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Kapitel 4

Mein Herz raste. Beruhige dich, er wird es sonst merken. Wir standen in seinem Büro. Es war kleiner als das Zimmer, das sie mir gaben und sah kalt aus. In der Mitte stand ein Tisch mit ordentlich aufgestapelten Dokumenten, ein paar Schreibutensilien und eine nicht angezündete Kerze. In diesem Raum gab es nichts Weiteres als diesen Tisch, zwei Stühle und ein Regal gefüllt mit Büchern.

«Setzt dich doch», sagte er und setzte sich auf seinen Stuhl. Ich war so nervös, dass ich sicher nicht still sitzen konnte, ich wollte aber nicht unhöflich sein und so setzte ich mich trotzdem hin. Er blätterte kurz durch seine Dokumente und zog dann ein Blatt heraus. «Paul hat mir den Brief deiner Eltern gegeben, den du ihm gabst.» Er legte ihn sanft auf den Tisch und schob ihn rüber zu mir. «Möchtest du ihn lesen?» Ich schüttelte schnell den Kopf, ohne groß darüber nachzudenken. «Er war nicht für mich gedacht, ich würde gegen den Willen meiner Eltern gehen, wenn ich ihn lesen würde.» Sie sind auch gegen deinen Willen gegangen. Er sagte lange nichts und ich konnte wegen der Maske, die er trug, nicht verstehen, was er dachte. Er verstaute ihn wieder zwischen seinen Dokumenten und lehnte sich ein wenig zurück. Mit jeder Sekunde, die verging, spürte ich, wie meine Muskeln angespannter wurden.

«Elias», rief er mich plötzlich und ich zuckte zusammen. «Ja?», antwortete ich ein wenig zu laut. «Wie viel haben dir deine Eltern erklärt?» Seine Stimme wurde ernst, sodass ich noch nervöser wurde. Sag jetzt bloß nichts Dämliches. «Sie gaben mir einen Brief mit, in dem sie mir über euren Pakt schrieben. Ich muss für sie die Schulden abbezahlen, die sich in den Jahren angehäuft haben.» Er seufzte kurz und nickte. «Es tut mir leid, dass du hier mit herein gezogen wurdest.» Er klang traurig, wenn nicht sogar enttäuscht. «Das hätte nicht passieren sollen», flüsterte er zu sich selbst. Ein komisches Gefühl wuchs in mir, daher fragte ich ihn. «Gibt es ein Problem, mein Herr?» Er antwortete nicht sofort, was mich unruhig machte. «Ich muss dir etwas sagen, Elias.» Er setzte sich wieder gerade hin. «Deine Eltern haben den Vertrag zwischen ihnen und mir nicht eingehalten und haben das Einkommen, das sie mir übergeben sollten, für sich behalten.» Ich nickte. «Deshalb habe ich sie auf die Probe gestellt und einen neuen Pakt vorgeschlagen.» Dieses ungute Gefühl kam zurück, als er weiter sprach. «Ich wollte sehen, wie weit ihre Gier gehen würde. Anscheinend zu weit.» Er blieb kurz still und schien mich zu beobachten, er sagte: «Es war ein Test.»

Mein Kopf war leer, ich konnte keine klaren Gedanken fassen. Ein Test, es war ein Test gewesen, nur ein Test. «Das heißt, dass ich gar nicht hätte hierherkommen sollen?», schaffte ich ganz leise zu fragen. Er sagte nichts. «Das heißt, dass ich bei ihnen hätte bleiben können?», fragte ich weiter, aber diesmal lauter. «Das heißt, es war eine Lüge?» Diesmal öffnete er seinen Mund, aber ich ließ ihn nicht zu Wort kommen. Abrupt stand ich auf und schrie: «Das heißt, dass ich ein normales Leben hätte führen können?» Er zuckte nicht einmal. «Das alles wäre also nie passiert, wenn sie nur nach Ihrem Willen getanzt hätten, habe ich recht», schrie ich weiter. «Es tut mir leid», sagte er leise. «Es tut mir wirklich leid, Elias.» Ich war so wütend, so verdammt wütend, ich wusste nicht, was ich tun sollte. Das ist das erste Mal in diesen letzten Tagen, dass ich hätte weinen können, aber ich wollte es nicht zulassen.

