Kapitel 4: Nimm nicht beides
Vor zehn Jahren war Erwin Muntz unterwegs mit seiner Geliebten und seinem unehelichen Sohn, als er zufällig mehrere hochrangige Wissenschaftler sah, die von einem Attentäter bedroht wurden.
Als ehemaliger Soldat schritt Erwin Muntz ein. Er überwältigte den mit Sprengstoff vollgepackten Attentäter und stellte sich vor die Gruppe. Er rannte mit dem Mann zurück Richtung seiner Geliebten und seines Sohnes, und sie alle wurden in Stücke gerissen.
Danach wurde Erwin Muntz zum Helden erklärt.
Alice Nottebohm wurde zur Heldengattin in Trauer.
Dieser Titel lag auf ihr wie ein unsichtbares, eisernes Korsett.
Von da an durfte sie in der Öffentlichkeit nicht lachen, keine bunten Kleider tragen, sich nichts Besonderes gönnen, nicht gut essen, nicht verreisen, keine Freundinnen treffen und schon gar keinen neuen Mann an ihrer Seite haben.
Sonst würden die Leute sie als leichtes Mädchen beschimpfen, ihr Gefühllosigkeit vorwerfen - weil ihr Mann erst ein paar Jahre... für das Land gestorben war und sie schon wieder Leben hatte.
Um die Familienehre zu wahren, spielte die Familie Muntz das Märchen der treuen Witwe mit und vertuschte auch, dass Erwin Muntz eine Geliebte und einen unehelichen Sohn hatte.
Solange Alice Nottebohm in Trauer lebte, würde die Öffentlichkeit sie verehren und die Geschäfte der Familie Muntz unterstützen.
Nach Erwin Muntz' Tod ging es mit den Geschäften der Familie steil bergauf.
Alice Nottebohm war das einzige Opfer.
Das Absurde war: Erwin Muntz hatte einen Sohn und einen Vater. Kurz nach seinem Heldentod trugen sie maßgeschneiderte Anzüge und frequentierten die besten Lokale, lachten und scherzten - doch niemand tadelte sie. Stattdessen hieß es, Erwin Muntz würde sich freuen, dass sie ihr Leben weiterführten.
Aber Alice Nottebohm durfte nicht leben. Sie musste im Schmerz erstarrt bleiben und als Trauerfigur für Erwin Muntz herhalten, sonst gab es öffentlichen Pranger und einen Boykott gegen die Muntz-Unternehmen.
Später verließ Alice Nottebohm das Haus kaum noch, nur an wenigen Tagen im Jahr.
Auch ihr Charakter verkümmerte zusehends.
Die Familie Muntz musste das ertragen.
Das Essen stand auf dem Tisch, die Familie setzte sich.
Gegen Ende der Mahlzeit fragte der alte Herr Muntz plötzlich: "Theres, du und Aayden seid jetzt drei Jahre verheiratet und habt noch kein Kind. Liegt das an dir, oder hat Aayden gesundheitliche Probleme?"
Der Alte hatte zuvor nur mit Aayden über Kinder gesprochen, nicht mit Theres. Jetzt, da beide anwesend waren, fragte er ohne Umschweife.
"Hust, hust..." Theres Staudinger hatte nicht erwartet, dass Opa so direkt fragen würde, und verschluckte sich fast.
Der alte Herr Muntz fuhr fort: "Wenn es an Aayden liegt, dann soll er sich mal durchchecken lassen. Ich will vor meinem Tod noch ein Enkelkind von euch beiden sehen."
Theres Staudinger sagte rasch: "Opa, sag so was nicht. Du wirst noch hundert."
Der alte Herr Muntz schüttelte den Kopf. "Spar dir die Floskeln. Sag mir einfach: Werde ich das noch erleben?"
Alice Nottebohm schnaubte verächtlich. "Warum fragst du Theres? Die Frage gehört deinem goldenen Jungen da."
"Die Blume im Haus trägt keine Früchte, aber vielleicht blüht es draußen schon üppig. Genau wie bei deinem verstorbenen Sohn - der hat dir ja auch Überraschungen versteckt."
Aayden Muntz' Gesicht verfinsterte sich sofort. "Mutter, hör auf mit den Anspielungen!"
Alice Nottebohm lachte kalt. "Ob es Anspielungen sind oder die Wahrheit, das weißt du genau!"
"Knall!"
Der alte Herr Muntz schlug Messer und Gabel auf den Tisch. "Aayden, hast du eine Geliebte?"
Aayden Muntz blickte zu Boden. Er wollte es nicht zugeben, aber auch nicht lügen. Unter dem Tisch tritt er Theres gegen das Schienbein.
