Kapitel 5 - Die Schlange
"Aber schön", gibt Rae klein bei. "Dann nenne ich dich eben Blaze. Zumindest bis dir etwas Besseres einfällt."
Ich sage nichts. Ist vielleicht besser so. Sonst sage ich noch etwas, das ich nachher bereue.
"Also, Blaze. Weiter geht's."
Ich muss zugeben, der Name Blaze gefällt mir auch nicht wirklich gut. Aber diese furchtbar normalen Namen sind einfach zu langweilig. Rae hat schon Recht, ich bin nicht gut darin, mir Namen auszudenken. Aber was solls.
Nun, was gibt es noch zu sagen? Der Tag ist verflucht schnell verstrichen. Ich konnte mich kein einziges Mal auf meine Theorien und Forschungen konzentrieren, da Rae mich kontinuierlich ausgefragt hat.
Ich glaube nicht, dass sie bereits ahnt, wer oder was ich bin, dazu bin ich bei meinen Antworten zu vage geblieben. Es ist vielleicht besser so. Allerdings ist sie ein recht cleveres Mädchen, sie wird von selbst irgendwann dahinter kommen. Bis dahin habe ich allerdings noch etwas Zeit, um endlich zu verschwinden. Auch wenn ich nicht glaube, dass das so bald passieren wird.
In diesem Moment starre ich gerade missmutig in Richtung meines Schreibtisches im Nebenzimmer, während Rae sich etwas umsieht.
"Ich geh mir noch einen Kaffee holen", brumme ich in Richtung Rae und schiebe mich hastig aus dem Zimmer und verschwinde durch die Haustür nach draußen.
Mir schlägt die warme Mittagsluft entgegen. Es ist später Sommer, eine für meinen Geschmack zu warme Jahreszeit. Die Jacke kann ich dann wohl im Haus lassen. Und vielleicht sollte ich mir etwas anderes anziehen.
Also wieder zurück ins Haus und mit einem T-Shirt auf in Runde zwei.
Irre ich mich oder ist es noch wärmer geworden? Himmel, das ist ja grauenhaft...
Eine Schweigeminute für den unsterblichen Gesellen, der in eine dicke, schwarze Kutte gekleidet in dieser Hitze vor sich hinvegetieren muss.
Aber mir solls egal sein. Und trotz dieser Hitze will ich meinen Kaffee. Ich brauche mein Koffein und Energydrinks sind mir persönlich eindeutig zu süß und zu chemisch im Geschmack.
Ich recke meine Arme in den Himmel und strecke mich einmal gründlich. Das tut gut.
Dabei fällt mein Blick auf das Schlangentattoo, das sich um meinen linken Unterarm windet. Der Kopf der Schlange liegt ein Stück über meinem Handgelenk vor dem Handrücken, die Schwanzspitze endet an meinem Ellenbogen.
Ich habe die Schlange einem der Namen zu Ehre stechen lassen, die mir vor vielen Jahren gegeben wurden. Das war allerdings vor langer Zeit.
Damals nannten sie mich Loki. Ich wurde als Vater der Midgardschlange bezeichnet, die so gewaltig sein soll, dass sie einmal um die Erde reiche.
Nicht, dass das unbedingt der Wahrheit entspricht. Die einzige Schlange, mit der ich je etwas zu tun gehabt hatte, war eine Teppichpython namens Domino - und die war mein Haustier.
Ich mochte lediglich die Geschichten, die sich um den Namen Loki rankten.
Noch viele andere Namen konnte ich mein Eigen nennen, ich hatte meine Fußspuren überall in der menschlichen Geschichte hinterlassen und nicht auf alle war ich stolz.
Das einzige, was ich sicher sagen konnte, war, dass ich seit Ewigkeiten der einzige Gott war, der sich hier blicken ließ.
Zumindest war mir kein anderer bekannt.
Die meisten meiner Namen hatte ich vergessen. Das soll schon einmal vorkommen, ist schließlich ein ganzer Haufen.
Ich ließ meine Arme wieder fallen und begann, dem Gehsteig zurück bis zur Kreuzung und dem Starbucks zu folgen.
Die Kreuzung sieht aus, als hätte es nie einen Unfall dort gegeben. Es ist beängstigend, wenn man ein wenig darüber nachdenkt.
Allerdings auch irrelevant, um genau zu sein.
Der alltägliche Verkehr ist wieder aufgenommen worden. Für einen Moment bleibe ich stehen und betrachte das bunte Treiben.