«Elias, hör mir zu. Ich weiß, dass das alles für dich schockierend ist, aber es musste so kommen. Deine Eltern haben mir Unrecht getan, deshalb-» «Deshalb nimmst du ihnen ihr Kind?» Unterbrach ich ihn. «Elias, hör mir doch zu-» «Nein!», schrie ich und lief zur Tür. Als ich sie öffnen wollte, knallte sie ruckartig wieder zu. Ich drehte mich ein wenig und fand seine in schwarzem Lederhandschuh umschlungene Hand neben meinem Kopf, die die Tür geschlossen hielt. Ich drehte mich um und hatte ihn vor mir.

«Was ich jetzt sagen werde, wird dir vielleicht nicht gefallen, aber der einzige Grund, wieso deine Eltern dich auf die Welt gebracht haben, war wegen der Vereinbarung.» Das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Ich gab ihm einen harten Stoß und er stolperte ein wenig nach hinten. Ich ging aus dem Zimmer und lief so schnell ich konnte irgendwo hin, egal wo, ich musste von da weg. Ich lief die Treppe hinunter, den Eingang hinaus, ignorierte all die verwirrten Blicke und lief direkt zum Tor. Es war schwer zu öffnen, aber ich schaffte es trotzdem. Schau dir das mal an, niemand hält dich auf. Ich versuchte nicht auf die Stimme zu hören und lief einfach los. Ich versuchte der Straße zu folgen, die mich zurück nach Hause bringen würde, zurück zu meinen Eltern. Du meinst die, die dich verkauft haben? Tränen liefen mir die Wangen hinunter, während ich schnellen Schrittes lief. Du machst dir die Mühe für nichts, die wollen dich nicht. Ich fing an zu schluchzen und erhöhte mein Tempo, bis ich anfing zu rennen. Ich kannte diese Straße nicht, und genauso wenig wie diese Gegend, aber ich wollte so weit weg wie möglich. Der einzige Grund, wieso deine Eltern dich auf die Welt gebracht haben, war wegen der Vereinbarung. Ich hielt an.

Tränen liefen mir immer noch die Wangen hinunter, aber ich fühlte nichts, denn ich hatte es endlich kapiert, es war endlich in meinen Kopf eingedrungen.

«Elias? Alles in Ordnung?» Hinter mir stand plötzlich Dorothy, als wäre sie aus dem Nichts gekommen, aber ich war innerlich so müde, dass ich keine Lust hatte, darüber nachzudenken oder über etwas nachzudenken. Sie nahm mich sanft an die Hand und zog mich mit ihr. «Was ist passiert? Der Herr ist außer sich vor Sorge.» Ich antwortete nicht und folgte ihr. Sie hielt an, um sich zu mir umzudrehen. «Herrje …», flüsterte sie und trocknete mir mit ihren Ärmeln die Tränen von den Wangen. «Was ist bloß passiert?», fragte sie mich wieder, aber nichts kam aus mir raus. Sie zwang mich nicht, zu antworten und wir gingen schweigend zurück.

Ich wollte nichts essen, als sie mir es anboten und ich wollte nicht darüber reden, als sie mich fragend ansahen. Ich saß auf meinem Bett und starrte einfach ins Nichts. Es klopfte, ich antwortete nicht. Es klopfte noch mal, ich ignorierte es.

Die Tür ging auf. «Elias?» Ich erkannte die Stimme, verspürte aber keine Lust zu reagieren. Ich spürte, wie er sich neben mich hin saß. Er sagte eine Weile nichts und saß nur da.

«Wie geht es dir?», fragte er leise und irgendwie war seine Stimme noch sanfter als heute Morgen, so dass ich fast wieder anfing zu weinen. Ich schloss die Augen.

