Kapitel2
12.März, 5:30 Moskau
Verdammte Erinnerungen! Warum musste mich diese eine Nacht in Wien jetzt auch in meinen Träumen heimsuchen? Als ich meine Augen aufschlug blickte ich durch das riesige Fenster auf einen blutroten Sonnenaufgang. Über den undendlichen Feldern auf denen eine Unzahl von Kampfflugzeugen gereiht war erhoben sich die ersten Strahlen der Sonne. Langsam schien der Frühling auch nach Russland seinen Weg zu finden.
Über meinen Traum seufzend, setzte ich mich auf und nahm mein Handy in die Hand. Es verging kaum einen Nacht, wo es nicht von den ständigen Nachrichten durchgehend vibrierte. Obwohl ich mich bemüht hatte, nur wirklich die wichtigsten Nummern unter Favoriten zu speichern, waren es immer noch mehr als genug, um mir keinen ruhigen Schlaf zu gewähren.
Selbst Vasily, der manche Nächte mit mir verbrachte, andere wieder nicht, hatte die Angewohnheit mich um Mitternacht anzuschreiben. Irgendeine Frage, die tagsüber untergegangen war, musste immer geklärt werden. Manchmal mit dem Pressesektretär, manchmal mit meiner Familie oder irgendwelchen Diplomaten. Während ich viele Nächte durchlernte, legte ich mich in den anderen sehr früh hin und hatte am nächsten Morgen über 50 aggressive, ungeduldige Nachrichten.
Heute war eine von diesen gewesen. Obwohl ich mich schlaflos hin und her geworfen hatte, hatte ich alle möglichen Personen ignoriert. So viel zu meinem gesunden Schlafverhalten. Aber die Aufregung vor den anstehenden Tag hatte einen großen Part in meiner Schlaflosigkeit gespielt. Meine Präsentation, welche ich an der Uni in meiner Heimat halten musste, war nun schlagartig näher gerückt. Also hieß es heute früh nach Perm, wo alle meine Verwandten lebten, zu fliegen. Und das war mein größtes Problem. Wie würde ich ihnen nach fast einem Jahr entgegentreten können? Meiner Mutter zu verraten, dass ich heute nach Hause kommen würde, hatte ich mich schon mal nicht getraut. Also, stand es in den Sternen, wie und wo unser Treffen stattfinden würde. Natürlich würde ich nicht nach einem Tag wieder abreisen.
Es gab viel zu vieles, was ich dort mit meinen Freunden, meiner Familie und meinen Dozenten zu klären hatte. Alle diese Sachen hatte ich schon seit vielen Wochen, wenn nicht Monaten, aufgeschoben.
Ohne Zweifel, meine Ankunft würde dort für eine Menge an Aufruhr sorgen und das Letzte, was ich wollte, war es, für einen Stau in der Innenstadt zu sorgen, weil irgendein Gouverneur, in der Hoffnung Pluspunkte zu ergattern, meine Route bis zum Hotel absperren ließ.
Deswegen hatte ich wie immer einfach niemand etwas davon erfahren. Vasily, sowie meine Garde, welche natürlich mitkommen würde, wussten Bescheid, aber weit über diesen Kreis war es nicht gekommen.
Mein Handy wieder abschaltend, hievte ich mich von der Bettkante auf. Sollten sie doch versuchen, ihre Probleme selbst zu lösen - ich war nicht ihre Aufpasserin. Und sie waren erwachsene Männer, die ab und zu ihr Gehirn einschalten sollten.
Um spätestens 7 Uhr hatte ich vor, im Flugzeug zu sitzen. Da ich sogar eine halbe Stunde früher aufgewacht war, hatte ich mehr als genug Zeit, um einige Experimente mit meinem Makeup zu wagen. Auch ohne meiner Stylistin. Nachdem der feine Lidstrich perfekt saß, wählte ich ein knielanges rotes Kleid mit einer dicken Strumpfhose schlüpfte in schwarze Pumps.
Nun war mein Traum und Wien wieder präsenter denn je, aber aus einem der vielen Fehler dieser Nacht hatte ich gelernt - heute würde ich nicht frieren müssen. Dafür sorgte der schwarze Pelzmantel und für mein Image ein Collier aus Diamanten. Mindest 30 Karat betrug jeder einzelne Stein.
Mir war bewusst, dass ich mich schämen würde, so vor meine Angehörigen zu treten, doch es gab andere Prioritäten in meinem Leben. Wie Vasily es zu betonen pflegte, war ich die Visitenkarte Russlands. Wer würde den Reichtum und den Wohlstand unseres Landes repräsentieren, wenn nicht ich?
