Kapitel 2: Das dritte Jahr
Heute war Leos Herz voller Aufregung, denn er wartete auf diesen Moment. Das Auto kam vor einer Villa zum Stehen.
Tina stieg schnell aus dem Auto aus. Sie wollte keine weitere Sekunde mit ihrem feigen, stummen Schwager verbringen. Es war inzwischen 20 Uhr, und nachdem er das Auto geparkt hatte, betrat Leo die Villa und ging in sein Zimmer zurück, wobei er die Tür hinter sich schloss.
Leo und Sophia führten ein scheinbar getrenntes Leben und bewohnten jeweils ihr eigenes Schlafzimmer in der gemeinsamen Wohnung. Obwohl sie seit vier Jahren verheiratet waren, war ihre Beziehung nur eine Fassade, ohne echte emotionale Bindung. Ihre Ehe existierte nur auf dem Papier, und sie hatten noch nicht einmal den einfachen Akt des Händchenhaltens erlebt.
In diesem Moment hatte Leo eine starke Vorahnung, dass der Schmerz bald kommen würde, noch stärker als zuvor. Leo nahm einen Kalender vom Tisch und strich mit einem Stift die Zahl 30 durch.
Heute würde sein demütigendes Leben zu Ende gehen. Selbst wenn der alte Mann ihn betrogen hatte, würde er die Familie Henley für immer verlassen!
Ein stechender Schmerz durchzuckte Leos Kopf, und er zog schnell sein Hemd aus, setzte sich im Schneidersitz auf das Bett, konzentrierte sich und wartete auf den Moment, der kommen würde.
Währenddessen betrat Jessica Henley, Leos Schwiegermutter, mit einem Mann in Leos Alter den Flur im Erdgeschoss. Sie unterhielten sich und lachten.
"Gilbert, warum hast du mir nicht früher gesagt, dass du nach Langstel zurückkehrst?" Jessica führte den Mann zum Sofa und sagte: "Setzen Sie sich doch. Ich werde Ihnen Tee einschenken."
Der Mann namens Gilbert Gray, der Sohn eines engen Freundes von Jessica, war in einen gut sitzenden Freizeitanzug gekleidet. Mit seinen langen Beinen und seinen auffallend schönen Gesichtszügen besaß er eine Ausstrahlung, die an einen Hollywoodstar erinnerte.
"Tantchen, du musst nicht so höflich sein. Ich bin erst heute von meinem Auslandsstudium zurückgekehrt und extra hierher gekommen, um dich und Sophia zu sehen", sagte Gilbert, holte eine exquisite Schachtel aus seiner Tasche und reichte sie Jessica mit beiden Händen. "Ich bin in Eile zurückgekommen und habe keine richtigen Geschenke vorbereitet, aber ich hoffe, es gefällt euch."
"Gilbert, deine Mutter und ich sind wie alte Freunde. Kein Grund, so förmlich zu sein", stichelte Jessica, die versuchte, Wut vorzutäuschen, aber es nicht schaffte, ihr Lächeln zu verbergen.
Gilbert lächelte und sagte: "Deshalb habe ich sowohl für meine Mutter als auch für meine Tante ein Geschenk gekauft."
"Du freches Kind!" Jessica schimpfte spielerisch und ihre Augen funkelten vor Freude, als sie das kleine Geschenkpaket von Gilbert entgegennahm. Als sie hineinschaute, fand sie ein wunderschönes Jade-Armband, das eindeutig nicht billig war.
Nachdem sie das Geschenk weggeräumt hatte, wollte Jessica Gilbert eine Tasse Tee einschenken, doch sie konnte nicht anders, als zu seufzen.
Sie hatte Gilbert beim Aufwachsen beobachtet. Er war immer klug und fürsorglich gegenüber seinen Eltern gewesen. Jessica hatte ursprünglich geplant, ihn mit Sophia zu verkuppeln, wenn sie beide das College abgeschlossen hatten. Doch Gilberts Entscheidung, im Ausland zu studieren, hatte diese Pläne verzögert.
Nicht lange nachdem Gilbert ins Ausland gegangen war, erkrankte Sophia auf unerklärliche Weise an einer seltenen Krankheit. Kein Krankenhaus, weder im In- noch im Ausland, konnte ein Heilmittel finden. In ihrer Verzweiflung suchte Jessica, die etwas abergläubisch war, Hilfe bei einer Wahrsagerin.
Die Wahrsagerin riet ihr, einen Mann zu finden, der Sophia heiratet, um die Krankheit zu besiegen. Wie durch ein Wunder verschwand Sophias seltsame Krankheit, nachdem sie geheiratet hatten.
Aber in Jessicas Augen war es nicht Leo, der ihre Tochter gerettet hat. Das Waisenkind Leo war nichts weiter als ein Werkzeug. Wenn es bei einer Scheidung nicht um die Aufteilung des Vermögens ginge, hätte Jessica ihn schon längst rausgeschmissen.
Wenn sie an ihren stummen Schwiegersohn dachte, fühlte sich Jessica noch mehr genervt, vor allem im Vergleich zu Gilbert.
