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Kapitel 6 - Schicksale

Rae sitzt einfach da und schluchzt. Ihre Schultern beben und Tränen finden ihren Weg, um schließlich als kleine, nasse Flecken auf dem Küchenboden zu enden.

Ich weiß nicht, was ich tun soll. Wie kann ich sie trösten?

Egal, wie lange ich schon hier bin, ich weiß nicht, wie ich reagieren soll, wenn jemand weint.

Also stehe ich im Türrahmen und überlege, was ich tun kann. Ich sage nichts.

Nach einigen Minuten sieht Rae auf. Ihre Augen sind gerötet und noch immer fließen die Tränen.

"Wieso mussten sie sterben?", fragt sie zwischen zwei Schluchzern und wischt sich mit dem Handrücken über die Augen.

"Das ist der Lauf der Dinge", sage ich. "So ist das Leben. Irgendwann muss jeder einmal sterben."

Für eine Sekunde ist es völlig still.

"Aber das ist nicht fair", murmelt sie dann leise. "Das Mädchen war so jung, sie hatte ihr Leben noch vor sich. Wieso jetzt schon? Wieso?"

"Ich weiß es nicht", gebe ich zu. "Und ehrlich gesagt will ich es auch nicht wissen."

"Wieso lässt dich das so kalt? Da sind Menschen gestorben, Blaze! Ein Kind ist gestorben, vor deinen Augen! Und du... du bleibst so kalt! Wieso?" Aufregung. Missverständnis. Abscheu?

"Sie sind nicht die ersten, die gestorben sind und sie werden auch nicht die letzten sein. Ich habe es dir schon mal gesagt. Wenn ich um jeden weine, der einen tragischen Tod stirbt, dann habe ich irgendwann keine Tränen mehr übrig." Meine Stimme ist ruhig. Ich habe um diese Leute geweint, obwohl ich sie nicht kenne, auch, wenn es nur wenige Sekunden und wenige Tränen waren. Aber es ist nun einmal so. Man kann nicht jeden retten und beschützen, so funktioniert das nicht. Es ist tragisch, ja, aber leider auch alltäglich.

Sie sagt nichts mehr, sieht mich einfach nur an.

Nach einigen Sekunden der Überwindung bewegt sich mein Körper in ihre Richtung. Ich hocke mich neben sie, lege ihr meine Hand auf die Schulter.

"Es wird immer Tragödien geben. Wieso ich so kalt bleibe? Tue ich nicht. Ich versuche nur, nicht bei jedem Problem, das auftritt, selbst Schaden zu nehmen. Denn das würde irgendwann jeden brechen."

Sie sieht mir ins Gesicht, hält meinen Blick mit ihren Augen fest. Noch immer schweigt sie.

"Ich hoffe, du verstehst mich jetzt ein wenig besser", kommt es über meine Lippen.

Noch immer sieht sie mich bloß an, bis sie irgendwann erneut ihre Tränen fortwischt und sich zu einem Lächeln zwingt.

"Ich verstehe dich und ich verstehe dich nicht", lächelt sie. "Du bist mir ein Rätsel. Aber..." Sie schluckt. "Ich will nicht mehr an diese verdrehten Körper und das viele Blut... die toten Augen denken. Wie kann ich das vergessen?" Ihr Blick ist hoffnungsvoll.

Ich zucke mit den Schultern. "Gar nicht. Du wirst damit leben müssen." Vorsichtig lege ich meinen Kopf an die Wand hinter mir und schließe die Augen. "Aber es wird irgendwann leichter werden... meistens jedenfalls."

Rae seufzt. "Ich werde diesen toten Blick nicht mehr los..."

"Mit Sicherheit geht es nicht nur dir so..."

Etwas schweres legt sich gegen meine Schulter. Als ich die Augen öffne, sitzt Rae an meine Schulter gelehnt da.

"Denkst du, der Mann wird es schaffen?"

