Kapitel 10 Die Preisverleihung
Mit höflich gesenktem Kopf stand Tristan da und wartete auf eine Antwort, aber auch nach einem langen Moment war kein Pieps von seinem Chef zu hören.
Als er verwirrt den Kopf hob, um nachzusehen, was los war, stellte er fest, dass die Zigarette in der Hand seines Chefs größtenteils zu Asche verbrannt war. Was in seinem Griff zurückblieb, war der Zigarettenstummel, aber Carlos hatte es noch nicht bemerkt. Seine Augen waren auf den Bildschirm fixiert. Aus Neugierde drehte Tristan seinen Kopf in Richtung des Fernsehers; ein Mädchen übernahm die Führung des Marathons.
Die junge Frau trug ein grünes T-Shirt und Turnschuhe, die von Carlos' Firma, der ZL Group, gesponsert wurden. Obwohl ihr T-Shirt vom vielen Laufen klatschnass war, war ihr Tempo gleichmäßig. Ihr Gesicht hingegen war so rot wie ein reifer Apfel. Es war so bezaubernd. Ein vorsichtiger Blick, und man wäre versucht, sie zu kneifen. Zumindest empfand Tristan das so, als er sich dabei ertappte, wie er die Athletin beobachtete und leise anfeuerte.
"Wiederholen Sie Ihren Bericht. Noch einmal von vorne", forderte Carlos plötzlich und ließ Tristan aufschrecken. Als Tristan sich umdrehte, um seinen Bericht zu wiederholen, hatte sein Chef seinen Blick bereits vom Bildschirm abgewandt. Wieder einmal war sein Kopf in einer Akte vergraben, seine Augen waren nicht zu sehen, als wäre er nie abgelenkt.
Nach einiger Zeit gelang es der einstigen Silbermedaillengewinnerin, Debbie zu überholen. Doch das brachte sie nicht aus der Ruhe, und 1 Stunde und 10 Minuten später lag Debbie wieder vor allen anderen. Jeder konnte sehen, wie sehr sie sich bei jedem kalkulierten Schritt anstrengte, um voranzukommen. Der ganze Veranstaltungsort kochte vor Begeisterung auf allen Seiten.
Als sie an Schwung gewann, applaudierten ihr einige Studenten der Fakultät für Wirtschaft und Management begeistert und riefen: "Gut gemacht, Debbie!" "Weiter so! Du hast es fast geschafft!", riefen sie anerkennend. Selbst die Studenten, die aus der Ferne nicht alles klar sehen konnten, stimmten in den Jubel ein, als sie hörten, dass Debbie wieder die Führung übernahm. Alles andere wurde von den Rufen übertönt, die in Wellen kamen, eine lauter als die andere. Es versteht sich von selbst, dass die Anfeuerungsrufe ebenso wenig nachließen wie die Anzeichen, dass sie langsamer wurde.
Zehn weitere Minuten später waren es nur noch drei Durchgänge bis zum Ziel. Plötzlich ertönten überraschte Ausrufe aus der Menge. Inmitten der verschiedenen Reaktionen riefen einige Schüler den Namen Dixon.
Als Debbie sich kurzatmig umdrehte, stellte sie fest, dass ihre Freunde, Jared und die anderen, nirgends zu sehen waren. Ihr wurde klar, dass sie sich aus dem Rennen zurückgezogen hatten. Dixon hingegen, der an sechster Stelle lag, war aus irgendeinem Grund gestolpert. Als er versuchte, auf die Beine zu kommen, erwies es sich als schwieriger, als er gedacht hatte, und er scheiterte.
Als Debbie das sah, zögerte sie einen Moment. Obwohl sie mehrere Meter von ihm entfernt war - der Abstand wuchs mit jedem Schritt - stieß sie ein leises Knurren aus und drehte sich dann zu ihm zurück, was das Publikum in einen hysterischen Anfall von Erstaunen versetzte.
In dem Moment, als sie in diesem Sekundenbruchteil die Entscheidung traf, übernahm der ehemalige Silbermedaillengewinner an ihrer Stelle wieder die Führung.
