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Kapitel 2 - Menschlichkeit

Im nächsten Moment gleitet der Blick der dunkelgrünen Augen an mir vorbei zur Kreuzung und Entsetzen tritt Anstelle der Besorgnis und des Vorwurfs. Das zu den Augen gehörige Gesicht verzieht sich zu einer Maske aus Schock und Schrecken.

"Tut mir leid", murmele ich. Erst jetzt konzentriere ich mich auf den Rest der Person vor mir. Eine junge Frau, vielleicht Anfang zwanzig, steht vor mir, ein paar Kopfhörer in den Ohren. Die Musik ist so laut aufgedreht, dass selbst ich sie hören kann. Es wundert mich nicht, dass sie vom Unfall nicht viel mitbekommen hat.

Ihre Hände zittern als sie ihren Blick auf ihr Smartphone richtet und mit wenigen Berührungen ihrer zarten Finger die Musik stoppt. Sie zieht die Kopfhörer ab und der Blick ihrer dunkelgrünen Augen richtet sich langsam auf mich.

"W... Was ist hier passiert?", fragt sie. Ihre Stimme zittert. Bilde ich es mir nur ein oder wird sie leicht grünlich um die Nase herum?

Ihre Lippen beben und in ihren Augen glänzt es verdächtig.

Oh bitte, lass sie nicht anfangen zu weinen...

Wen bitte ich da eigentlich? Es ist niemand da, der meine Bitte würde erhören können. Absolut niemand.

Doch, einer. Aber der steht gerade bei den zerstörten Vehikeln und schwingt genüsslich seine stereotypisch wirkende Sense.

Ich kann ihren Schock förmlich riechen. Ich glaube, dass sie so etwas vorher noch nie mit ansehen musste. Wieder regt sich in mir so etwas wie Mitleid.

Nicht jetzt, das ist nicht hilfreich.

"Ich... Ich muss...", presst sie hervor und drückt eine ihrer Hände vor ihren Mund. Oh oh, ich ahne schon, was jetzt kommt.

Ohne groß zu überlegen packe ich sie am Arm und ziehe sie in eine Seitengasse.

Den Menschen ist ihr Stolz so unheimlich wichtig. So ganz verstehen kann ich es nicht, aber immerhin kann ich den Grund erahnen. In einem so kurzen Leben hat man eben nicht viel, würde ich mal vermuten.

Kaum habe ich meine tiefschürfenden Gedanken zu Ende gebracht, stützt sie sich gegen eine der eng beieinander stehenden Hauswände.

Vorsorglich drehe ich mich weg und versuche die Geräusche, die aus ihrer Richtung kommen, zu ignorieren.

Wo war ich vor diesem tragischen Unfall gewesen?

Ah ja. Bei meinem Schicksal.

Ich kam vor vielen Jahren hierher, weil mich das Ganze irgendwie faszinierte. Ich bin wohl etwas zu lange geblieben und das Schicksal fand es wohl amüsant, mich hier festzuketten.

Kurz gesagt: Ich komme hier nicht mehr weg, bis ein anderer Gott mich hiervon erlöst und mir gestattet, nach Hause zurück zu kehren.

Das klingt ja an sich ganz einfach, oder?

Wenn es nur so wäre, wenn es doch nur so wäre.

Außer mir gibt es hier nämlich niemanden. Nada. Nix.

Soll heißen: Ich stecke hier fest. Für immer.

Oder bis sich ein anderer von uns hierher verirrt, was unwahrscheinlich ist.

Oder bis die Welt untergeht.

Das schwere Atmen der jungen Frau reißt mich aus meinen Gedanken - schon das zweite Mal, dass sie das fertig bringt. Der Unfall hat mich wohl doch mehr getroffen, als ich dachte.

Früher habe ich versucht, zu helfen, aber irgendwann habe auch ich eingesehen, dass es sinnlos ist. Dem Schicksal kann keiner entkommen.

Nicht mal ein Gott.

Einen Blick in Richtung der Frau wagend drehe ich mich wieder zu ihr. Sie wischt sich mit einem Taschentuch den Mund ab.

"Was ist da passiert?", stößt sie erneut hervor, die gleiche Frage stellend wie nur wenige Minuten zuvor.

