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Kapitel 1

Ich las den Inhalt des Briefes mehrere Male, mit der Hoffnung, dass ich es vielleicht nicht richtig gelesen hatte, aber je öfter ich es las, desto klarer wurde es. Meine Eltern hatten mich verkauft. Achtzehn Jahre lang hatten sie mich zum perfekten Produkt groß gezogen, um mich dann zu verkaufen. Ich hätte weinen sollen, wütend werden, toben, dem Kutscher befehlen umzudrehen, aber das tat ich nicht. Stattdessen blieb mein Blick von der Aussicht, aus meinem kleinen Kutschen Fenster gefesselt, und mein Kopf war leer. Ein kindlicher Gedanke kam in den Vordergrund, vielleicht ist es eine Überraschung? Ich lachte. Wie dumm musste man sein, um nicht zu verstehen, was hier vor sich ging. Die Tatsache war aber die, ich wollte es nicht verstehen. Ich wollte nicht verstehen, dass die Menschen, die mich in diese Welt gebracht hatten, das nur getan haben, um nicht herzugeben, was sie wie ein Schatz beschützten; wie sie ihren Sohn hätten beschützen sollen. Was sollte ich tun? Ich konnte nicht umdrehen und sie anflehen, es zu überdenken, denn ich konnte an ihren Gesichtern erkennen, dass sie nicht planten, mich je wiederzusehen. Ich hatte keine Verwandten, bei denen ich Unterschlupf suchen konnte, das einzige, was mir blieb, war mein Schicksal zu akzeptieren und nach vorn zu schauen, und das tat ich auch.

Die Kutsche hielt an, und daher der Sturm an Gedanken. Der Kutscher öffnete für mich die Tür und ich stieg schweigend aus. Vor mir lag mein neues Leben, was ich mir weder ersehnt noch verdient hatte. Der Kutscher legte die Koffer auf den Boden. Dann fuhr die Kutsche weg, ohne ein Gedanke daran zu verschwenden, zu fragen, ob es mir gut ergehen würde, aber wer konnte es ihm verübeln, er wurde dafür bezahlt, mich hierher zu bringen, mehr nicht. Mein Blick landete auf das Schloss vor mir, das vor einer riesigen Mauer umschlossen wurde, als würden sie dir Zeit geben wollen, zu überdenken, Eintritt zu bitten, aber diesen Luxus hatte ich nicht. Ich lief zum riesigen Holztor, als eine Krähe, die auf der Mauer saß, laut krächzte. Ich zuckte und sah zu ihr hoch. Sie flog weg, als unsere Blicke sich trafen und mein Herz schrie. Ich will auch wegfliegen, alles hinter mir lassen.

Das laute Quietschen des Tors riss mich aus meinen Gedanken und mein Kopf drehte sich nach vorn. Das Tor öffnete sich von allein und ließ mich eintreten. Der Innenhof war tot, kein Leben wuchs hier, oder wollte hier wachsen. Es gab nur einen Steinweg, der zum Haupttor führte. Mein Blick schweifte kurz über die ganze Burg. Alles war aus Stein gebaut, nur die Fenster waren aus Metall. Sie war nicht so groß wie in all den Erzählungen, und doch war sie imposant. Es gab einen riesigen Turm, der über alles andere ragte und auf mich hinab schaute. Bevor ich mir die Burg besser ansehen konnte, öffnete sich das Tor und ein älterer Mann streckte sein Kopf heraus. Er erschrak, als er mich sah und richtete sich nervös seine Brille auf der Nase. Er hatte nach hinten gekämmtes graues Haar und trug einen schwarzen Anzug mit weißen Handschuhen. Der erste Knopf seines weißen Hemdes, das unter dem Anzug hervorragte, war feuerrot und stach heraus.

«Wie kann ich Ihnen behilflich sein, junger Herr?», fragte er mich höflich.

Ich übergab ihm schweigend ein Stück Papier, das meine Eltern mir mit dem Brief auf die Reise gegeben hatten. Er nahm es überrascht an sich und studierte es einige Minuten lang. Seine Augen wurden groß und er sah wieder hoch zu mir. «Herrje…», flüsterte er kurz und winkte mich zu sich. «Kommen Sie rein, junger Herr.»

Mein Atem blieb stehen, als ich das Innere des Schlosses sah. Er strahlte Leben aus, als wäre der Innenhof nur eine Maske gewesen. An jeder Seite der Tür stand ein großer Topf mit wunderschönen Blumen, die Halle wurde von einem Leuchter erhellt, der ein warmes Licht ausstrahlte. Von der Tür bis zur Treppe streckte sich ein langer roter Teppich aus. Die Treppen führten zu einem Innenbalkon, der in zwei Gänge führte, an jeder Seite einen. Unter der Treppe gab es auch einige Türen, eine genau neben mir. Sie war weit offen und man konnte erkennen, dass es ein großer Speisesaal war.

