Kapitel 5 Kevins Welt: Gedächtnisverlust
Kevins Welt
Entgeistert betrachtete ich das wilde Treiben in unserem Aufenthaltsraum. Nick war dabei eine zweistellige Anzahl an Schülern hin und her zu scheuchen. Nachdem unsere Eltern außer Haus waren, dauerte es nicht einmal zehn Minuten, bis ungefähr fünfzig Schüler an unserer Haustür klingelten, um bei uns zu feiern. Allesamt dachten tatsächlich es wäre ihre Idee gewesen. Es war einfach unglaublich. Sogar eine Schülerband hatte er gefunden, die an diesem Abend spielte. Eins musste man Nick lassen, wenn er etwas machte, dann aber richtig. Ich kannte niemanden, der seine Kraft in solch enormen Mengen einzusetzen vermochte. Eine Fähigkeit war nämlich keinesfalls in unendlichem Maße vorhanden. Wenn sie zu oft eingesetzt wurde, brauchte man stets eine gewisse Regenerationszeit. Zumindest hatte ich das gehört. Leider hatte ich selbst keine Fähigkeit vererbt bekommen. Ich schaute zu meiner Schwester hinüber, die Nick mit großen ängstlichen Augen betrachtete. Sie hielt sich wacker. Wäre ich gezwungen einen derart mächtigen Hexer zu ehelichen, hätte ich spätestens jetzt schreiend das Weite gesucht. Sina hatte meinen fassungslosen Blick ihrem Bruder gegenüber offenbar bemerkt, denn sie schmunzelte mich amüsiert an. „Mein Bruder hat nicht viele Hobbys“, äußerte sie, als würde dies, dieses abgedrehte Schauspiel erklären. Dabei schlug mir eine Alkoholfahne entgegen, die sich gewaschen hatte. Sina hielt nun schon den zweiten Becher, mit irgendeiner übelriechenden Flüssigkeit darin, in den Händen. Überhaupt schien sie alles andere als beeindruckt von Nicks Fähigkeiten, als würde sie so etwas ständig erleben.
Ich öffnete meinen Mund um etwas zu erwidern, doch meine Schwester kam mir zuvor. „Langsam bekomme ich ein ungutes Gefühl“, flüsterte sie mit belegter Stimme. „Sag mir, dass er weiß, was er da tut.“ Sina legte freundschaftlich den Arm um Laras Schultern und kicherte: „Oh, im Ärger machen, ist mein Bruder Spitzenklasse. Die Chancen stehen 60/40, dass du ihn nach diesem Abend nicht mehr heiraten musst. Ich kann dir nur nicht versprechen, dass dieses Haus dann noch steht.“ Doch meine Schwester lächelte keineswegs über ihren Scherz. Fast so als würde sie in den Kampf ziehen, verengten sich ihre Augen zu Schlitzen. Die Band begann zu spielen und die Schüler stürmten sogleich auf die improvisierte Tanzfläche. Nick hatte sie offenbar so manipuliert, dass sie von Anfang an voll los legten. Nun kam er, mit zwei Bechern bewaffnet, auf Lara und mich zu. Mit spitzbübischem Grinsen sagte er: „Oh Mann, ihr Beide macht ja ein Gesicht. Das hier wird euch etwas auflockern.“
„Sollten wir nicht lieber nüchtern bleiben? Sonst verplappern wir uns nachher noch vor unseren Eltern“, sagte Lara, ungewohnt oberlehrerinnenmäßig. „Und ich hab gedacht dein Bruder sei der Langweiler von euch Beiden“, scherzte Nick und knuffte mich in die Seite. Mit einem breiten, provozierenden Grinsen hielt er mir das Getränk direkt vor die Nase. „Hier für dich.“ Trink es doch selbst, du arroganter Arsch. Zumindest hätte ich das nur zu gerne zu ihm gesagt. Stattdessen starrte ich ihn lediglich mit offenem Mund an und bekam mal wieder keinen anständigen Satz heraus. Wie ich das hasste. „Ach verdammt, gib den Fusel schon her“, äußerte Lara genervt und roch an dem Becher. Scheinbar roch er nicht schlecht, denn sie setzte an und trank ihn in einem Zug aus. Lara war schon immer die mutigere von uns Beiden. Meine Augen wanderten zu Sina hinüber. Unsicher schmunzelte sie mich an. Mit ihren bildschönen blauen Augen und blonden Haaren sah sie aus wie ein Engel. Ich hatte solch ein Glück sie heiraten zu dürfen. Das war alles andere als selbstverständlich. Sie würde mich sicher für einen Loser halten, wenn ich jetzt nicht trank. Ich musste ihr einfach beweisen, dass ich es wert war, dass man mich ehelichte. Also nahm ich den Becher und ...
