Kapitel 4 - Einer meiner Namen
Raes Blick durchdringt mich regelrecht. Sie fixiert mich vollkommen, während sie ihr Glas mit Eistee fest in den Händen hält. Ich nippe dann und wann noch an meinem mittlerweile angenehmen Kaffee.
Als ich vor etwa einer Stunde die Tür aufgeschlossen habe, ist sie einfach an mir vorbeimarschiert und hat sich an meinen Küchentisch gesetzt. Ich habe ihr etwas zu trinken angeboten, aber um ehrlich zu sein, habe ich nie eine große Auswahl da.
Was ich an Heißgetränken nicht anbieten kann, habe ich in Form von Kaltgetränken wieder herausgeholt.
Und lieber Leser, ich muss sagen, es gibt etwas, das ich sehr vermissen werde. Wenn ich es endlich nach Hause schaffe, meine ich.
Eistee.
Klingt banal, aber irgendwie hat der Kram etwas an sich, das meine Geschmacksknospen nahezu tanzen lässt. Ich mag es. Sehr.
Rae hat in der letzten Stunde nicht viel gesagt. Dabei hatte ich mich extra auf einen Ansturm an Fragen vorbereitet, aber es kam nichts. Rein gar nichts.
Schlägt der Schock etwa erneut zu?
Das glaube ich eher nicht.
"Also", fange ich etwas unsicher an. So eine Situation ist eher selten bei mir. Nicht jeden Tag folgt mir eine Sterbliche nach Hause. Was macht man in dem Fall? Sie behalten?
"Also", wiederholt sie.
"Du sagtest, du hast Fragen", weise ich sie auf ihre Äußerung von vor der Tür hin.
"Stimmt", kommentiert Rae meinen eher spitzen Tonfall und nimmt einen Schluck Eistee. "Zuerst einmal: Wie kannst du so ruhig bleiben, wenn vor dir jemand - nein halt, sogar drei Leute sterben? Und was heißt ruhig... in der einen Sekunde stehen dir die Tränen in den Augen und in der nächsten spielst du dich auf wie ein weiser, alter Mann."
Ich kann nicht anders als zu grinsen. In ihrer Zeitrechnung bin ich alt. Sehr alt. In meiner allerdings bin ich noch jung. Nicht, dass wir da groß rechnen würden. Das müssen wir gar nicht.
Wir sind da, wenn wir es sind und wenn wir es nicht mehr sind, verschwinden wir. Nichts mit großer Zeitrechnung. Klingt verwirrend, ist aber eigentlich ganz einfach.
"Ich habe so einiges gesehen bisher, Rae", spreche ich das erste Mal ihren Namen aus. "Ob du es glaubst oder nicht, aber es sterben jeden Tag irgendwo Leute. Und sonst kümmert dich das auch nicht." Meine Stimme wird fast sanft. "Das an der Kreuzung hat dich nur mitgenommen, weil du es direkt miterlebt hast."
Sie sieht mich lange an und stellt dann das Glas ab. "Du bist wirklich eiskalt", murmelt sie dann.
"Nicht eiskalt", korrigiere ich sie. "Sagen wir... abgehärtet."
"Du bist seltsam." Rae legt ihren Kopf schief und betrachtet mich genau. "Du bist wirklich komisch, weißt du? Ich verstehe dich nicht. Und normalerweise fällt es mir nicht sehr schwer, andere Leute zu verstehen."
"Vielleicht bin ich ja einfach nicht wie die anderen", gebe ich bedächtig zu bedenken. "Es gibt solche und solche. Nicht jeder ist einfach zu durchschauen."
"Bei jedem Menschen findet man etwas wieder, das man erkennt", widerspricht Rae entschieden. "Du bist nicht so. Das ist komisch." Ein kurzes Grinsen huscht über ihre Lippen. "Also entweder bist du eine neue Art Mensch, ein Psychopath oder etwas anderes."
"Vielleicht ja alles." Meine Lippen umspielt ein müdes Lächeln. "Aber wenn du dir da unsicher bist, wieso kommst du dann einfach in mein Haus? Immerhin bin ich vielleicht ein Psychopath."