«Junger Herr?» Die Stimme des Mannes riss mich aus meinem Staunen und ich drehte mich zu ihm. «Dürfte ich Ihren Namen erfahren?», fragte er mich sanft. Ich zeigte auf den Brief, den er noch in seiner Hand hielt, doch er schüttelte mit traurigem Blick den Kopf. «Er wird nicht erwähnt.» Ich wurde nicht wütend, mich überkam auch keine Lust zu weinen, ich nickte nur und sagte. «Elias.» Der Mann schenkte mir ein sanftes Lächeln und antwortete: «Freut mich Sie kennenzulernen, junger Herr Elias.» Ich lächelte zurück und er nahm mir die Koffer aus den Händen. «Ich werde Sie in Ihr Zimmer führen.» Er ging voraus und ich schleifte mich hinterher. Er schaute mich öfter an, als würde er etwas von mir erwarten, doch ich sagte kein Wort.

Wir kamen schweigend zu einem Zimmer, er öffnete es für mich. Es war geräumiger, als ich mir gedacht hatte, und noch dazu sehr einladend. Ich bekam ein großes Doppelbett mit weißen Lacken und kuscheligen Kissen. Es gab keine weiteren Möbel, aber es fühlte sich nicht wie ein kahles Zimmer an, sondern viel mehr wie ein noch nicht gemaltes Gemälde. Ich drehte mich zum älteren Mann und bedankte mich. Er schien noch etwas sagen zu wollen, daher wartete ich. «Junger Herr Elias, verzeiht mir, dass ich das sagen muss, nachdem Ihr eine lange Reise hinter Euch habt. Aber der Herr des Hauses kann Sie momentan nicht empfangen, weil er derzeit nicht hier ist.» Er versuchte, meinem Blick auszuweichen, doch es war mir egal. Ich wurde wie ein Objekt verlegt, und nun muss ich warten, dass mein neuer Besitzer sich dazu bewegte, das Produkt anzusehen.

«Ist schon gut», sagte ich nur und schloss die Tür, nachdem er sich verabschiedet hatte. Ich setzte mich auf das Bett, mein Kopf war leer. Fühlt es sich so an, verlassen zu werden? Ich sah aus dem Fenster und blickte in den klaren Himmel.

Klopfen ertönte und eine sanfte Stimme rief: «Junger Herr? Darf ich hereinkommen?» Ich wusste nicht, wer es war, sagte aber trotzdem: «Natürlich.» Eine junge Dame, etwa in meinem Alter, kam herein. Sie hatte blondes Haar, das sie in einen engen Dutt gebunden hatte, einigen Strähnen waren herausgerutscht. Ihre Augen erinnerten mich an Schokolade, denn sie waren groß, rund und dunkelbraun. Sie trug ein Dienstmädchen Kleid, das ihr wohl ein wenig zu groß war, denn ihre Ärmel bedeckten ihre Hände komplett. Um den Hals trug sie eine dunkle Halskette mit einem feuerroten Anhänger. Das Mädchen verbeugte sich, und sagte: «Möchtet Ihr etwas essen oder sollen wir ein Bad vorbereiten?» Ich hatte auf beides keine Lust, aber sie lächelte mich so lieb an, daher sagte ich: «Ich nehme gerne ein Bad, wenn das okay ist.» Ihr Gesicht strahlte, als sie erfreut nickte und hastig aus dem Zimmer lief. Ich wurde gerade wie ein Gast behandelt, was mich sehr verwirrte. Ich stand auf und ging raus in den Flur. Auch hier erstreckte sich ein Teppich den ganzen Gang entlang. Es gab mehrere Zimmer und neben jeder Tür stand eine Vase mit einer Blume drin. Die Blumen waren von verschiedener Art und doch harmonierten sie miteinander. «Junger Herr, das Bad ist vorbereitet.» Ich zuckte zusammen, als das Dienstmädchen auf einmal neben mir auftauchte. Sie lächelte mich breit an und machte Zeichen, ihr zu folgen.

Das warme Bad half mir, ein wenig meine angespannten Muskeln zu lösen. Nach dem Bad stand ich vor dem Spiegel und musterte mich eine Weile lang. Es stimmte wohl, dass der Körper die Emotionen widerspiegelte. Meine schwarzen Haare waren glanzlos und matt, meine stahlblauen Augen, trübe. Ich zog mich schweigend wieder an und trat aus dem Bad. Das Dienstmädchen wartete draußen und begrüßte mich mit einem Lächeln.

«Wie fühlen Sie sich?», fragte sie, und ich musste leicht lachen. Sie war die Erste, die mich das fragte, und ich wusste nicht, wie ich ihr antworten sollte.