"Tom...", keuchte Dixon, als er ihre Rückkehr bemerkte. "Tomboy. Komm nicht... komm nicht... komm zurück zu mir..." Doch bevor er noch ein paar Worte aneinanderreihen konnte, stand Debbie schon mit ausgestreckter Hand vor ihm. Dixon blickte mit entschuldigenden Augen auf und verstummte, sein Kiefer hing schlaff herunter.
Mit einem kurzen Blick an Debbies Gestalt vorbei sah er, dass die Silbermedaillengewinnerin immer noch im Ziel war, und das brachte seine Konzentration zurück. Wenn schon nicht für ihn, so musste er doch für Debbie weitermachen, die einen möglicherweise schon sicheren Sieg für sie riskiert hatte. Resigniert nahm Dixon ihre Hand und stand auf.
Doch seine Verletzung schien schlimmer zu sein, als er gedacht hatte. Kaum war er aufgestanden, ließ ihn das Pochen in seinen Beinen fast in die Knie gehen. Debbie fing ihn schnell auf.
"Tomboy, hör mir zu", sagte er zwischen Keuchen. "Meine Beine tun weh." Er schüttelte den Kopf und fühlte sich niedergeschlagen. "Ich... ich kann nicht mehr weitergehen. Aber du kannst noch gehen. Lauf. Ignorier mich einfach."
Debbie sah auf die Kratzer an seinen Knien und ermutigte ihn. "Doktor, es sind nur ein paar Kratzer. Sie können es schaffen. Lassen Sie mich Ihnen helfen."
Sie waren schon seit Jahren befreundet. Und in all diesen Jahren war er immer für sie da, wenn sie Ärger mit den Lehrern hatte. Diesmal war er jedoch derjenige, der Hilfe brauchte. Und wie eine wahre Freundin wollte sie ihn nicht im Stich lassen.
Auf Debbies hartnäckiges Drängen hin biss Dixon die Zähne zusammen und begann wieder zu laufen. Es tat jedoch nicht mehr so weh, da Debbie ihn für den Rest des Rennens die ganze Zeit unterstützte.
Als alle Anwesenden sahen, dass sie sich nicht unterkriegen ließen, schrien die Schüler aus voller Kehle: "Monitor! Tomboy! Du bist großartig!"
Und irgendwie stach eine Stimme aus der Menge hervor. "Debbie, ich liebe dich!" Das wurde mit viel Gekicher und einigen gutmütigen Kopfschüttlern quittiert, denn es kam von einem Mädchen.
Obwohl sie im Nachteil waren, überholten Debbie und Dixon nach und nach einige Läufer, die vor ihnen liefen. Als sie schließlich die Ziellinie erreichten, wurde Debbie Dritte, während Dixon Vierter wurde.
Obwohl sie nicht den ersten Platz belegte, prägte ihre Entscheidung, einem verletzten Freund zu helfen, das Mitgefühl der Läuferin Nr. 961 in die Herzen aller Anwesenden. Aufgrund einer Entscheidung, die sie im Bruchteil einer Sekunde traf, wurde Debbie zum Star - zur Heldin.
Der Mann in der VIP-Lounge hat alles gesehen, was während des Rennens passiert ist. Obwohl er es sich nicht anmerken ließ, schien ihn der Vorfall in irgendeiner Weise zu berühren.
Die geliebte Sportlerin wurde von einem Dutzend Jungen umschwärmt. Vor lauter Begeisterung trugen sie sie mühelos mit den Händen, warfen sie in die Luft und fingen sie auf. Das wiederholten sie noch ein paar Mal, und obwohl sie hilflos und erschöpft war, zauberte es ein echtes Lächeln auf ihr Gesicht.
Carlos grinste bei diesem Anblick. 'Sieh sie dir an', dachte er verärgert. 'Sie verführt diese unschuldigen Jungen. Wie kokett kann sie sein?'
Nach dem Rennen zog sich Debbie in ihren Schlafsaal zurück und begrüßte ihr Bett mit offenen Armen. Es war viel passiert, aber der Tag war noch nicht zu Ende.