«Ich hätte das nicht sagen sollen, das war schrecklich von mir und ich kann verstehen, dass du von hier weg willst, aber…» Er machte eine kleine Pause. «Gib mir etwas Zeit, dann kann ich dir eine Bleibe finden. Ich werde dich dann so lange finanziell unterstützen, bis du auf eigenen Füßen stehen kannst.» Er stand langsam wieder auf und fügte hinzu: «Falls du aber doch noch hier bleiben möchtest, die Tür wird immer offen für dich sein.» Ich öffnete wieder meine Augen und drehte mich zu ihm. Er stand in der Tür und sah mich durch seine Maske an. Er sah angespannt aus, als würde er nicht wissen, was er als Nächstes tun sollte. Natürlich weiß er nicht, was er tun soll, du antwortest ihm ja nicht

«Was ist, wenn ich zurück will?», fragte ich leise. Ich sah, wie er seine Hand kurz zu einer Faust ballte, sie aber schnell wieder lockerte. «Das kann ich nicht zulassen, Elias. Solche Menschen haben dich nicht verdient.» Fang an, mit dem Gedanken zu leben, dass deine Wünsche mit Füßen getreten werden. Ich nickte und wandte mich wieder ab. «Bitte denk über meinen Vorschlag nach», sagte er zuletzt und verließ das Zimmer.

Die nächsten Tage vergingen wie im Flug. Ich stand auf, frühstückte, half ein wenig in der Küche, holte mir ein Buch und verkroch mich wieder in das Zimmer. Dorothy kam mich manchmal besuchen, aber ich hatte keine Energie für sie, auch Paul zeigte sich manchmal, aber er hatte viel zu tun, daher blieb er nur einige Minuten. So lebte ich Tag für Tag. Und verrottest Nacht für Nacht.

Ich habe dem Herrn immer noch keine Antwort zu seinem Angebot gegeben

Du lässt Leute gerne zappeln, was?

Ich hatte damit angefangen, dieses Buch zu studieren, das Matilda mir gegeben hatte. All die Fabelwesen ließen mich vergessen, wo ich war, und das hat mir in den letzten Tagen sehr geholfen.

Du versteckst dich in Kinderbücher, um der Realität nicht ins Gesicht sehen zu müssen?

Manchmal konnte ich nicht schlafen, daher blätterte ich durch das Buch und versuchte mir die Wesen vorzustellen.

Eines Nachts war ich mal wieder wach und las das Kapitel eines Wesens namens „Schattensucher“.

Ihre Merkmale waren: komplett schwarze Haut mit langen Krallen, mit denen sie jeder Kreatur den Schatten abschneiden konnten. Wenn das geschah, konnten die Schattensucher Besitz von der Kreatur nehmen, aber das geschah sehr selten, denn sie sind eigentlich friedliche Geschöpfe. Es gäbe einen Weg, um sie einzufangen. Sie waren nämlich sehr fasziniert von Schattenspielen. Sie konnten Stundenlang da sitzen, um den Schattenspielen zuzusehen, als wären sie in Trance. Es amüsierte mich lesen zu können, was andere Menschen mit ihrer wunderschönen Vorstellungskraft erschaffen konnten.

Auf einmal hörte ich ein Geräusch, es kam von draußen. Es war leise, fast überhörbar, und doch konnte ich es in dieser stillen Nacht hören. Ich lief zum Fenster und sah hinab. Da ging ein Mann, er war barfuß und trotz der kalten Nacht trug er nur ein weißes Hemd und dunkle Hosen. Seine Schritte waren schwer, als würde er sich selbst dazu zwingen zu gehen. Dann hielt er an. Er stand nur da und sah hinauf in den dunklen Himmel. Ich versuchte zu sehen, ob ich ihn erkennen konnte, aber im selben Moment drehte er sich um und ich duckte mich. Mein Herz raste und ich hoffte wirklich, dass er mich nicht gesehen hatte. Wer war dieser Mann? Einer der Bediensteten, den ich noch nicht getroffen hatte? Er sah so traurig aus. Sollte ich zu ihm runter gehen? Nein, auf gar keinen Fall, wie willst du ihm schon helfen? Du kannst dir ja selbst nicht aus deiner Misere helfen. Ich ging ins Bett. Vielleicht bildete ich es mir nur ein, aber als ich einschlief, hörte ich weinen.