Am nächsten Morgen
Mit hämmernden Kopfschmerzen erwachte ich in meinem Bett. Was war geschehen? Das letzte woran ich mich erinnerte, war der Moment, als ich aus Nicks Becher getrunken hatte. Und dann war da nur noch Dunkelheit. Ich schaute neben mich auf die andere Seite des Bettes. Sina war nicht da. Was hatte ich gestern getan? Ich erinnerte mich an absolut gar nichts. Hoffentlich war es nichts Peinliches. Eigentlich hatte ich dem Ganzen nur zugestimmt, weil Sina es wollte und weil ich die Vorstellung einmal mit ihr auf eine Party zu gehen spannend fand. In meiner Phantasie hatte ich mir vorgestellt, dass wir uns auf dieser Party näher kamen, uns vielleicht sogar ineinander verliebten. Ich ging zum Zimmer meiner Schwester und klopfte vorsichtig an. „Ich bin es, Kevin.“ „Äh, komm nicht rein“, antwortete sie mit ängstlicher Stimme. Es raschelte und kramte stürmisch hinter der Tür, während ich geduldig wartete. Dann öffnete Lara sie schließlich. Mit großen Augen sah sie mich an. „K ... Komm rein.“ Ich trat ein und schaute mich in ihrem Zimmer um. Irgendwie sah es ziemlich wüst aus. Überall lagen Klamotten herum. „Weißt du was gestern passiert ist?“, fragte ich ohne Umschweife. Schockiert starrte Lara mich an. „Sag nicht, du erinnerst dich ebenfalls an nichts?“ Was? Bedeutet das, sie weiß auch nicht was geschehen ist? Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass so etwas geschieht? „Was ist das letzte, woran du dich erinnerst?“, bohrte ich nach.
Laras Gesicht färbte sich allmählich rot, als wäre ihr die Antwort peinlich. „Das letzte was ich weiß ist, dass ich einen Drink zu mir nahm und dann ...“ Sie stockte. „Und dann was?“ Nick hat uns die Getränke geholt. Wäre es möglich, dass er ...? „Ich bin heute Morgen allein und nackt in meinem Bett aufgewacht“, antwortete sie aufgeregt. Nick! Was hat er mit meiner Schwester angestellt? „Denkst du, dass du und Nick ...?“ „Oh Gott, sag sowas nicht“, unterbrach Lara mich mit gequältem Gesicht. „Lara, das ist ernst! Wir müssen heraus bekommen, was er mit uns gemacht hat", rief ich, während ich nach Draußen stürmte. Wenn ich diesen Arsch sehe, mach ich ihn fertig! Aufgeregt lief Lara hinter mir her. „Was? Warte!“ Doch als ich Unten im Aufenthaltsraum ankam, saß dort lediglich unsere Mutter. Und sie sah alles andere als Glücklich aus. Ich schaute in die Augen meiner Schwester. Sicher dachten wir Beide gerade genau das gleiche. Sie hatten die Verlobung gelöst. Nur so war es zu erklären, dass niemand von der Matoni-Familie hier war. Für meine Schwester war das sicher eine tolle Nachricht ...
„Setzt euch!“, befahl unsere Mutter in säuerlichem Ton. Das war ungewöhnlich. Normalerweise ließ sich unsere Mutter nicht so schnell aus der Ruhe bringen. Was hatten wir nur getan? Lara und ich setzten uns gegenüber meiner Mutter auf die Stühle. „Was habt ihr euch nur dabei gedacht?" Schuldbewusst schaute ich auf die Tischplatte, obwohl ich noch nicht einmal wusste, worum es ging. „Es tut mir Leid“, antwortete ich. „Das will ich auch hoffen. Wenn Herold es dem Hexen-Rat erzählt sind wir geliefert“, schimpfte meine Mutter. Bei ihrer ungewohnt wütenden Stimme zuckte ich sogleich zusammen. Ich konnte mich noch nicht einmal richtig verteidigen, da ich nicht wusste, was sie meinte, also verwendete ich das einzige, was ich wusste. „Es war Nick. Er hat irgendetwas mit uns gemacht.“ Ungläubig schüttelte meine Mutter den Kopf. „Wälze es nicht auf Andere ab.“
Nun fragte Lara, mit etwas zu viel Hoffnung in der Stimme: „Heißt das wir heiraten nun doch nicht in die Matoni-Familie ein?“ Unsere Mutter seufzte: „Herold will nochmal mit Kevin reden, aber ich denke wir konnten die Sache bereinigen.“ „Oh“, seufzte Lara enttäuscht. Irgendwie hörte es sich die ganze Zeit so an, als wäre ich allein schuld an dem Ganzen. Meine Kehle schnürte sich immer mehr zu. Ich musste herausfinden, was ich getan hatte. In dem Moment öffnete sich die Eingangstür. Herold und Sina betraten den Raum. Ziemlich bedrückt wirkend, lief Sina die Treppe hinauf, und vermied es dabei konsequent Lara und mich anzusehen. Und noch immer keine Spur von Nick. Das war äußerst eigenartig. Mit finsterer Miene setzte Herold sich zu uns an den Tisch. Fast zeitgleich schnappte meine Mutter sich Laras Hand und zog sie nach oben. „Wir lassen euch Beide mal allein.“ Nein, das konnte nicht ihr Ernst sein. Sie wollte mich mit ihm allein lassen. Dieser Typ war mir mehr als unheimlich. Fast noch schlimmer als sein gestörter Sohn. Seine dunklen Augen fixierten mich kritisch, während sich die Anderen aus dem Staub machten. „Ihr habt es nicht geschafft, falls du dich das fragst.“