«So nebenbei, ich heiße Dorothy. Wie heißt Ihr?» Sie strahlte und war voller Energie. «Elias», antwortete ich ihr leise und lief ohne wirkliches Ziel den Gang entlang, Dorothy lief mir hinterher. «Wo wollt Ihr hin, Elias?», fragte sie mich neugierig, und ich zuckte mit den Achseln. Wir liefen bis zum Innenbalkon und ich sah hinab. Ich sah viele Bedienstete umherlaufen und ihrer Arbeit nachgehen. Sie lächelten und schienen glücklich zu sein. Glücklich, kann ich das auch? Hier, an einem Ort, den ich nicht als Zuhause sehen kann? Ich drehte mich zu Dorothy und sie lächelte mich an. Ihre Schokoladenaugen strahlten vor Freude und Lebenswillen, ich musste wegsehen. «Möchten Sie etwas essen, Elias?» Ich nickte und folgte ihr die Treppe hinunter.

Wir gingen in den Speisesaal. Sie sagte mir, ich solle mich hinsetzen und dann verschwand sie hinter einer Tür. Von den Geräuschen her nahm ich an, dass es die Küche war. Jemand anderes kam in den Speisesaal und sagte: «Wie nett, ein neues Gesicht!» Es war ein Mann mittleren Alters, mit kurz geschnittenen braunen Haaren und einem Vollbart. Am linken Ohr trug er einen Ohrring, auch der feuerrot. Er trug eine weiße Schürze, die mit Blut befleckt war, den Grund dafür hielt er in seiner rechten Hand. Meine Augen wurden groß und ich schluckte schwer.

Eine geköpfte Gans.

«Wie heißt du mein Junge?», fragte er freundlich, aber kein Wort kam aus mir raus, mein Blick gefesselt vom armen Tier in seiner Hand. Er sah auf die Gans hinab und fing dann an zu lachen. «Ein Prachtexemplar, meinst du nicht auch?» Er war stolz auf seine Tat, und mir fiel das Atmen schwer. In dem gleichen Moment kam Dorothy mit einem Teller rauchender Suppe aus der Küche und summte vor sich hin. Sie hielt an, als sie den Mann sah. Empört, stellte sie den Teller ab und lief zu ihm rüber. «Frederick! Wie oft müssen wir dir das noch sagen, dass du nicht durch den Speisesaal gehen sollst, wenn das Tier noch tropft? Wer, glaubst du, muss dann sauber machen?» Frederick lachte nervös und huschte hastig an ihr vorbei, direkt in die Küche. Dorothy schob den Teller zu mir rüber und sagte: «Hoffentlich schmeckt es.» Ich bedankte mich und fing an zu essen.

Mein Bauch war voll, ich hatte frisch gebadet, und nun hatte ich keine Ahnung, wie ich diesen Tag schneller vergehen lassen konnte. Dorothy quasselte schon seit einer Weile, aber ich hatte aufgehört zuzuhören, denn ich war müde. Vielleicht war ‘erschöpft’ der bessere Ausdruck, ich weiß es nicht. Aber ich bekam mich nicht dazu, ins Bett zu gehen. Wir waren im Zimmer, das sie mir gaben, ich saß auf dem Bett und Dorothy plante eifrig, wie wir das Zimmer gestalten sollten. Ich beobachtete sie, als sie mir versuchte zu erklären, wie sie die Stühle für einen eventuellen Teetisch positionieren würde.

«Wieso arbeitest du hier?», fragte ich sie aus dem Nichts. Sie sah mich überrascht an. Ihre Stille ließ mich befürchten, dass ich eine Linie überschnitten hatte, doch sie antwortete mir mit einem traurigen Lächeln. «Weil ich hier das Gefühl bekomme, dass ich in diesem Leben von jemandem gebraucht werde.» Die Antwort überraschte mich sehr. «Ihr dürft nicht den Gerüchten glauben, Elias. Das ist nicht die Hölle, dieser Ort schützt uns vor der Hölle, die Hölle, die Ihr Welt nennt.» Ich war sprachlos. Ich konnte es nicht verstehen, wie konnte ein Ort, der als Tor zur Unterwelt beschrieben worden war, so ein zärtlicher Ausdruck auf ihrem Gesicht erscheinen lassen. Sie schaute kurz aus dem Fenster und sagte dann. «Es wird langsam dunkel, möchten Sie zu Abend essen, Elias?» Ich schüttelte den Kopf. Sie verabschiedete sich und, bevor sie aus der Tür trat, sagte sie mir. «Ich hoffe, dass auch Sie, Ihr Glück hier finden werden.» Und dann war sie fort. Ein Lächeln huschte über meine Lippen. Glück, als ob das eine Option für mich ist. Ich schmiss mich aufs Bett und lag regungslos da. Das würde von nun an mein Leben sein, hier, mit Menschen, die ich nicht kannte, mit dem Hintergedanken, dass ich eine Klausel eines Vertrags war. Ich schloss die Augen und ein kleines Stück meines Herzens hoffte, dass das alles ein schlimmer Traum war.

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