In wenigen Stunden sollte die Abschlussveranstaltung des Halbmarathons stattfinden, bei der auch die Sieger geehrt werden sollten. Und der besondere Gast, der die Medaillen überreichen sollte, war der CEO der ZL Group, Carlos.
Als sie Carlos' Namen hörte, sprang sie auf wie eine Feder. "Was?!" Debbie konnte nicht anders, als laut und ungläubig aufzuschreien. 'Carlos?', dachte sie verärgert. 'Ernsthaft! Warum ist er überall?' Die junge Frau brütete in ihrem Bett und biss sich gedankenverloren auf die Lippe.
Kasie warf ihr einen mitfühlenden Blick zu und sagte: "Ich muss schon sagen, Debbie. Herr Huo und du scheinst eine besondere Verbindung zu haben. Es ist, als ob er überall, wo du hingehst, auch dabei zu sein scheint!" Debbie seufzte. Eine besondere Verbindung? Sie konnte sich ein Schnauben nicht verkneifen. Er und ich sind doch rechtlich aneinander gebunden', dachte sie bei sich.
"Jetzt mache ich mir Sorgen, dass es zwischen euch beiden bei der Preisverleihung hässlich werden könnte", sagte Kasie, als Debbie aus ihren Gedanken gerissen wurde und sie ansah. "Ich werde bei der Preisverleihung nicht mit ihm aneinandergeraten", versicherte Debbie. "Nur dass ... na ja, wer hätte gedacht, dass er die Medaillen verleihen wird?" Mürrisch schnaufend fügte sie hinzu: "Da ich nicht der Sieger sein werde, hätte ich den dritten Platz einfach jemand anderem überlassen sollen. Dann hätte ich wenigstens sein Gesicht nicht sehen müssen."
Zugegeben, der dritte Platz war nicht schlecht. Aber solange sie nicht den ersten Platz belegte, fühlte ein Teil von ihr, dass es trotzdem ein Verlust war. Sie war eben sehr wettbewerbsorientiert. Und der dritte Platz bedeutete, dass sie ihre Wette mit Gail verloren hatte. Während sie an ihren frisch lackierten Nägeln pustete, meldete sich Kristina zu Wort: "Eigentlich beneide ich dich, Debbie. Ich beneide dich. Was für ein Glück, dass du Mr. Huo so oft triffst! Er ist so gut aussehend, so reich. Er ist einfach alles. Es ist wie Schicksal." Dann verschwand der verträumte Blick, der eben noch auf ihrem Gesicht zu sehen war. An seine Stelle trat ein Schmollmund, als sie fortfuhr: "Aber wenn ich daran denke, wie schlimm es jedes Mal endete, wenn ihr euch gesehen habt, igitt, so ein Schicksal möchte ich lieber nicht haben. Einfach so beneide ich dich nicht mehr." Nur Debbie ist mutig genug, sich mit Herrn Huo anzulegen.
Ist ihr Hintergrund mächtiger als der von Herrn Huo?
Das ist auf keinen Fall möglich.' Kopfschüttelnd verdrängte Kristina diesen Gedanken aus ihrem Kopf. In Y City hatte es niemand gewagt, sich mit Carlos anzulegen, außer Debbie.
Kasie, die sich träge an ein Kissen klammerte, fragte: "Tomboy, Mr. Huo sieht wirklich sehr gut aus. Ich verstehe nur nicht, warum du dich nicht zu ihm hingezogen fühlst." Dann legte sie den Kopf neugierig schief und fragte: "Warum hasst ihr beiden euch so sehr?"