Mit einem Griff packte ich mein Handy und meinen Koffer, um mein Appartement zu verlassen. Während ich durch die Tür ging versuchte ich meine endlosen Nachrichten zu checken. Manchen Leuten sollte man einfach verbieten in der Politik tätig zu sein.
«Oh Gott!»
Mein Multitasking-Versuch war gescheitert - ich war fast gegen einen vor der Tür stehenden Wachen gerannt.
Nachdem der erste Schock überwunden war, nahm ich Andreys belustigtes Schmunzeln war. Wer würde mich ansonsten richtig aufwecken, wenn nicht er? Dazu hatte er bereits oft Talent erwiesen.
«Wo ist Vasily? Hat er nicht gesagt, er holt mich ab?»
Der gebürtige Russe grinste noch leicht vor sich hin.
«Rate mal, was der mal wieder macht!», forderte er mich auf.
Ich zuckte mit den Schultern, während er mir den Koffer abnahm.
«Irgendwelche Politiker anschreien, jemanden rumkommandieren, seine Kalaschnikov putzen? Oder vielleicht mit allen Fahrzeugen tanken gehen, solange die Ölpreise noch nicht ganz die Spitze erreicht haben?»
Bei der letzten Anspielung auf meinen Beschluss vorherige Woche, lachte der Offizier auf.
«Erstens, wir werden ja im Endeffekt durch deine Ölpreise reicher und zweitens, liegst du mal ausnahmsweise falsch. Unser General hat sich dazu entschieden, dass er heute unbedingt deinen Jet fliegen muss.»
Obwohl ich ganz genau wusste, dass er ein fähiger Pilot mit echter Erfahrung aus Kriegsgebieten war, machte mein Herz einen Sprung. Trotzdem war das immer wieder ein komisches Gefühl, von ihm geflogen zu werden.
Mit meinem schwarzen Mercedes, diesmal mit Andrey am Steuer, fuhren wir bis zu dem größten Flughafen Moskaus, wo mein Gulfstream G650 auf mich bereits wartete. Während der viertelstündigen Strecke bis zu diesem, nahm ich mir die Zeit, endlich auf die vielen immens klugen Nachrichten zu antworten. Die erste der weniger schlimmen war wieder meine Mutter, die mir noch gestern Abend geschrieben hatte:
«Lena hat morgen Geburtstag, vergiss bitte nicht, ihr zu gratulieren. Du weißt ja, wie viel es ihr bedeutet.»
Und genau das hatte ich getan - Russlands Verteidigungsministerin hatte den Geburtstag ihrer jüngeren Schwester, die heute 16 wurde, vergessen. Noch peinlicher war es, dass ich dort heute ohne Geschenk auftauchen würde.
«Mist!», entfuhr es mir.
Andrey riss seinen Blick von der Straße, um mich fragend anzuschauen.
«Ich habe den Geburtstag meiner Schwester vergessen.»
«Wann ist der?»
«Heute.»
«Blyat.»
«Habe ich auch schon gedacht, danke für den Einwand», verdrehte ich die Augen.
«Schenk ihr deine Makarov. Oder einen Ölkanister», rief er aus,«genau, einen Ölkanister! In fünf Jahren wird sie damit Milliardärin sein.»
«Sei leise, Andrey!», fuhr ich ihn halbherzig an.
Unrecht hatte er nicht, außer Waffen und Öl hatte ich im Moment nicht besonders viel. Entweder konnte ich noch schnell in Perm etwas für sie kaufen, oder im Notfall ein Schmuckstück von mir herschenken. Lösungen finden war mittlerweile zu meinem Talent geworden. Jemanden ghosten, auch.
Die Nachricht ignorierte ich kunstvoll, dafür würde mein Auftritt heute bei ihnen weitaus spektakulärer sein.
Die nächste war von Nastja, die mal wieder in einem verzweifelten Versuch, mich an unsere Freundschaft zu erinnern, schrieb: «Lea, Jana lässt ausrichten, dass du ihr noch deinen Part eurer Partnerarbeit schicken musst. Sie ist bis morgen!!! Du kannst uns doch nicht alle im Stich lassen!»
Die Arbeit war der nächste Punkt, der auf meine To-Do-Liste untergegangen war. Aber zumindest würde ich gleich im Flugzeug eine Beschäftigung haben.
