Kapitel 6
Ich reihten mich zwischen einem Mädchen mit goldblondem Haar und einem grauäugigen Jungen ein, die ebenfalls Fünftklässler, wie ich, waren. Die restliche Zeremonie ging vorbei und mit einigen Abschlussworten von Direktor Collins begannen die Mengen sich aufzulösen. Nur wir Neuen blieben unsicher stehen und warteten darauf, dass unser Mentor auftauchte, der uns herumführen sollte. Zumindest laut dem Direktor. Ein junger, bestimmt achtzehn oder siebzehn jähriger Junge kam zu uns geschlendert. Seine rotblonden Haare standen ihm wie bei einer Rockfrisur vom Kopf ab und seine Augen glitzerte schelmisch. Das war mit Sicherheit ein Klassenclown.
"Schön euch kennenzulernen Frischlinge" grüßte er mit einem lässigen Winken und blieb mit den Händen in der schwarzen Hosentasche stehen. Ich kaute auf meiner Lippe. "Wie der liebe Alpha bereits gesagt hat, ich führe euch herum und händige euch danach eure Stundenpläne aus. Und da ich weiß wie anstrengend die Fahrt war und langweilig diese Tour immer ist, fangen wir auch sofort an damit ich euch so schnell wie möglich erlösen kann" meinte er mit einem trägen Grinsen. Erleichtertes schnaufen ging herum, ich blieb aber still. Nicht auffallen war meine Devise. "Achso, ich bin Lukas" fügte er hinzu und ging dann los. Er führte uns zuerst draußen herum, überquerte mit uns eine Trainingswiese rechts neben dem T-förmigen Gebäude. Dahinter gab es sogar einen riesigen Fußballplatz und ein kleiner Basketballplatz. Jep, sie legten eindeutig viel Wert auf Teamsport. Und doch weckte Lukas Aussage, dass die Schule sowohl ein Basketball als auch Fußballteam in jeder Jahrgangsstufe hatte, die gegen andere Schulen antraten, meine Aufmerksamkeit. Ich hatte mir schon immer gewünscht, mal Fußball zu spielen, aber bisher hatte ich mich nicht getraut mich alleine anzumelden. Karla hasste Sport und wollte es nicht, also habe ich es auch sein lassen. Vielleicht würde es hier anders werden... Naja, auf jedenfalls wurden wir einmal um das Gebäude herumgeführt und tauchten auf der anderen Seite angekommen in den dichten Wald ein. Dort führte man uns zur Grenze, die Fünft und Sechstklässler dürften nur bis zu den gelb markierten Bäumen, welche trotzdem erst drei Kilometer im Wald begann. So viel Platz, daran könnte ich mich durchaus gewöhnen. Ich liebte den Geruch und die friedlichen Geräusche des Waldes. Bis zur Mauer durfte man erst ab der siebten und achten, und alle darüber konnten, wenn sie wollten, in den Vollmondnächten sogar das gigantische Schulgrundstück verlassen und in den umliegenden, noch dunkleren Wäldern herumstreunen, wie Lukas mit strahlenden Augen erzählte. Sobald wir draußen alles kannten, führte er uns in das düster wirkende Gebäude. Das vordere Hauptgebäude beherbergte die Klassenzimmer und Lehrerzimmer, zusammen mit dem Sekretariat und dem Büro des Direktors. Überall hingen altertümliche Kronleuchter, welche mit LED Kerzen betrieben wurden. Trotzdem sah es wunderschön aus, die Böden bestanden aus hellen Dielenbrettern und die Wände waren weiß verputzt. In allem war es gemütlicher als ich gedacht hätte. Dann kamen wir zum Schluss, unsere Zimmer. Dafür brachte man uns bis zum anderen Ende des Gebäudes, wo sich der Gang in zwei Richtungen aufteilte. Davor waren wir an drei Treppen vorbei gegangen, aber das einzige was unser Führer auf die Frage, was da ist, geantwortet hatte war, das uns der Zutritt zu den oberen Räumen verboten war. Die gesamte Unterstufe befand sich im Erdgeschoss, die Mittelstufe im zweiten und ganz oben wohnten wohl die wenigen Oberstufenschüler. Eigentlich schade... man hatte mit Sicherheit eine tolle Aussicht dort oben. Im verzweigten Gang blieb Lukas stehen und drehte sich zu uns um, die Haare klebten ihm im verschwitzten Gesicht, wir sahen wahrscheinlich nicht besser aus. Die Hitze machte einem schon zu schaffen.