"Übrigens, Tantchen, ist Sophia noch nicht zurück?" Gilbert sah sich um und fragte beiläufig.
Jessica stellte eine Tasse Tee vor Gilbert hin und antwortete: "Sie ist mit der Arbeit beschäftigt. Sie hat einen vollen Terminkalender, also wird sie wahrscheinlich nicht vor 22 Uhr zu Hause sein."
"Ich verstehe. Ich habe gehört, dass Sophia geheiratet hat. Ist ihr ... ihr Mann nicht zu Hause?" fragte Gilbert erneut.
Ein verärgerter Gesichtsausdruck erschien auf Jessicas Gesicht, als sie nach oben zeigte und sagte: "Dieser faule Penner sollte da oben sein. Wer weiß, was er vorhat."
Gilbert hatte ein kaum merkliches kaltes Lächeln im Gesicht. "Tantchen, wo genau arbeitet Sophias Mann?"
Als Jessica dies hörte, konnte sie ihre Wut nicht mehr unterdrücken. Sie erhob ihre Stimme und schrie: "Leo, wir haben Gäste zu Hause. Schämst du dich nicht, dich so zu verstecken?!"
"Es scheint so zu sein, wie ich gehört habe", dachte Gilbert bei sich.
In der Tat hatte er sich vorher darüber erkundigt. Sophia hatte einen nutzlosen Mann geheiratet, einen erwachsenen Mann, der zu Hause herumlungerte, der Faulheit frönte und sich darauf verließ, dass die Familie seiner Frau ihn unterstützte.
Oh, und ja, ein stummer Mann, der versucht, einen Job zu finden. Es ist unwahrscheinlich, dass irgendein Unternehmen ihn einstellen würde.
Wahrlich, er lebt schlimmer als ein Hund.
Je näher es auf neun Uhr zuging, desto deutlicher wurden Leos körperliche Symptome. Selbst wenn er Jessicas Rufe hörte, wie sollte er nach draußen gehen?
Da er keine Antwort erhielt, rief Jessica erneut: "Tina, Gilbert ist hier, komm doch runter."
Tinas Zimmertür öffnete sich, und sie blickte unzufrieden nach unten. "Mama, warum schreist du so laut? Wenn Gilbert hier ist, ist er hier. Was ist daran so schlimm?"
Tina mochte Leo nicht, und Gilbert mochte sie noch weniger. Ihre weibliche Intuition sagte ihr, dass Gilbert durchtrieben war und kein guter Mensch.
"Tina, achte auf deinen Ton, wenn du mit deiner Mutter sprichst!" Jessicas Wut kochte hoch.
Gilbert nutzte die Gelegenheit und sagte: "Tantchen, sei nicht böse. Das ist es nicht wert. Ich fürchte, Sophias Mann ist noch nicht zurück."
Gilbert provozierte ein wenig. Er wollte unbedingt sehen, wie Sophias Mann aussah.
Wie erwartet, war Jessicas Wut nicht zu bremsen. "Tina, ist Leo zurückgekommen?"
"Er ist zurück, und er ist mit mir zurückgekommen!" erwiderte Tina.
"Geh und bitte ihn, für mich hierher zu kommen!" befahl Jessica.
"Gut", antwortete Tina ungeduldig und ging zu Leos Zimmer.
Tina spürte, dass ihr nichtsnutziger Schwager immer unerträglicher wurde. Er hatte sich in seinem Zimmer eingeschlossen, sobald er nach Hause kam, und tat so, als wäre er der Chef.
Als Tina die Hand ausstreckte, um an die Tür zu klopfen, ertönte plötzlich ein entsetzlicher Schrei aus Leos Zimmer - ein Schrei mit extremen Schmerzen.
Dieser Schrei schreckte Tina nicht auf, sie seufzte nur hilflos und schüttelte den Kopf. "Seufz, er hat wieder einen Anfall."
Für die Familie Henley war diese Situation nicht mehr überraschend. Ähnliche Vorfälle hatten sich im Jahr zuvor und im Jahr davor ereignet. Die Familie Henley hatte nie daran gedacht, Leo zur Untersuchung oder Behandlung ins Krankenhaus zu bringen. Für sie wäre Leos Tod das beste Ergebnis gewesen.
Tina drehte den Türknauf und wurde dann Zeuge einer Szene, die sie nie vergessen würde.
"Ah!" Nach einer kurzen Schrecksekunde stieß Tina einen furchtbaren Schrei aus und rannte davon.
"Tina, was ist los mit dir?" Jessica, die unten war, hörte Tinas Schrei und dachte, Leo hätte ihr etwas Schlimmes angetan. Sie eilte nach oben.
In diesem Moment lag Leo mit verrenktem Körper auf dem Bett. Er sah aus, als wäre er gerade aus einer Asphaltpfütze gezogen worden. Eine dunkle Substanz überzog seinen Körper, und nur ein Paar helle Augen zeugten davon, dass er noch lebte.
Kein Wunder, dass Tina Angst hatte.