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Kapitel 1 - Katastrophen - Tango

Sara

Das schrille Heulen der Sirenen schneidet scharf und hartnäckig wie ein Skalpell durch das Gebrumme des Wiener Nachmittags.

„Platz machen, wir müssen Leben retten!“, rufe ich, aber das ist eher wegen der dramatischen Note, denn die Schwerstarbeit übernimmt mein Sirenengesang. Oder besser gesagt, das laute Martinshorn auf dem Dach meines Rettungsautos. Die Menge teilt sich wie das Rote Meer vor Moses, und ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen. Wer braucht schon einen öden Stab, wenn er Blinklichter und ein Megafon hat?

Ich komme an der Unfallstelle zum Stehen und es herrscht das totale Chaos.

Ein Auto, das wie eine weggeworfene Getränkedose an einem Laternenpfahl zerdrückt ist und dessen verschobenes Metall knacksende Laute von sich gibt. So wie es aussieht, hat der Fahrer wohl versucht, einen Fast & Furious-Stunt nachzustellen. Spoiler-Alarm: Er hat es nicht ganz geschafft.

Ich hänge mir meine Arzttasche über die Schulter und danke innerlich dem Genie, das entschieden hat, dass wir mobile Notaufnahmen brauchen.

„Also gut, Leute, lasst uns nicht alle den Kopf verlieren“, murmele ich vor mich hin, während ich mit der Gefasstheit eines Menschen, der zu viele Actionfilme gesehen hat, durch die Trümmer wate. Panik ist ansteckend, aber Ruhe auch – wenn ich meine bewahren kann.

Ich dränge mich bereits durch das Meer aus Menschen, meine Stiefel hämmern auf das Kopfsteinpflaster, als wollten sie dem Chaos entkommen, das mir auf den Fersen ist.

Willkommen in meiner Welt: ein nicht enden wollender Sprint in Stahlkappenschuhen.

„Sanitäter im Anmarsch!“, rufe ich und gehe einem Gaffer aus dem Weg, der die Szene mit seinem Handy filmt.

Alter, schon mal was von Privatsphäre gehört?!

Ich erreiche das Fahrzeug und darin ist ein junger straßenköterblonder Mann gefangen, sein Gesicht ist eine Palette aus Angst und Schmerz.

Showtime, Sara!

„Hallo, ich bin Sara und ich hole dich jetzt da raus, okay?“, sage ich mit meiner professionellen Stimme.

Es ist derselbe Ton, den ich anwende, wenn ich einem Kleinkind erkläre, dass Brokkoli nur kleine Bäume für Riesen sind. Funktioniert jedes Mal.

Während ich versuche, die Person zu stabilisieren, bevor die Rettungsschere zuschlägt, muss ich daran denken, wie Dad meine Technik kritisieren würde.

„Zu ungestüm, Sara. Mehr Finesse!“, würde er sagen.

Aber Finesse ist was für Gesellschaftstanz, Dad.

Ich bevorzuge den Tango mit der Katastrophe, der hat einen besseren Rhythmus.

„Bleiben Sie bei mir!“, sage ich dem Patienten sanft, während meine Hände fest wie ein Felsen sind, auch wenn ich innerlich nervös Cha-Cha-Cha tanze.

„Es wird alles gut.“

Wen will ich hier eigentlich beruhigen, verdammt?

Gut. Das ist ein Wort, das im Moment nirgendwo in mein Leben passt.

Nicht in das Familiendrama, das mich später bestimmt wieder überfallen wird. Aber hier, zwischen dem verhedderten Metall und dem Geruch von ausgelaufenem Benzin, bin ich genau da, wo ich sein muss. Kein weißer Kittel und kein makelloser Hörsaal könnten mit dieser adrenalingetriebenen Raserei mithalten.

„Wir sind so weit!“, verkünde ich den anderen Ersthelfern. Eins, zwei, drei, und wir heben ab. Wie am Schnürchen, nur mit mehr Schweiß und Flucherei.

Dunkle Romantik? Von wegen.

Das ist dunkle Realität, komplett mit Blutflecken übersät und gebrochenen Knochen. Aber hey, es ist besser, als sich beim Sonntagsessen über EKG – Muster zu streiten.

„Gute Arbeit, Leitner“, grunzt einer der Feuerwehrmänner anerkennend, als wir den Patienten aus dem Wrack bergen.

Ich nicke und lächle ihm zu, wobei mein Lächeln nicht ganz bis zu meinen Augen reicht.

Anerkennung ist nett, aber ich mache das nicht, um dafür auf die Schulter geklopft zu werden. Ich mache es, weil es jemand tun muss .