Alexey, welcher mich etwas ungeduldig drauf erinnerte, wieder etwas auf Instagram zu posten, um das Publikum aufrecht zu erhalten, war der einzige der von mir eine Antwort bekam: «Lyoscha, hast du Angst, dass du ein paar Wähler weniger abkriegst, weil ich vergessen habe, sie daran zu erinnern, für die Opposition zu stimmen? Rate mal, was ich mache! Ich fliege für eine verdammte Präsentation nach Perm und habe nebenbei den Geburtstag meiner Schwester vergessen. Wenn du nett bist, dann fliegst du mir nach und wir drehen dann ein Video gemeinsam.
Meinetwegen im Haus meiner Eltern und dann kannst du sogar mich der Korruption bezichtigen, solange du da bist, um mich abzulenken! Es wird ein Gulfstream auf dich warten, falls du dich wirklich entscheidest zu kommen. Und ja, ich poste ja schon was. Entspann dich mal!»
Mich an mein Versprechen haltend, legte ich meine Füße auf das Armaturenbrett und legte mit einer Hand meine Pistole auf die Knie, während ich mit der anderen ein Foto schoss auf welchem außer meinen Beinen, dem Pelzmantel und der Waffe, außerdem ein Teil des Lenkrads mit dem Mercedes Stern zu sehen war und Andreys Hand mit dem tarnfarbenem Ärmel und einer Rolex.
Im Hintergrund des Fotos verblassten langsam die Strahlen des Sonnenaufgangs.
Dafür erntet ich mir ein vergnügtes Grunzen des Soldaten.
«Leandra, du wirst noch zur Influenzerin!»
Mit einer Hand schlug ich ihm spielerisch auf die kugelsichere Weste, während ich mit der anderen eine ach so aussagekräftige Caption für das Bild schrieb.
«In the end, all those roads will lead us home.»
Nur wenige Minuten nachdem ich auf den Posting Button geklickt hatte, fuhren wir schon auf den riesigen Parkplatz des Flughafens. Ein weiterer Soldat öffnete die Autotür und half mir mit übertriebener Geste hinaus. Seine Kameraden, welche nur wenige Schritte hinter ihm standen, salutierten bei meinem Anblick. Ein paar Passanten, die in dem Umkreis zu ihren Autos gingen, oder ihr Gepäck mithievend sich zu den Gates begaben, blickten mit einer Mischung aus Spott und Ehrfurcht auf uns.
«Oleg, schau mal, ist das nicht diese B...», brach eine junge Frau das Wort, welches sie sagen wollte, in der Mitte ab, als sie sah, dass mein Blick direkt auf sie gerichtet war.
Ich verkniff den Wunsch sie zu fragen, welche meiner Handlungen sie zu diesem Urteil kommen ließ.
Aber es war nicht mein Belangen das Volk nach deren Meinung zu mir zu befragen. Sonst würde es, wie Vasily es mal erwähnt hatte, mit Feedback Flyern und anonymen Bewertungen enden. Also blieb mein Gesichtsausdruck ausdruckslos und in Begleitung von Andrey begab ich mich in das Gebäude. Auch dort blieb ich nicht von gezückten Kameras und gedämpftem Tuscheln verschont. Jedoch wusste ich, dass das mein Leben war und es nun keinen Ausweg mehr gab.
Den Gängen folgend, erreichten wir schließlich mein Privatflugzeug, welches von noch mehr Wachen, Boardmechanikern und Fachleuten aus so ziemlich jedem Bereich, umgeben war. Diejenigen unter ihnen, welche auf irgendeine Weise dem Militär angehörig waren, grüßten mich wieder auf militärische Weise. Auch Vasily selbst, der gerade eben noch mit seinem Co-piloten geredet hatte, kam auf mich salutierend zu.
«Falls meine Mutter wieder wissen will, warum Besuche kein verdammter Sonntagsspaziergang mehr sind, dann darfst du es ihr erklären», begrüßte ich ihn mit genervter Miene im Gesicht.
Er lachte leise, während er seine Hand auf meiner Schulter platzierte: «Als wurdest du wieder bezeichnet? Als Ziege im Bärenfell, oder was war das noch einmal?»
«Heute nur als B..., die Frau wollte auf keinen Fall das Wort ganz aussprechen», entgegnete ich, worauf er noch mehr lachen musste, «und merk dir bitte, dass ist ein Passagierflug, keine Aufführung bei der Parade, also bitte kein verkehrtes Fliegen und dein Ziel ist es im Übrigen nicht, die Flugzeit eines normalen Flugzeugs von 2 Stunden zu unterbieten, wir haben genug Zeit.»