Kurz lacht sie auf. "Ehrlich gesagt glaube ich das nicht." Mit zwei Fingern ihrer linken Hand spielt sie mit einer Haarsträhne. Sie wickelt sie um ihre Finger herum, um sie dann wieder loszulassen und sie erneut einzufangen. "Vermutlich hast du einfach irgendetwas erlebt, das dich hat verbittern lassen. Aber was?"
"Da hast du die freie Auswahl", bemerke ich mit einem zynischen Unterton. "Hast du weitere Fragen?"
Mit einem Mal steht sie auf und kommt um den Tisch herum auf mich zu. Ich hebe eine Augenbraue. Was wird das denn jetzt? Kann sie nicht einfach gehen und mich in Ruhe lassen?
"Wer bist du, Fremder?" Ihre Worte klingen seltsam bestimmt. "Irgendetwas an dir ist völlig anders. Was es ist, kann ich noch nicht sagen, aber ich finde es heraus." Ihre Augen werden schmal.
Wenn Rae nur wüsste. Vielleicht sage ich es ihr eines Tages, wenn ich es nicht vergesse. Bei dem Gedanken kann ich mir ein Schmunzeln nicht verkneifen. Ich habe ja ohnehin noch eine ganze Weile in dieser Welt.
"Was grinst du so?", brummt sie und verschränkt ihre Arme.
"Es gibt so einiges, das du nicht weißt und ich habe nicht vor, dir irgendetwas davon zu sagen. Wenigstens nicht jetzt. Schließlich bist du immer noch eine Fremde, die ich seit nicht einmal zwei Stunden kenne", lächle ich. "Ist das kein Grund, zu schweigen? Ich schütte nicht jedem mein Herz aus, der in mein Haus hereinspaziert."
"Du bist eben komisch. Ich weiß nicht mal, wie du heißt." Ihre Augenbrauen heben sich, als sie das sagt.
Netter Versuch.
"Meinen Namen, also. Das ist deine nächste Frage", sage ich nachdenklich. "Du weißt aber, dass der auf meinem Kaffeebecher steht, oder?"
"Nichts für ungut", winkt Rae ab. "Aber welcher Mensch heißt denn bitte 'Granit'? Entweder haben dich deine Eltern also gehasst - oder das ist ein falscher Name."
"Sagt das Mädchen namens Rae", schnappe ich zurück. Zufällig mag ich den Namen Granit. Ja, er ist ungewöhnlich, aber mal ehrlich. Immerhin hört man den nicht jeden Tag.
Allerdings muss ich ihr zustimmen. Aus menschlicher Sicht ist das eher ein Name für eine Fantasyfigur aus einer fiktiven Welt.
Oder ein Stein.
Wie mans nimmt.
Rae grinst nur. "Ich wusste es."
"Dir ist klar, dass ich dir meinen echten Namen nicht sagen werde, oder?" Ich seufze. Nummer sechs.
"Interessant. Bist du im Zeugenschutzprogramm oder sowas? Hat das etwas mit dem vermutlichen Trauma zu tun?" Ihre Augen leuchten richtig. Langsam fange ich an, sie nicht ganz so furchtbar nervig zu finden. Sie könnte mich ein wenig ablenken. Ich habe schließlich Zeit genug.
"Was du dir bloß zusammenreimst", ist meine kurze Antwort, gepaart mit einem Kopf schütteln. "Nein, bin ich nicht. Ich habe meine Gründe. Aber ich wüsste nicht, warum ich sie mit dir teilen werde."
"Ich will dich aber nicht Granit nennen", brummt Rae. Sie verdreht ihre Augen. "Passt doch gar nicht zu dir. Glaube ich jedenfalls nicht."
"Und woher willst du das bitte wissen? Wieso glaubst du, mich beurteilen zu können?", frage ich sanft.
"Ich habe keine Ahnung." Rae zuckt mit den Schultern. "Aber Granit klingt einfach bekloppt."
Dieses mal ein langer Seufzer. Sieben. Das wird noch zur Gewohnheit. Was macht dieser Mensch nur mit mir?
"Schön. Dann nenn mich eben Blaze."
Sie rümpft die Nase. "Hast du dir etwa eine Liste mit untypischen und völlig unpassenden Namen gemacht, oder was?"
Setzt eigentlich nochmal der Schock ein oder sollte ich nachhelfen?