Bibliothek
Deutsch
Kapitel
Einstellungen

Kapitel 3 - Wer bist du?

Ich hätte darauf wetten sollen, dass sie mir folgt. Denn das tut sie, als hätten wir die Sache einstudiert. Sie folgt mir schweigend zur Bank, auf der noch immer mein Kaffee steht. Er dampft nur noch leicht und verströmt diesen herrlich herben Kaffeeduft. Gut, das sollte man von einem Kaffee wohl auch erwarten können.

Ich schnappe mir also meinen Becher und betrachte noch einmal die grausige Szene an der Kreuzung, die ich nicht das erste und mit Sicherheit auch nicht das letzte Mal in meiner Zeit hier sehe.

Sanitäter versuchen, die leblosen Körper aus den Wracks zu ziehen, doch das ist keine leichte Aufgabe.

Mein in eine Kutte gekleideter Unsterblichkeitskollege steht an der Kreuzung und sieht zu. Ich könnte schwören, dass er den Kopf schüttelt.

Du musst wissen, dass er so alt ist, wie das Leben. Er ist der Einzige, vor dem selbst die Götter Rechenschaft ablegen müssen, denn auch sie holt er dann und wann.

Als das erste Leben in die Existenz trat, so folgte er ihr.

Wenn ich mich je wieder über all das Elend beschwere, sollte ich daran denken, dass er hier das schon so viel länger mit ansieht und er kann noch viel weniger tun als ich.

Er könnte vermutlich etwas tun, aber laut ihm würde das in den natürlichen Lauf der Dinge eingreifen.

Lebewesen werden geboren, wachsen auf, werden alt und sterben.

So und nicht anders.

Bei vielen kommt das Ende allerdings schon früher, als erwartet.

Er ist dann da - er oder einer seiner Gehilfen, um die Seele mit sich zu nehmen. Wohin er sie bringt, weiß nur er.

Da, wo ich herkomme, sagt man, dass er so viel mehr ist als nur der Tod, aber irgendjemand muss diese Arbeit ja machen. Frag mich nicht, warum das so ist. Ich weiß auch nicht alles.

Da staunst du, was?

Tja. Man lernt eben nie aus.

Ich habe die Menschenfrau schon fast vergessen, bis sie mich am Arm packt.

"Ich rede mit dir", zischt sie mir zu. "Hörst du mir überhaupt zu?"

"Nein", gebe ich wahrheitsgetreu zur Antwort. "Ich habe gerade den Unfallort betrachtet und mich gefragt, wer wohl noch alles darunter leidet."

"Was meinst du?", fragt sie, sichtlich irritiert von meiner Antwort.

"Na, der Fahrer im blauen Wagen hatte sicherlich irgendjemanden, der um ihn trauern wird. Mutter, Vater, vielleicht eine Frau oder einen Mann? Wer weiß das schon." Ich deute mit dem Kinn auf das andere Wrack. "Und die haben sicherlich auch jemanden gehabt. Ein Tod kann so eine große Auswirkung haben, auf so viele andere Leben."

Sie schweigt. Wie gerne würde ich jetzt in ihren Kopf schauen und sehen, was sie wohl denkt.

Doch, wirklich, das interessiert mich. Wenigstens ein bisschen.

Der Sensenmann hat seine Sense mit dem Griff auf den Asphalt gestellt und stützt sich nun auf den stumpfen Teil der Klinge. Wenn ich mich nicht irre, kann ich sogar ein wenig Traurigkeit in seinen pechschwarzen Augen erkennen.

"Aber kann man sie nicht noch retten?", murmelt die junge Frau in stiller Hoffnung. Wiederbelebung, da war ja was. Aber für die drei Toten kommt jede Hilfe zu spät.

Ich schüttele meinen Kopf.

"Selbst, wenn die Sanitäter früher da gewesen wären, sie hätten es nicht mehr geschafft."

"Wie kannst du dir da so sicher sein?", feuert sie die nächste Frage ab.

"Ich weiß so einiges, das du mit Sicherheit nicht weißt", seufze ich lediglich. Das vierte Mal heute. "Einige können dem Tod entkommen, ja, aber diese da schaffen es nicht mehr. Für sie ist es vorbei. Game over."

Sie zuckt sichtlich zusammen, als ich diese so endgültigen Worte äußere.