Theres Staudinger legte Besteck weg. "Opa, keine Sorge. Wir kriegen ein Kind. Wir haben bisher verhütet, weil wir dachten, mit Kind hätten wir keine Zeit mehr für dich."
"Jetzt, wo du ein Urenkelkind willst, werden wir uns ins Zeug legen."
Dem alten Herrn Muntz leuchteten die Augen, er klopfte ihr beruhigend auf die Hand. "Gutes Mädchen. Nimm's mir nicht übel, dass ich dränge. Ich will doch nur dein Bestes."
Theres Staudinger nickte leicht. "Ich weiß, Opa."
Nach dem Essen gingen Theres Staudinger und Aayden Muntz über das Anwesen spazieren, um dem alten Herrn Muntz ihre heile Welt vorzuspielen.
Nach einer Weile rief Rita Kupferblum Aayden Muntz an.
Was auch immer Rita am Telefon sagte, Aayden Muntz besänftigte sie mit gedämpfter Stimme: "Keine Sorge, ich werde nicht mit Theres ins Bett gehen. Ich hab dir versprochen, mich reinzuhalten für dich, und das halte ich."
"Opa drängt zwar, aber das ist nur leeres Gerede."
"Mach dir keine Sorgen, Opa wird mir keine Drogen unterschieben..."
"Schon gut, wein nicht. Am Sonntagnachmittag, sobald ich hier raus bin, komm ich sofort zu dir."
Theres Staudinger fühlte sich unbehaglich beim Zuhören und wollte sich gerade wegschleichen.
Doch in diesem Moment erschien plötzlich Alice Nottebohm mit finsterer Miene und stellte sich vor Aayden hin.
Bevor er reagieren konnte, entriss sie ihm das Handy.
Ob versehentlich oder absichtlich - sie drückte auf die Freisprechtaste, und Rita Kupferblums weinerliche, süßliche Stimme schallte aus dem Telefon.
"Schatz, ich vermiss dich so. Drei Monate haben wir uns nicht gesehen. Endlich bin ich mit den Dreharbeiten fertig, aber ich kann dich nicht sofort sehen. Nachts kann ich vor Sehnsucht nicht schlafen, ich vermiss deine Umarmung so..."
Alice Nottebohm schnaubte ekel. "Es ist noch nicht mal dunkel, und du tust schon so geil. Juckt's dich etwa da unten?"
"Wenn's juckt, nimm 'ne Schuhsohle und klatsch drauf. Mach hier nicht so 'n Theater. Ist Aayden etwa dein Mann? Was erlaubst du dir, ihn so zu nennen?"
Rita Kupferblum war wütend und beleidigt zugleich. "Schwiegermutter, wir sind beide Frauen. Wie kannst du mich mit so ekelhaften Worten beschimpfen? Warum müssen Frauen andere Frauen so runtermachen?"
Alice Nottebohm lachte hohn. "Ich passe meine Worte dem Anlass an. Du benimmst dich wie eine Nutte und hast dann Angst, dass man dich so nennt?"
Rita Kupferblum schnappte nach Luft und legte schluchzend auf.
Aayden Muntz riss mit zusammengekniffenen Lippen das Handy an sich. "Mutter, warum beleidigst du Rita? Rita ist sensibel, nicht so abgebrüht wie Theres, der sowas nichts ausmacht. Was, wenn Rita was Dummes tut..."
Alice Nottebohm sagte beißend: "So zartbesaitet und trotzdem die Geliebte?"
Aayden Muntz fuhr auf. "Rita ist nicht die Geliebte!"
Alice Nottebohm erwiderte: "Wenn sie nicht die Geliebte ist, wer dann? Vielleicht ist Theres, deine rechtmäßige Ehefrau, die Geliebte?"
Aayden Muntz zog die Stirn kraus. "Die Frau, die ich immer heiraten wollte, ist Rita. Nur wegen Opas Druck hab ich Theres geheiratet. Als du Rita und mich erwischt hast, hab ich dir das doch erklärt. Warum nennst du sie dann Geliebte?"
Alice Nottebohm schnaubte verächtlich. "Egal aus welchem Grund du Theres geheiratet hast - sie ist deine Frau. Jede andere, mit der du was hast, ist eine Geliebte."
"Red nicht von Druck. Wenn du dich unter Druck entschieden hast, dann steh dazu. Im Erwachsenenleben läuft nicht alles nach Wunsch. Man kriegt was und man lässt was. Du hättest dich damals komplett weigern und Opa ignorieren können. Aber wenn du dich für Theres entschieden hast, dann führ anständig mit ihr deine Ehe und lass die anderen Frauen in Ruhe."
"Nimm nicht beides!"