Klopfen weckte mich aus meinem Schlaf und, ohne auf meine Antwort zu warten, kam Dorothy rein. «So kann das nicht weitergehen!», sagte sie ernst. «Aufstehen, Elias, heute werde ich dafür sorgen, dass du so viel zu tun hast, dass du dich nicht in deinem Kopf verkriechen kannst.» Ich war komplett überrascht und sah sie mit großen Augen an. Sie nahm sich meine Kleider vom Boden, da, wo ich sie gestern gelassen hatte, und schmiss sie mir aufs Bett. «Komm schon, wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.» Wie mir befohlen wurde, kleidete ich mich schnell an und folgte ihr rasch aus dem Zimmer.

«Heute wirst du nicht in der Küche aushelfen, sondern mir. Das bedeutet: Wäsche waschen, zum Trocknen raushängen, Zimmer reinigen, Fenster putzen, und so weiter und so fort.» Ich nickte nur.

Wir fingen damit an, dreckige Wäsche zu sammeln. Sie gab mir einen Korb, nahm sich auch einen und wir füllten sie, bis es richtig schwierig wurde sie zu tragen. Wir trugen sie in den Innenhof, wo andere Dienstmädchen gerade damit beschäftigt waren, Decken zu waschen. Sie hatten riesige Fässer, die mit Wasser gefüllt waren, in denen sie die Decken gelegt hatten, und nun einige Dienstmädchen mit nackten Füßen auf ihnen herum stapften. Sie lachten und schienen Freude daran zu haben. Andere Dienstmädchen waren damit beschäftigt, die schon gewaschene Wäsche auf Wäscheleinen zu hängen.

«Hier kommt noch mehr!», rief Dorothy, als wir uns näherten. Wir stellten die Körbe ab und sie fing an, mit den anderen zu quatschen. Ich stand da und wusste nicht, was ich mit mir selbst anfangen sollte.

«Elias, komm her», rief mich Dorothy zu sich. Sie sprach gerade mit eins der Dienstmädchen, die im Fass auf die Decken herum stampfte.

«Zieh dir die Schuhe aus», sagte sie mir plötzlich und ich sah sie verdutzt an, tat es aber trotzdem. Ich war nun barfuß und das andere Dienstmädchen reichte mir ihre Hand. Ich sah zu Dorothy rüber. Sie lächelte mich breit an.

«Es ist lustiger, als es aussieht, und es ist schön erfrischend.»

Ich nahm nervös ihre Hand und sie zog mich rein. Als meine Füße das schöne kalte Wasser berührten, fühlte ich, wie ein breites Lächeln auf meinem Gesicht wuchs. Das Dienstmädchen, das mit mir drin war, nahm mir die andere Hand und sagte: «Schau, wie ich es mache.» Ich sah runter auf ihre Füße und machte sie nach. Dorothy hatte recht, es fühlte sich so gut an und es machte wirklich Spaß. Ich weiß nicht, wie lange ich da drin war, aber ich fühlte mich so gut. Wir fingen an, über belangloses zu quatschen, während wir stampften.

«Elias, komm, wir haben noch anderes zu erledigen», rief Dorothy, die schon wieder ins Haus lief. Mit einem großen Sprung war ich auch schon aus dem Fass. «Komme!», rief ich zurück und verabschiedete mich von den anderen Damen. Als ich Dorothy erreichte, erklärte sie mir, was als Nächstes kam: «Ich bin heute für das Putzen des rechten Flügels des Schlosses zuständig, zumindest Teil davon. Das bedeutet, die Bibliothek, die Badezimmer, Pauls Büro und das Büro des Herren.» Ich hielt abrupt an. Ich war noch nicht bereit ihn zu treffen, er wird eine Antwort wollen. Ich hatte aber keine, und wenn er keine bekam, konnte er mich rausschmeißen und ich könnte das nicht ertragen, nicht noch einmal.

«Er wird nicht da sein», sagte Dorothy plötzlich, als hätte sie meine Gedanken gelesen. «Er hatte heute ein Treffen, daher wird er erst heute Abend wieder nach Hause kommen.» Ich seufzte erleichtert und folgte ihr in die Bibliothek. Da trafen wir auf Matilda, die Dokumente am Unterschreiben war. «Hallöchen Matilda, hoffentlich stören wir nicht», rief Dorothy laut und spazierte einfach hinein. Sie legte alle Putzutensilien auf den Tisch und fing an, mir ein paar Sachen in die Hand zu drücken.

