem schwarzen Hidschab. Bitterlich fängt sie plötzlich an zu schluchzen, unfähig, noch etwas zu sagen.
Nur der Bruder sitzt mit normalem Gesicht da, lächelt sogar ein wenig, schweigt aber auch, denn in unserer Familie ist es üblich, nur mit Erlaubnis des Vaters, mit Zustimmung des angesehenen Familienoberhauptes zu sprechen.
- Was für ein Video? - Ich fühle mich wie ein Gummiball, der von allen getreten wird, die keine Lust haben, und vor allem, die nichts dafür können.
- Schmutzig, schamlos, die Ehre und Würde der angesehenen Familie Sarbaev verunglimpfend! - spuckt Vater aus, der hinter dem Tisch hervorlugt.
Er geht auf mich los wie ein Bulldozer, der auf eine Ramme losgeht. In seinen Augen explodieren alle Atombomben der Welt, auf seinen Lippen zeichnet sich ein grimmiges Grinsen ab. Ich habe Sarbaev Osman schon lange nicht mehr im Zorn gesehen. Der Anblick ist wild und gefährlich. Es scheint, dass er bereit ist, mich in Stücke zu reißen.
Doch plötzlich hält er auf halbem Weg inne. Er krümmt sich in der Mitte und fasst sich an die linke Seite seiner Brust.
- Schätzchen! - Mutter eilt ihm zu Hilfe und zieht ihn zurück auf den Stuhl. Setzt ihn hin. Sie zieht ein Taschentuch vom Kopf und fängt an, es eifrig vor dem geröteten, schwitzenden Gesicht ihres geliebten Mannes zu schwenken. Sie bietet ihm sofort einen Schluck kaltes Wasser an.
- Ashshh, Selim! Schau, wozu du deinen Vater gebracht hast! Du Bastard Herodes! - schimpft er in seiner Muttersprache, und dann wird mir klar, dass es wirklich schlimm ist.
- Gehen wir der Reihe nach: Warum habt ihr mich angegriffen? Was habe ich getan?
- Das wisst ihr nicht? Ihr wisst es nicht? - Großmutter Kadrija seufzt, klatscht in die Hände und schüttelt den Kopf. Sie bedeckt ihre Augen und beginnt verzweifelt zu beten. - Oh, hab Erbarmen, allmächtiger Gott.....
- Ich denke, das Video ist okay", wirft der Bruder schließlich ein, “mutig und modern, du hattest einen Riesenspaß im Club, Bruder.
- Imraaaaan! - Mutter flippt aus. - Halt die Klappe, sofort! Wie kannst du es wagen, mit deiner Zunge wegzulaufen? Osman, wir hätten nicht herkommen sollen! Siehst du, was diese Stadt, diese Umgebung, diese verkommene Gesellschaft mit unseren Kindern macht? Sie verwandeln sie in Dämonen!