"Ein Unfall", gebe ich ihr nüchtern zur Antwort und schiebe meine Hände in die Taschen meiner Jeans. "Streitendes Ehepaar. Haben nicht aufgepasst."

Ihre Augen weiten sich. Diese Reaktion habe ich bei Menschen schon so oft gesehen, ebenso wie das Entsetzen, das sich zu dem Schock und dem Schrecken gesellt. Sie wird sich sicher von diesem Anblick erholen, das tun sie meistens.

"A... Aber das ist ja..." Sie ringt mit ihren Worten.

"Furchtbar? Grauenhaft?", helfe ich ihr auf die Sprünge. Mittlerweile habe ich das aufkeimende Mitleid wieder nach ganz hinten in eine dunkle Ecke verbannt, zusammen mit der Trauer, die für eine Sekunde mit aufgestiegen ist.

"Warum passiert sowas", murmelt sie und vergräbt ihr zartes Gesicht in ihren Händen. Ihre Nägel sind in einem hellen blau lackiert und ein paar Strähnen fallen aus ihrem ordentlich gebundenen Zopf.

Eigentlich ein ganz hübsches Ding, denke ich bei mir. Aber eben doch ein Mensch.

"Dinge geschehen eben", erwidere ich relativ ruhig. "Das kann man nicht ändern. Wären sie nicht heute gestorben, dann wann anders. Er ist der einzige, dem man nicht entkommen kann."

Mit dem, was sie dann sagt, hätte ich nicht gerechnet.

Sie hebt ihren Kopf und sieht mich ein paar Sekunden lang schweigend an.

"Du bist verrückt", stellt sie dann fest. Ihre Stimme zittert, Hysterie schwingt in ihr mit.

"Vielleicht", antworte ich und zucke mit den Schultern. "Wer weiß das schon so genau."

Fassungslos. So könnte man sie wohl gerade am Besten beschreiben. Vergangen sind Schock und Entsetzen und Fassungslosigkeit hat ihren Platz eingenommen.

Fassungslosigkeit worüber? Dass ich nicht lange darum trauere, dass der Tod diejenigen geholt hat, die ihm gehören? Dass es mich mehr oder weniger kalt lässt?

Tut es nicht.

Jedenfalls nicht vollständig.

Aber was versteht sie schon davon.

Sie ist eben nur ein Mensch.

Ich bin mir zu sechzig Prozent sicher, dass es ihr soweit gut geht. Aber das reicht mir auch schon.

"Ich geh dann jetzt", verabschiede ich mich kurzerhand und wende mich noch immer mit den Händen in den Hosentaschen in Richtung Kreuzung.

"Warte", ruft sie leise. Ich runzle meine Stirn und sehe über die Schulter hinweg zu ihr.

"Erst heulst du fast los und jetzt bist du so... so kalt?" Empörung. Meine Güte, zwischen wie vielen Emotionen wechseln Menschen eigentlich so in einer Minute? Ich lebe nun schon so lange hier und dieses Phänomen fasziniert mich immer wieder.

"Du bist doch nicht normal", wirft sie noch hinterher.

Sie muss wohl doch noch verwirrt sein, immerhin hat sie gerade Tote auf der Straße rumliegen sehen.

Vielleicht ist es doch besser, wenn ich sie woanders hinbringe.

Das dritte mal heute seufze ich. Betont langsam drehe ich mich zu ihr um.

"Was erwartest du von mir? Dass ich hysterisch schreie und kopflos durch die Weltgeschichte renne? Das bringt weder mir noch den Toten etwas." Mein Blick verhärtet sich. Ich presse meine Zähne zusammen. "Sie sind tot. Da kann keiner mehr etwas machen. Das ist tragisch, ja, sehr sogar. Allerdings sollte mich das nicht beeinflussen."

Sie ist wie erstarrt, als sie mir so ins Gesicht sieht und nach einem Funken Empathie sucht.

Dazu lebe ich schon zu lange. Ich habe dazugelernt.

"Willst du da weiter stehenbleiben oder willst du hier weg? Mein Kaffee steht, glaube ich, noch auf der Bank und ich glaube, er sollte mittlerweile weit genug abgekühlt sein, dass man ihn gefahrlos trinken kann."

Ohne ein weiteres Wort wende ich mich ein weiteres Mal ab und gehe in Richtung Kreuzung.

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