«Hast du immer noch Angst, vor deine Familie zu treten, Leandra? Willst du deswegen noch zwei ganze Stunden haben, um dir eine passende Rede zu überlegen?», seine Stimme war schlagartig trocken geworden.
«Eigentlich muss ich noch eine ganze Arbeit schreiben, für meine Schwester, welche heute vor 16 Jahren auf eine überraschende Weise geboren wurde, ein Geschenk ausdenken, aber im Grunde genommen hast du Recht», dann fügte ich noch hinzu, «es kann sein, dass Alexey nachkommen mag. Wäre es möglich, einen Gulfstream für ihn zu Verfügung zu stellen?»
«Warum höre ich davon zum ersten Mal? Ich hätte ihr auch etwas mitnehmen können!», regte er sich auf.
Während ich langsam zum Flugzeug zu schreiten begann, erklärte ich verlegen: «Weil ich es selbst nicht gewusst habe».
Er stöhnte theatralisch auf: «Erstmal nicht wissen, dass die eigene Schwester sechzehn wird, aber auf keinen Fall vergessen, deinen Alexey einzuladen. Aber keine Angst, der kriegt schon ein Flugzeug ab.»
Etwas erleichtert, wie es immer der Fall war, wenn ich mit meinem General Zeit verbrachte, begab ich mich endlich in die Kabine.
Dort packte ich meinen Laptop aus und warf einen letzten Blick auf das Schreiben von Alexey: «Klar, Korruption finden wir überall. Vielleicht sogar auf der Terasse deiner Eltern. Sag mir, wann und wo. Ich bin dabei. Dein Post war übrigens der Hammer. Es schreiben schon Leute, ob du nach Kiew fährst, um dort für Ordnung zu sorgen. Wenn du landest, musst du noch unbedingt Bilder von Perm posten.»
Nachdem ich meiner Sektretärin eine kurze Nachricht geschrieben hatte, damit sie ein Flugzeug für ihn organisieren konnte, widmete ich mich meiner Arbeit. Jana hatte schließlich nichts dafür, dass ich normalerweise Wichtigeres zu tun hatte.
Oberhalb der Wolken, machte ich mich mit dem Thema, welches in den letzten Einheiten anscheinend ziemlich ausführlich besprochen worden war, Bekanntschaft. Dabei musste ich wirklich mein Äußerstes geben, um mein Gerät nicht zuzuklappen und nie wieder aufzumachen. Andrey schaffte es mit seinen äußerst kreativen Ablenkungsmethoden mich jede zehn Sekunden von dem Thema abzubringen. Aber zumindest kannte sich sich ein Soldat mit der Geschichte der russischen Oblaste und deren Entwicklung aus. So konnte ich nach einer halben Stunde meinen Laptop zuklappen und mich wichtigeren Sachen widmen.
In meinem Gedächtnis rief ich alle Geschäfte in meiner Heimatsstadt auf, in welchen ich teuren Schmuck für Lena besorgen konnte. Ein Stück zu schenken, welches bereits mir gehörte, erschien mir etwas zu traurig. Aber irgendein Juwelier würde schon sicherlich offen haben und dank den Ölvorkomnissen in Russland, hatte ich kaum eine Preisgrenze. Natürlich gab es einen Unterschied zwischen dem Öl, welches mir gehörte und dem, was offiziell dem Staat Geld einbrachte. Und ich hatte eine eindeutige Grenze gezogen. Das Letzte, was mir passieren würde, war Korruption. Was dem Volk gehörte, das bekam es auch, auch wenn es auf Helikopter oder neue Waffen ging. Was mir gehörte, das ging auf die besagten Juwelen und Pelzmäntel.
Als wir langsam zu landen begannen, erkannte ich die unzähligen Gebäude, welche eine Rolle in meinem bisherigen Leben gespielt hatten. Jedes Mal, wann wir nach einem Urlaub gelandet waren, hatte ich diesen Anblick gehabt. Und nun hatte ich ihn wieder. Je näher wir uns dem Boden näherten, desto mehr Erinnerungen überfluteten mich. Erinnerungen an Spaziergänge, Partys und Dates. Dates mit glücklichen Enden und welche, die in einer totalen Katastrophe endeten. Wie sehr hatte ich mich verändert? Würde ich meine Freunde noch erkennen? Würden sie mich noch erkennen? Mit Juwelen aus Brillianten und 24 Karat Gold, mit einer Makarov und umgeben von Wachen?