"So, da sind wir nun. Hier befinden sich eure Schlafräume und euer Gemeinschaftsraum. Rechts geht es zu den Mädchen, links zu den Jungen. An den Türen hängen Zettel auf denen steht, wer das Zimmer bewohnt. Also braucht ihr mich nicht mehr. Richtet euch ein, ich gebe euch jetzt noch eure Stundenpläne und zum Abendessen um achtzehn Uhr seid ihr bitte im Speisesaal" leierte er gelangweilt herunter. Dann teilten wir uns auf, die Mädchen gingen nach rechts, die Jungen nach links und vorher holten wir uns unsere Pläne von Lukas. Die Wände in unserem Gang waren in einem blassen gelb gestrichen, Bilder von Landschaften hingen an den Wänden und alle paar Meter sah man duftende Topfpflanzen neben den verschlossenen Türen stehen. Nach einiger Suche entdeckte ich mein Zimmer, es war das vierte rechts. Neben meinem Namen stand noch eine Lina darauf, also gab es Zweierzimmer. Ob diese Lina schon da war? Nervös und unsicher öffnete ich die Tür und zog meinen Koffer hinter mir her. Das Zimmer war glücklicherweise leer, also musste ich noch niemanden kennenlernen. Erleichtert atmete ich auf und stellte meinen Koffer ab. Direkt gegenüber der Tür gab es ein quer an die Wand gerücktes Hochbett aus dunklem Kirschholz. Durch ein rundes Fenster auf der linken Seite schien schwaches Licht und ließ Staubpartikel in der Luft tanzen. Unter diesem Fenster stand ein leerer Schreibtisch, ebenfalls aus Kirschholz. Mein Blick schweifte auf die andere Seite. Auch dort stand ein zweiter Schreibtisch, nur ohne Fenster, stattdessen hing darüber eine blanke Pinnwand. Die zwei schmalen Kleiderschränke links und rechts nahmen den restlichen Platz ein, sodass in der Mitte kaum Platz war. Für zwei Personen war das Zimmer ziemlich klein und beengend, aber das ganze Holz und der dunkelrote Teppich am Boden machten es etwas gemütlicher. Mit einem Ächzen hievte ich meinen Koffer auf das unbezogene, untere Bett, öffnete ihn und begann schon einmal meine Sachen zu sortieren und im linken Schrank einzuräumen. Es dauerte nicht lange bis die Tür sich abermals öffnete und ein Mädchen mit schulterlangen, glatten Haaren hereintrat, zwei große, hellgraue Taschen in den Händen. Als ich in ihre Augen blickte stockte ich kurz. War das möglich? Ich blinzelte, doch nach längerer Betrachtung erkannte ich, dass sie doch nicht bernsteinfarben waren, sondern nur ein ziemlich hellen Braunton hatten. Ich unterdrückte meine Enttäuschung und lächelte zaghaft. Ich wusste das viele meine Augen irritierte, die in einem strahlenden Bernsteinton leuchteten, bis jetzt bin ich noch nie jemandem begegnet der dieselbe Augenfarbe hatte. Nicht einmal meine Eltern. Noch etwas das mich von anderen Unterschied, ganz zu schweigen von meinem fotografischen Gedächtnis. In der Grundschule haben mich viele gehänselt weil ich so gut war und komische Augen hatte, aber dank Karla war mir das ziemlich egal gewesen. Sie war das Gegenteil von mir, selbstbewusst, laut und verteidigte mich immer. Mit ihr hatte ich meine schönste Zeit und ein Teil von mir wünschte sich, sie könnte zu mir ins Internat kommen, dann wäre es so viel einfacher für mich.
"Hi" begrüßte ich das Mädchen, Lina. Diese lächelte freundlich zurück und schaute sich eingehend um.
"Hey, du bist Akemi oder?", ich nickte.
"Und du bist dann Lina", sie nickte auch und wir mussten grinsen. Lina ging zu dem Fenster und schaute raus, ihre Taschen stellte sie auf dem Tisch ab.
"Hättest du was dagegen, wenn ich den Schreibtisch nehme? Ich mag es raus gucken zu können" fragte Lina verlegen und strich sich eine lose Strähne hinters Ohr, die dunkel aufleuchtete. Ich blinzelte kurz, nickte aber.
"Klar, wenn ich das untere Bett kriege..." ich ließ die Frage schüchtern im Raum stehen.
"Soll mir Recht sein", dann blieben wir erstmal still und packten weiter schweigend unsere Sachen aus. Diese Lina schien ganz nett zu sein, eventuell würde ich doch schneller Freunde finden, als ich dachte. Und mir wurde bewusst, dass es mir gefallen würde Lina besser kennenzulernen. Ein kleines Lächeln legte sich auf meine Lippen, während ich Lina einen kurzen Seitenblick zuwarf, als sie ein Berg Shirts zu ihrem Schrank manövrierte.