«Du störst nie, Liebes», antwortete Matilda sanft. Sie trug einen dunkelbraunen, hoch taillierten Rock mit einem engen schwarzen Hemd mit hohem Kragen. Sie trug wieder ihr feuerroten Gurt.

Sie sah rüber zu mir. «Von Küchenmagd zu Dienstmädchen. Ein Karrierewechsel tut dir sicher gut.» Ich streckte ihr die Zunge aus und sie lachte entzückt. Dorothy gab mir einen Mob, mit dem ich den Boden reinigen sollte, während sie den Tisch schrubbte.

«Wie gefällt dir das Buch?», fragte mich Matilda. Ich drehte mich zu ihr und nickte. «Es gefällt mir sehr.» Sie schien zufrieden darüber zu sein.

«Aber ein Kapitel wurde herausgerissen.» Sie runzelte die Stirn. «Das war aber nicht ich, ich schwöre es», versuchte ich zu erklären, doch sie schüttelte den Kopf. «Leider weiß ich, wer es war», flüsterte sie und seufzte dann. Ich konnte nicht fragen, denn Dorothy sah mit gehobener Augenbraue zu mir rüber und zeigte dann auf den Boden. Ich fing wieder an, zu putzen.

Als endlich die ganze Bibliothek glänzte, gingen wir weiter. «Jetzt kommt das Büro des Herrn», sagte Dorothy und wir begaben uns sofort dorthin. Es war dunkel, denn er hatte die Vorhänge geschlossen, die Kerze, die auf dem Tisch war, war noch an. «Ach herrje …», brummte Dorothy und lief zum Regal, um es abzustauben. Ich wollte die Kerze löschen, aber eine riesige Lust etwas auszuprobieren kam über mich, und ich fing an, Schattenspiele an die Wand zu machen. Ich war immer sehr schlecht darin, weil meine Eltern es für Zeitverschwendung hielten. Nun, sie hielten alles, was Spaß machte, für Zeitverschwendung. Ich konnte nur eine Figur, die war auch die leichteste. Ich legte den Mittelfinger und den Ringfinger auf meinen Daumen und spreizte den kleinen Finger und den Zeigefinger. Der Schatten auf der Wand sah aus wie ein Fuchskopf und ich lachte leise. Ich drehte mich zu Dorothy, um es ihr zu zeigen, und das Lächeln verschwand aus meinem Gesicht. Sie stand da, wie in Trance, und starrte mit großen Augen auf die Wand. Sie bewegte keine ihrer Muskeln und blieb regungslos da stehen.

«Dorothy?» Sie reagierte nicht, und ich bekam langsam Angst. Ich bewegte langsam meine Hand weg und ihr Blick folgte dem Schatten auf der Wand. Das kam mir bekannt vor, hatte ich nicht etwas dergleichen in diesem Buch gelesen?

Lautes Knallen ließ mich zusammenzucken und Dorothy wieder zu Sinnen kommen. Noch ein lautes Knallen ließ uns alles liegen und stehen lassen und zur Tür eilen. Ich öffnete sie und stolperte fast, weil etwas an mir vorbeiflitzte. Es war so schnell, ich konnte kaum erkennen, was es war. Als ich einen Fuß in den Flur setzen wollte, rannte eine Person an mir vorbei, die laut rief: «Warte doch, ich will dir nichts tun!» Ich erkannte die Stimme sofort, so wie Dorothy.

«War das nicht der Herr? Was macht er noch hier?» Wir sahen zu, wie der Herr des Hauses den Flur runter rannte, um die Ecke bog und dann aus unserer Sicht verschwand. Wir waren komplett verwirrt und wussten nicht, was wir tun sollten, bis wir einen Schrei hörten und lautes knallen, es klang wie Porzellan. Wir eilten zu ihm und fanden ihn am Boden. Er war wohl beim Versuch, was auch immer er jagte, zu fangen, ausgerutscht und in eine Vase geknallt. Die Vase war nun zersplittert und lag auf dem ganzen Boden verstreut. Der Herr war bedeckt mit Erde und lag auf dem Rücken, während er die Kreatur mit beiden Händen weit weg von sich hielt, als hätte er es vom Aufprall schützen wollen. Es stellte sich heraus, dass der Herr des Hauses einen kleinen Fuchs gejagt hatte, der eine verletzte Hinterpfote hatte.