Die Ampel schaltet, genau wie heute morgen, von rot auf orange und von orange auf grün.
Der Unterschied ist aber, dass dieses Mal niemand durch einen Streit abgelenkt wird und über die Straße schießt.
Dieses Mal stirbt niemand. Dieses Mal nicht.
Gut so.
Ob er das Ganze wohl auch beobachtet?
Ich weiß es nicht.
Mit langsamen Schritten gehe ich wieder auf den Starbucks zu.
Einen neuen heißen Kaffee in der Hand mit meinem Namen darauf stehe ich vor meiner Haustür. Es war ein wenig amüsant im Laden. Der Verkäufer war derselbe wie bei meinem Kaffee heute morgen. Ich habe ihn dort öfter gesehen. Als ich ihm meinen momentanen Namen sagte, hatte er irritiert gewirkt. Sehr irritiert. Wer kann es ihm verübeln?
Aber auch egal.
Langsam krame ich mein Schlüsselbund hervor. Daran hängen so einige Schlüssel. Alte, aus schwerem Eisen und auch neue, glänzende. Ein bunter Mix aus allen Zeiten.
Wofür sie alle sind, weiß ich nicht. Niemand kann sich an alle Schlüssel erinnern, wenn das Schloss schon vor Jahrhunderten verloren ging.
Fast routinemäßig schiebe ich einen Schlüssel nach dem anderen zur Seite und fische den für meine Haustür heraus. Verglichen mit einigen der anderen ist er so unauffällig, dass jemand Fremdes ihn sicher übersehen hätte.
Die eher leichte Tür stoße ich mit einer Hand auf, in der anderen den noch dampfenden Kaffee. Hoffentlich hat Rae da oben so alleine nichts angestellt.
Mein lieber Leser, bestimmt kommen bei dir einige Fragen auf.
Wieso gebe ich mir so seltsame Namen?
Wie heiße ich wirklich?
Wenn ich ein Gott bin, warum mache ich dann nichts gottmäßiges?
So etwas in der Art, nicht wahr?
Die erste Frage kann ich beantworten. Langeweile und Abwechslung.
Bei der zweiten wird es da schon etwas schwieriger. Mein Name wird genannt, wenn die Zeit dafür reif ist.
Und Frage Nummer drei? Nun ja, ich hatte so viel Zeit hier und ich denke, ich habe so ziemlich alles gemacht, was man als Gott so machen könnte. Es hat kaum noch einen Reiz für mich, mit übernatürlichem Kram um mich zu werfen. Auch als Sterblicher zu leben hat kaum noch einen Reiz.
Es ist fast so, als würdest du einen einzigen Film über die Jahrhunderte immer und wieder ansehen müssen.
Oder Jahrhunderte lang immer und immer wieder nur ein Lied hören müssen.
Am Anfang gefällt es dir, aber mit der Zeit versuchst du, zu entkommen.
Deshalb versuche ich, jedes Leben, das ich mir aufbaue, ein wenig anders zu leben.
Dieses Mal ist das eben ein menschlicheres.
Ich bin mir aber sicher, dass ich irgendwann schon etwas machen werde, sorge dich nicht.
Ich bin ein Gott. Es liegt in meiner Natur, etwas Übernatürliches zu machen.
Es ist doch nur eine Frage der Zeit, bis das geschieht. Ebenso wie es nur eine Frage der Zeit war, bis ich dem Sensenmann erneut begegne.
Ich bin ihm vor einigen Jahren immer mal wieder vor die Füße gelaufen. Ich hatte sogar versucht mit ihm zu reden, ihn zu überzeugen, mich nach Hause zu bringen, aber er sagt nie auch nur ein Wort.
Mit einem Ruck trete ich ins Innere meines Hauses und ziehe die Tür zu. Sie fällt mit einem leisen Klicken ins Schloss.
Aus Richtung der Küche kann ich ein Schluchzen hören.
Was ist denn nun los?
Das ist wohl der Schock, der früher oder später einsetzen musste.
Das Interesse an mir war wohl eine Art Schutzfunktion, um sich von dem abzulenken, was sie dort an der Kreuzung gesehen hatte.
So sind die Menschen, wenn etwas sie verstört, dann schieben sie es zur Seite und verstecken es hinter etwas anderem.
Ich stelle meinen Kaffee auf den Tisch im Esszimmer und lehne mich in den Rahmen der Küchentür.
Sie sitzt dort, auf dem Boden, mit angezogenen Knien. Über ihre Wangen laufen salzige Tränen und ziehen wässrige Spuren über ihre Haut.