Und ich bin nun mal verdammt gut darin.

„Los geht‘s!“, brülle ich und folge der Trage zum Krankenwagen.

Die Sirene heult ihre Zustimmung, und wir rasen weiter durch die Straßen, während ich am seidenen Faden der Vernunft hänge.

Wien, meine schöne, chaotische Symphonie, in der Leben und Tod einen messerscharfen Walzer tanzen.

Und ich?

Ich bin nur der Dirigent mit einem Verhaltensproblem und einer Tasche voller Sarkasmus, der versucht, die Musik am Laufen zu halten.

Der Griff des Patienten um meine Hand ist wie ein Schraubstock – ironisch, wenn man bedenkt, dass das Auto ihn selbst vor wenigen Minuten noch in seiner tödlichen Umarmung hatte. Seine Augen sind vor Angst weit aufgerissen und er blicken von mir zu der Infusionsleitung, die ich mit geübter Leichtigkeit in seinen Arm einführe. „Es wird alles gut“, sage ich ihm, meine Stimme ist die Ruhe inmitten dieses Sturms aus zersplittertem Glas und verbogenem Stahl.

„Versprochen?“, keucht er, seine Stimme ist inmitten der Kakophonie aus Sirenen und gebrüllten Befehlen kaum zu hören.

„Hand aufs Herz“, antworte ich mit einem Augenzwinkern, obwohl mein eigenes Herz doppelt so schnell schlägt. Versprechen sind in meinem Beruf eine gefährliche Währung, aber ich kann nicht anders, als sie wie Süßigkeiten zu verteilen – es ist die Hoffnung, die zählt, nicht wahr?

„Leitner, wir haben einen weiteren Anruf!“, knistert die Stimme aus dem Funkgerät und schneidet durch den Dunst aus Adrenalin und Dringlichkeit, der wie eine zweite Haut an mir klebt.

„Verstanden“, antworte ich und befestige den letzten Verband ein wenig zu schnell. Eine weitere Runde Lebensrettung steht bevor, keine Ruhe für die Guten oder die Erschöpften. Ich drücke die Hand meines Patienten ein letztes Mal, bevor die Kollegen ihn übernehmen und ich zu unserem Krankenwagen renne, wo mein Partner bereits voller Vorfreude den Motor aufheulen lässt. Sirenen heulen auf, ein Lied für die moderne Walküre.

Das bin übrigens ich – Sara Leitner, Ihre freundliche Lebensretterin aus der Nachbarschaft mit mehr Theater als die Vogue.

„Lass uns tanzen, Wien“, murmele ich, während der Krankenwagen sich vorwärtsbewegt und durch die labyrinthischen Straßen schlängelt wie ein Wagen auf dem Weg zur Hölle – oder zumindest dorthin, was dem am nächsten ist. Meine Geist ist ein Gedankenkarussell, das sich zu schnell dreht, als dass ich etwas Greifbares festhalten könnte, aber meine Hände sind fest auf der Trage, bereit für jedes Unglück, das uns erwartet.

„Ein neuer Tag, eine neue Katastrophe“, witzele ich vor mich hin, denn seien wir ehrlich, die Romantik dieses Jobs ist so schwarz wie der Kaffee, den ich heute Morgen aus Zeitmangel nicht trinken konnte. Aber während die Straßenlaternen in einem schwindelerregenden Geflecht aus Gold und Schatten vorbeiziehen, kann ich den Nervenkitzel, der mich durchströmt, nicht leugnen. Das ist ein Leben am Rande des Abgrunds – ein Rausch, den keine Droge je erreichen könnte – und ich bin süchtig.

Der Krankenwagen kommt schlitternd zum Stehen und für eine Sekunde ist alles still, bis auf das Klingeln in meinen Ohren – eine kurze Atempause, bevor das Chaos wieder losgeht. Ich bin aus der Tür, meine Ausrüstung in der Hand, bereit, mich wieder ins Getümmel zu stürzen. Doch als ich die Szene überblicke, überrascht mich etwas – ein Vater, der seinen Sohn fest umklammert, in seinen Augen spiegelt sich Angst und etwas anderes. Enttäuschung?

„Konzentrier dich, Sara!“, ermahne ich mich und verdränge das Bild aus meinem Kopf. Aber es ist zu spät; die Schleusen öffnen sich und plötzlich bin ich nicht mehr auf den Straßen Wiens, ich sitze wieder an diesem verdammten Esstisch und der stählerne Blick meines eigenen Vaters durchbohrt mich.

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