Das Lächeln auf Debbies Gesicht erlahmte. Als sie ihn das erste Mal gesehen hatte, war sie tatsächlich von seinem guten Aussehen angezogen worden. Es bestand kein Zweifel, dass der Mann gut aussah. Aber später, jedes Mal, wenn sie sich sahen, machte er es ihr leicht, ihn nicht zu mögen. Und warum? Jedes Mal, wenn sie sich trafen, redete er sich den Mund fusselig, und sein Sarkasmus ging ihr auf die Nerven. Und warum in aller Welt musste er aus einem Kuss ein solches Theater machen? Sollte es nicht die Frau sein, die beim Küssen den Kürzeren zieht? Sie fand, dass er als Mann nicht so engstirnig sein sollte. Er hingegen fand, dass sie als Frau kultivierter und weniger kokett sein sollte.
In gewisser Weise schien es, als hätten sie sich auf dem falschen Fuß erwischt. Doch beide schienen zu stur zu sein, um sich ihre Fehler einzugestehen.
"Ich verstehe das nicht", jammerte Debbie. "Warum ist er überall? Warum taucht er sogar bei der Siegerehrung eines Marathons auf?" Sie rollte mit den Augen. "Muss er nicht irgendwo arbeiten? Ist er nicht der CEO eines multinationalen Konzerns? Müsste er sich nicht um firmenbezogene Dinge kümmern? Warum hat er die Zeit, herumzutrödeln?" Nach ihren Tiraden verschränkte Debbie wütend die Arme und starrte ins Leere.
"Debbie, die ZL Group ist der größte Sponsor dieses Marathons", erklärte Kasie ihr. "Sie haben die Kleidung, die Turnschuhe und die Preise gesponsert. Als Chef der ZL Group ist es natürlich nur natürlich, dass Herr Huo zu der Zeremonie eingeladen wird."
"Außerdem ist die ZL Group sehr sportbegeistert. Sie haben viele Sportveranstaltungen gesponsert", fügte Kristina hinzu. "Es ist überhaupt nicht überraschend, die ZL Group bei einem Marathon zu sehen." Auch wenn Debbie den beiden glaubte, war sie doch überrascht, dass sie so viel wussten.
Beide Mädchen waren oft auf dem Laufenden, wenn es um Carlos ging. Das waren eigentlich die meisten Mädchen. Immerhin war er der reichste Junggeselle in Y City. Nur Debbie schien sich im Moment von ihm abgestoßen zu fühlen, und angesichts ihrer Statussituation entging ihr die Ironie nicht.
Bei der Preisverleihung stand Debbie ruhig auf dem Podest für den dritten Platz. Als die Menge zu schreien begann, schaute sie sich um und sah Carlos in Sichtweite kommen.
Der Mann trug einen Anzug und nagelneue schwarze Lederschuhe und betrat die Bühne in gleichmäßigem Tempo.
Die Herbstsonne warf einen goldenen Schimmer auf alles. Im Sonnenlicht, mit seiner distinguierten Ausstrahlung und seinem eleganten Auftreten, sah er noch umwerfender aus als sonst. Jede einzelne Frau außerhalb der Bühne kreischte vor Begeisterung. Zu ihrem Leidwesen konnte sogar Debbie ihre Augen eine Zeit lang nicht von ihm lassen.
Wenn es so bliebe, wenn sie sich überhaupt nicht stritten, wäre er so perfekt. Unerreichbar, schneidig und einflussreich. Kein Wunder, dass so viele Frauen verrückt nach ihm waren.
Als er näher kam, funkelten die Augen des Gastgebers vor Begeisterung. "Begrüßen wir nun Herrn Huo", verkündete sie, und ihre Stimme zitterte vor lauter Aufregung, ihm nahe zu sein, "wir haben das Glück, ihn hier bei uns zu haben. Er wird nun die Medaille für den Goldmedaillengewinner überreichen."
Der Mann überreichte die Medaillen, eine nach der anderen. Als es um die Bronzemedaille ging, schritt Carlos in Begleitung des Gastgebers auf Debbie zu. Sein Gesicht blieb lässig, als hätte er die Frau noch nie gesehen. Als er vor ihr stand, hob sie den Kopf und sah ihn an. In Anbetracht der Tatsache, dass nun alle Augen auf sie gerichtet waren, schlich sich ein Lächeln auf ihre Lippen, aber in ihren Augen war keine Freude zu erkennen.