Irritiert stierte ich ihn an. „Geschafft? Was?“ „Tu gefälligst nicht so blöd. Die Hochzeit, sie wird stattfinden. Wir mussten sie lediglich um eine Woche verschieben.“ Nun wurde es mir allmählich klar. Darum ging es die ganze Zeit. Nick wollte die Hochzeit verhindern. Enttäuschung stieg in mir hoch. Sina ... hat sie da mitgemacht? Fand sie es wirklich derart schrecklich mich zu heiraten, dass sie mir so etwas antat? „Weißt du meine Tochter ist etwas Besonderes“, fuhr Herold fort. Schnell erwiderte ich: „Ich weiß. Ich mag sie sehr.“ Schüchtern schaute ich auf die Tischplatte. Nur dass Sina offenbar ganz anders empfand. Doch Herold ging nicht weiter darauf ein. Stattdessen sprach er mit gefährlich klingender Stimme weiter: „Ich erwarte von dir, dass du alle Pflichten eines Ehemannes erfüllst.“
Fragend blickte ich auf, irgendwie auf eine nähere Erläuterung wartend. Was zum Teufel meinte er damit? „Natürlich, ich würde alles für sie tun. Ich gebe Ihnen mein Wort." Herold holte tief Luft. „Die Ahnenreihe der Matonis muss unter allen Umständen fortbestehen.“ Überrascht riss ich die Augen auf. Darum ging es? Ich soll Kinder zeugen. Natürlich wusste ich, wie viel Wert bei uns Hexen darauf gelegt wurde. Keiner konnte so genau sagen woran es lag, doch wir Hexen hatten schon immer echte Probleme, was das Kinderkriegen anging. Mehr als zwei Kinder schaffte keine Familie. Es wurde vermutet, dass ein alter Hexenfluch der Grund war, doch das war nichts als Spekulation. Wenn eine Familie es schaffte zwei Kinder in die Welt zu setzen wurde sie hofiert, bei einem Kind toleriert und bekam man bis zum fünfunddreißigsten Lebensjahr gar kein Kind, wurden die Privilegien entzogen. Wenn man Glück hatte, wohnte man dann bis die Eltern starben in dessen Haus. Denn die Familienfähigkeit konnte dann nicht weitergereicht werden. Wie kam er nur darauf, dass ich mir dessen nicht bewusst war? „Ich ... Ich weiß“, stammelte ich unsicher.
Herold beäugte mich grimmig, ohne auch nur einmal davon abzulassen. Vor Scham immer mehr errötend, fügte ich hinzu: „Ich habe keinerlei Probleme, was das angeht. Das verspreche ich.“ Mit abschätzigem Blick nickte er und stand auf. „Das will ich hoffen. Ich habe schon genug Ärger mit meinem anderen Kind. Mir ist nicht klar, wie er es gemacht hat. Doch die Sache schreit geradezu nach diesem ...“ Er brach ab, als müsste er sich zurückhalten nichts Schlimmes zu sagen und stapfte zähnefletschend davon. Wow, das klang ja nicht sehr nett. Kein Wunder, dass sein Sohn ein Psycho war, bei dem Vater. Ich musste schleunigst zu Sina. Irgendetwas hatte ich getan und ich musste erfahren was es war, damit ich es bereinigen konnte. Wer weiß für was für einen Unhold Sina mich nun hielt.
Ich klopfte an Sinas und meine Tür, doch zu meiner Überraschung wurde diese von meiner Schwester geöffnet. Natürlich, Lara wollte ebenfalls wissen, was sie getan hatte und Sina wusste mit Sicherheit irgendetwas. Mit bedrückter Miene ließ meine Schwester mich herein, während Sina gedankenversunken aus dem Fenster schaute. „Was ... was habe ich getan?“, fragte ich unsicher in Sinas Richtung. „Du weißt es doch, oder?“
Sina drehte sich zu mir um. Tränen glitzerten in ihren Augen. Instinktiv ging ich zu ihr, wollte ihre Tränen weg wischen, wollte diesen unschuldigen süßen Engel trösten. Ich hob meine Hand. Doch halt, sie war nicht unschuldig. Es war von Anfang an so geplant gewesen. „Du willst mich nicht heiraten, stimmt's?“, fragte ich traurig. Nun brach Sina vollends in Tränen aus. „Es tut mir Leid. Es ist einfach vollständig außer Kontrolle geraten. Ich hätte doch nie gedacht, dass mein Bruder so weit geht.“ Mein Herz schlug mir bis zum Hals, als ich antwortete: „Erzähl es uns bitte. Wir versprechen, wir werden bis zum Ende und vollkommen unvoreingenommen zuhören.“ Mein Blick wanderte zu meiner Schwester. Diese nickte und ließ sich seufzend auf das Bett fallen. „Erzähl uns, was dieser Schweinehund getan hat.“
Sina atmete tief ein und wischte sich über die Augen. „Nun eigentlich verlief zunächst alles nach Plan ...“