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Kapitel 7 - Ich bin nicht allein

Rae ist an diesem Abend nicht nach Hause gegangen. Kurzerhand hat sie sich auf die Couch gesetzt und sich eine Decke geschnappt.

Ich verstehe sie nicht. Sie kennt mich erst wenige Stunden. Ich könnte wer weiß wer oder wer weiß was sein. Was bringt sie dazu, das zu tun?

Kopfschüttelnd sitze ich auf meinem Bett und denke nach. Sie hat Glück, dass nur ich es bin und nicht irgendein Psycho, auch wenn sie mich als einer bezeichnet hat.

Rückwärts lasse ich mich auf die Matratze fallen und schließe die Augen. Wie von selbst streckt sich meine Hand empor in Richtung Decke.

Seit fünf Jahren lebe ich nun wie ein normaler Mensch. Wenn ich meine Macht benutze, fühle ich mich lebendig, wie elektrisch aufgeladen. Die Kraft nur so explodieren und wirken.

In der Zeit, in der ich nichts tue, fühle ich mich wie betäubt, als wären meine Sinne stumpf geworden.

Ich schmecke weniger. Rieche weniger. Sehe weniger.

Ist es bei den Menschen normal, dass sie so wenig wahrnehmen?

Auf meine Macht zu verzichten ist, als würde ich in einen stumpfen, grauen Traum eintauchen.

Wieso tue ich das dann überhaupt, wird sich die Frage stellen?

Ich habe es bereits einmal erklärt. Weil einem als andersartiges Wesen schnell langweilig wird, wenn man alles ohne Mühe erreicht. Klar macht es Spaß, alles tun zu können wann man nur will, aber irgendwann verliert es seinen Reiz.

Aber für immer als Mensch leben? Das könnte ich nicht. Das wäre nichts für mich.

Ich könnte es, aber ich will es nicht.

Kurz schüttele ich den Kopf und nehme meine Hand wieder herunter. Jetzt, wo Rae im Bett ist und ich meine Ruhe habe, kann ich wieder nachdenken.

Darüber, wie ich nach Hause komme.

Mit einem Satz bin ich wieder auf den Füßen und greife nach einem Blatt Papier, das auf dem schmalen Schreibtisch neben dem Bett liegt.

Es ist bereits alt und vergilbt. Eine ältere Dame hat es mir gegeben. Ihre Familie besteht aus Sehern. Vor vielen Jahren erschuf einer ihrer Vorfahren eine Prophezeiung, die innerhalb der Generationen weitergegeben wurde.

Eine Prophezeiung über mich. Leider kann ich mit ihr nicht viel anfangen.

Der, der viele Namen trägt, wird wandeln auf dieser Erde. Fern von der Heimat wird er sich nach Erlösung sehen, doch geben kann ihm diese nur ein anderes Wesen von selber Größe. Gottgleich und gutherzig wird eine Entscheidung getroffen werden, die ihn erlöst oder ihn für immer an diese Welt fesselt.

Meine Augen verfolgen die geschwungene Handschrift. Ich kann diese Worte schon lange auswendig, so lange denke ich schon darüber nach. Nacht für Nacht starre ich auf diese Zeilen und frage mich, ob die Entscheidung nicht schon vor langer Zeit fiel.

Gottgleich und gutherzig.

Es gibt keine anderen Götter hier, die mich nach Hause schicken könnten. Es ist niemand hier.

Ich hätte nie herkommen dürfen.

Mit zusammengebissenen Zähnen lege ich das Papier zurück auf die Tischplatte und schließe die Augen.

Zuhause.

Vielleicht ist es an der Zeit, aufzugeben. Ich bin hier gefangen. Und das vielleicht bis ans Ende der Welt, wortwörtlich.

Ein stechender Schmerz durchfährt mein Herz. Diesen Schmerz habe ich schon lange nicht mehr gespürt.

Es ist kein Herzanfall, an so etwas kann ich nicht leiden. So funktioniert mein Körper nicht.

Es ist etwas anderes.

Trauer.

"Hör schon auf", presse ich hervor und massiere mir die Schläfen. "Wieso verrätst du mich so?"

Verfluchte Gefühle. Sie bringen nichts als Ärger. Jedes Mal, wenn sie hervorbrechen, dauert es ewig, bis ich wieder völlig klar und logisch denken kann.

"Hör bitte auf", flüstere ich ins Nichts.

Mit wem spreche ich? Es ist niemand hier. Es ist nie jemand hier.

Die Handballen gegen die Stirn gedrückt stehe ich eine Weile da und versuche, an etwas anderes zu denken. Ich schaffe es nicht. Es wird jedes Mal schwerer.

Ein Klopfen an der Tür reißt mich aus den Gedanken.

"Ist alles in Ordnung?", höre ich Rae durch das dünne Holz der Tür sagen.

"Ja, alles gut", zwinge ich mich zu sagen.

Es ist doch jemand da. Heute bin ich nicht alleine.

Aber wie wird es morgen aussehen?

Fast vermisse ich die Zeit, in der ich ganz alleine war. Niemand hat meine Gedanken gestört. Doch genau deshalb habe ich die Einsamkeit auch gehasst.

Die Klinke wird nach unten gedrückt und die Tür öffnet sich einen Spalt.

Rae blickt durch den schmalen Spalt ins Zimmer, ihre Augen suchen und finden mich.

"Kann ich reinkommen?", fragt sie. "Ich kann nicht schlafen."

"Ich kann auch nicht schlafen", murmele ich.

Ganz still betritt Rae mein eher spartanisches Schlafzimmer und setzt sich aufs Bett.

Es ist so ruhig hier. Nur unser Atem reißt dann und wann ein Loch in die Stille.

"Die Nacht ist dunkel und einsam, oftmals ist man selbst sein ärgster Feind", sagt sie schließlich.

"Da hast du wohl Recht", stimme ich der jungen Frau in dem viel zu großen T-Shirt zu. Sie hat sich eines von mir geliehen, immerhin hatte sie selbst nichts bei sich.

"Was beschäftigt denn dich?", stellt sie nach einigen weiteren Minute der Stille die Frage in den Raum, vor der ich mich ein wenig fürchte.

"Wieso bist du eigentlich noch hier?" Meine Stimme hat einen schmerzlich bitteren Unterton, den selbst mein abgestumpftes Gehört mitbekommt.

"Habe ich doch schon gesagt", weist Rae mich auf unsere Unterhaltung vor ein paar Stunden hin.

"Weil du glaubst, du kannst mir vertrauen."

"Ganz so habe ich es nicht gesagt, aber ja, das stimmt." Sie lächelt ein schiefes Lächeln.

"Warum?", rutscht mir die Frage heraus.

"Ich weiß es nicht", kommt es von ihr. Kurzerhand streckt sie sich auf meinem Bett aus und schließt die Augen. "Es ist einfach so."

"Ich fürchte, ich werde nie wieder nach Hause können", wispere ich. "Ich sitze hier seit so langer Zeit fest und die Hoffnung schwindet immer weiter. Niemand kann mich davon erlösen, einfach niemand. Es gibt keinen, der das könnte. Deshalb werde ich für immer hier sein."

Ich höre ein gleichmäßiges Atmen und ein wohliges Seufzen. Als ich zu ihr sehe, zucken meine Mundwinkel für eine Sekunde nach oben.

Rae ist eingeschlafen.

"Schlaf gut, Rae", flüstere ich und gehe zur Tür. Bevor ich ins Wohnzimmer gehe, um mich auf die Couch zu legen und wenigstens etwas Schlaf zu bekommen, lösche ich noch das Licht.

Ich bin heute nicht allein.

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