"Was der Tod sich holt, gibt er nur selten frei", füge ich sehr leise hinzu.

Die junge Frau sieht mich mit einem seltsamen Blick an.

"Ich werde jetzt aber auch gehen. Es gibt so einiges zu erledigen für mich", weise ich sie auf die eindeutig begrenzte Zeit hin. Für mich hat dieser Gedanke wohl weit mehr Bedeutung als für einen Menschen, schätze ich.

Noch immer schweigt sie. Als ich gerade an ihr vorbeigehen will, zieht sie mich am Arm zurück. Mein Kaffee schwappt ein wenig über und ein paar Tropfen landen auf dem Gehsteig. Schade um dieses Gesöff.

"Warte", sagt sie leise, aber bestimmt. "Du bist doch eindeutig nicht normal. Was weißt du, was ich nicht weiß? Oder bist du einfach nur aus irgendeiner Anstalt abgehauen?"

Armes Ding. Wenn sie den Schock so schnell überwunden hat, wird er wohl heute Nacht oder irgendwann im Laufe des Tages zurückkehren. Irgendwann, wenn sie genug Zeit hat, um nachzudenken. Dann werden die Erinnerungen sie treffen. So ist das doch fast immer.

Das fünfte Mal heute seufze ich.

"Ich habe einfach mehr Zeit hier verbracht als du", lautet meine knappe Antwort.

"Du bist doch nicht älter als zwanzig", widerspricht sie. "Also bitte."

Das bringt mich tatsächlich dazu, müde zu schmunzeln. Was soll ich darauf bitte erwidern?

"Wenn du wüsstest..."

Mit diesen Worten schiebe ich ihre Hand von meinem Arm und gehe, dieses mal wirklich.

Auch der Sensenmann hat sich entschieden, zu gehen. Jedenfalls ist er nicht mehr da.

Ich versenke mich wieder in meinen Gedanken darüber, wie ich es wohl schaffen könnte, dem Schicksal ein Schnippchen zu schlagen und von hier zu entkommen.

Einfach wird das nicht werden. Das hier scheint wie eine für mich persönlich gefertigte Hölle zu sein, in der sich Tag für Tag und Jahrhundert um Jahrhundert dasselbe Leid ständig wiederholt.

Am Anfang hatte es eine gewisse Würze, aber nach so langer Zeit ist es einfach nur noch grauenhaft.

Vielleicht habe ich aber auch nur schon zu viel gesehen und so die Gabe verloren, das Gute zu erkennen.

Oder es ist mir gleich geworden.

Alles möglich.

In meine Gedanken und Überlegungen sowie Theorien vertieft bemerke ich meine Verfolgerin erst, als ich schon vor der Tür meines Hauses stehe.

Ich habe sie völlig übersehen. Einfach so.

Langsam drehe ich mich zu ihr um.

"Was willst du hier?"

"Antworten", kommt es wie aus der Pistole geschossen.

"Und ich soll dir welche geben", stelle ich nüchtern fest.

"Richtig", antwortet sie.

"Und du willst mit reinkommen." Das war mehr eine Feststellung als eine Frage.

Sie nickt.

"Ich mag keine Fremden in meinem Haus", versuche ich, sie abzuwimmeln. Ich hätte wissen müssen, dass das nicht ausreicht.

Weißt du, ihr Menschen lebt nicht sehr lange und ihr seid viel zu Stolz, aber ihr seid auch verflucht stur, wenn ihr euch etwas in den Kopf gesetzt habt. Hut ab dafür.

Sie lächelt. "Dann ist das ja einfach. Nenn mich Rae."

"Wie wahnsinnig musst du sein, um in das Haus eines Fremden zu gehen, den du erst seit einer halben Stunde kennst?", stelle ich eine Frage, die sich wohl jedem aufdrängen würde. "Noch dazu eines Fremden, den du als 'verrückt' und als 'aus einer Anstalt entkommen' betitelt hast."

Rae zuckt nur mit den Schultern. "Dann bin ich wohl sehr wahnsinnig."

Das ist doch nicht normal, oder? Nein, ganz sicher nicht. Das ist der reine Irrsinn. Vielleicht hat sie doch mehr zurückbehalten, als ich dachte.

Laden Sie die App herunter, um die Belohnung zu erhalten
Scannen Sie den QR-Code, um die Hinovel-App herunterzuladen.