Zögernd lege ich ihr eine Hand auf den Scheitel. Ich habe mal gehört, dass das helfen soll. Sicher bin ich mir nicht.

"Wird er. Aber er wird sich sein Leben lang fragen, was gewesen wäre, wenn sie alle das Ganze etwas anders gemacht hätten. Sie haben sich gestritten. Das hat man in ihren Gesichtern gesehen. Ich schätze..." Ich atme ein. "Ich schätze, sie waren einfach zur falschen Zeit am falschen Ort. Das kommt vor."

Ich weiß nicht, ob meine Worte ihr helfen oder ob sie es nur schlimmer machen - irgendwie, aber Rae scheint ruhiger zu werden. Ihr Atem wird gleichmäßiger und die Tränen versiegen langsam.

"Ich weiß, dass du recht hast. Ich sollte mich nicht so fühlen, ich habe niemanden verloren. Aber es ist trotzdem furchtbar", sagt sie nur. Dann richtet sie sich etwas auf und sieht mich an. Ihre Stimme ist noch ein wenig brüchig, als sie weiterspricht.

"Also. Das Tattoo. Hat es eine bestimmte Bedeutung?"

Irritiert sehe ich der jungen Frau neben mir ins Gesicht.

Ihr Menschen seit wirklich sonderbar, lieber Leser. Ihr wechselt zwischen den Emotionen wie der Wind die Richtung wechselt. Ich verstehe euch nicht und dabei bin ich schon so lange hier.

"Sag schon." Raes Stimme ist fester als vorhin. Sie will sich ablenken, glaube ich wenigstens. Die Erinnerung vertreiben.

Ich beschließe, darauf einzugehen.

Mit den Fingerspitzen fahre ich die Konturen der Schlange nach. "Man gab mir vor einiger Zeit einen Namen. Er hat mir gefallen, ebenso wie die Geschichte, die dazu gehört. Ich mag es. Die Schlange gehört irgendwie dazu."

"Eine schöne Schlange", kommentiert sie leise. "Was für ein Name?"

Das bringt mich zum Schmunzeln. "Einer von vielen", lautet meine Antwort. "Aber einer, der mir gut gefällt."

"Kenne ich den Namen?"

"Ich denke schon, ja. Viele kennen ihn."

"Wirst du mir ihn irgendwann sagen?" Ihre Augen sind voller Neugierde. Das wässrige Glänzen ist verschwunden.

"Eines Tages, vielleicht." Ich lächle.

"Ein bekannter Name in Kombination mit einer Schlange", wiederholt sie. "Ich denke, dass ich das selbst herausfinden kann."

Mir entfährt ein leises Lachen. Es gefällt mir, dass sie so zielstrebig und Neugierig ist. Vielleicht bietet sich mir gerade die Möglichkeit, doch noch etwas zu erleben, das ich bis dato noch nicht kannte.

"Dann werde ich darauf warten, dass du mir deine Funde präsentierst", grinse ich belustigt. "Aber lass mich nicht zu lange warten."

Sie lacht auf. Mit einem Ruck stößt sie sich von der Wand ab und richtet sich auf. Nun hält sie mir eine Hand hin und bedeutet mir, aufzustehen.

"Ich habe Hunger", erklärt sie. "Kannst du kochen?"

Erneut muss ich schmunzeln. "Ich habe es gelernt, ja. Aber gut schmeckt es wahrscheinlich nicht."

"Wenigstens etwas." Ihr Grinsen lässt ihr Gesicht erstrahlen. "Ich dachte schon, ich müsste verhungern."

"Was bringt dich auf den Gedanken, dass ich dich bekoche?", frage ich belustigt.

"Nur so ein Gefühl", erwidert sie mit einem Zwinkern.

Sie soll Recht behalten.

Keine halbe Stunde später sitzen wir vor einer simplen Bolognese, die ich aus Resten zusammengekocht habe.

Es schmeckt nicht großartig, aber es füllt den Magen.

Wenigstens etwas.

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