«Oh mein Gott!», schrie Dorothy entsetzt und rannte zu ihm. Er lachte nur und versuchte wieder aufzustehen. Er hielt den Fuchs ganz fest an seine Brust und streichelte ihn beruhigend.

«Was zum Teufel ist hier los?» Auch Matilda hatte den Unfall gehört und kam nun stampfend um die Ecke. Sie hielt an, als sie den Herren mit dem Fuchs sah und stöhnte laut. «Was machst du noch hier? Du solltest doch bei einem Treffen sein!» Er lachte verlegen.

«Baldrian, wie oft muss ich denn noch sagen, dass du nicht alles aufgabeln musst, nur weil es dich traurig ansieht.» Baldrian, das war also sein Name. «Du weißt genauso wie ich, dass ich das nicht kann», sagte er und lief an uns vorbei, immer noch mit dem Fuchs in seinen Armen. Irgendetwas verleitete mich dazu, ihm zu folgen.

«Was wollen Sie mit dem Fuchs jetzt tun?», fragte ich leise, als wir in ein Zimmer liefen, das ich noch nie betreten hatte. Es sah aus wie ein Schlafzimmer, schien aber kaum benutzt zu sein. Der Nachttisch war komplett leer, die Decke schien nur Staub zu fangen, die Kissen wussten wohl kaum, wie ein Hinterkopf aussah und von den Fenstervorhängen reden wir nicht.

«Wir werden ihr natürlich helfen», antwortete er mit seiner sanften Stimme. «Was ist mit Ihrem Treffen?», fragte ich ihn. Ich wusste, dass alle das schon gefragt hatten, aber aus irgendeinem Grund wollte ich Interesse zeigen. «Ein Treffen kann verschoben werden, so etwas nicht.» Ich nickte nur und versuchte etwas anderes zu finden, was ich fragen konnte. Bist du etwa so verzweifelt, dass du sogar bei ihm um Aufmerksamkeit bettelst? Ich biss mir auf die Unterlippe.

«Elias, könntest du mir helfen?» Ich sah zu ihm hoch und nickte. Er lächelte und mein Herz sprang wieder. Lass das! «Kannst du sie halten? Ich muss Verband holen.» Ich nickte wieder und er übergab mir sanft den Fuchs. Als er aus der Tür ging, setzte ich mich hin und fing an den Fuchs zu streicheln. Er wehrte sich nicht, was ich komisch fand, aber er zitterte. Er hatte sicher Angst, wer kann es ihm verübeln, er wurde von der Straße genommen und in ein riesiges Haus gebracht, das er nicht kannte.

Ich fing an zu summen, ein Lied ohne Name, eine Melodie ohne Geschichte. Ich sang ein Lied, das ich mir selbst beigebracht hatte, das einzige, was ich von mir aus lernen wollte. Ich streichelte ihn und nach einer Weile verging das Zittern des Fuchses langsam, aber ich hörte nicht auf zu singen, bis ich nicht seinen ruhigen Atem spüren konnte, was bedeutete, dass er eingeschlafen war. Ich lächelte zufrieden und sah hoch. Im Türrahmen stand Baldrian, komplett regungslos und sah zu mir. Sein Mund war offen und in seinen Händen trug er Verbände und andere Sachen für die Wunde.

«Das war wunderschön», flüsterte er und im Handumdrehen wurde mein Gesicht knallrot.

«Ich wusste gar nicht, dass du solch eine wunderschöne Stimme hast», fügte er hinzu. Er lief zu uns rüber und kniete vor mir nieder, um sich die Wunde anzusehen. Mein Herz raste und ich wusste nicht wieso. «Elias?» Wegen seiner Stimme würde ich noch irgendwann einen Herzinfarkt bekommen.

«Ja?», antwortete ich so ruhig wie möglich. «Danke.» Ich wusste nicht, wofür er sich bedankte, ich konnte aber nicht fragen, denn er schenkte mir so ein wunderschönes Lächeln, das ich sogar vergaß, dass der Rest seines Gesichtes hinter einer Maske verborgen war.

Der Herzinfarkt näherte sich schnellen Schrittes.

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