Kapitel 5 Die Entscheidung
[Xanthea]
Luna Meesas Gesicht verlor jegliche Farbe.
„Was? Alpha…“
Er hob die Hand und brachte sie zum Schweigen.
„Wir haben keine Zeit für Diskussionen. Das ist ein Befehl und ich erwarte, dass du ihn befolgst.“
Damit verließ er den Raum.
Luna Meesa warf mir einen empörten Blick zu. Sie stolzierte vor mir herum und schlug mir ins Gesicht.
Der stechende Schmerz pulsierte wie tausend Nadeln durch meine Wange und überwältigte meine Sinne.
„Bist du jetzt glücklich?“, schnauzte sie mich an. „Du hast meine Familie endgültig zerstört! Du und deine dreckige, blutrünstige Mutter!“
Ich starrte ausdruckslos auf den Boden. Eine Mischung aus Gefühlen überkam mich und erwürgte mein Herz mit ihren unerbittlichen Klauen.
Ihr Griff um meinen gebrochenen Arm wurde fester, während ich meine Schreie zu einem bloßen Wimmern unterdrückte. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich das Gefühl, dass ich den Schmerz verdiente.
Der königliche Arzt senkte den Blick. Für ihn war das nichts Neues. Immerhin war er derjenige, der mich achtzehn Jahre lang jedes Mal geheilt hatte, wenn sie mich gebrochen hatten. Er fragte nie nach meinen Wunden. Er behandelte mich nur und hielt dabei genauso wie heute den Mund.
Sie packte mich mit der anderen Hand an den Wangen und bohrte ihre Nägel in meine Wangen. Meine Augen brannten vor Schmerz vor Tränen. Ich biss die Zähne zusammen, um das Schluchzen in meiner Kehle zu unterdrücken.
„Nutzlos und lästig, wie du es immer warst…“
„Mutter!“, platzte Nathalia ins Zimmer und brach in Tränen aus. „Ich will sie nicht verheiraten! Ich will nicht sterben! Mutter, bitte tu etwas!“
Ich hatte erwartet, dass Nathalia ihre Wut an mir auslassen würde, aber sie klammerte sich an Luna und schluchzte bitterlich. Wir hatten in diesem Moment dieselbe Angst und vielleicht war es das, was uns verband.
Nichts ist wirklich wichtig, wenn man den Tod direkt vor der Haustür sieht. Vor allem nicht, wenn der Tod kommt, um dich zu heiraten und dich als Opfergabe in die Unterwelt zu bringen.
Eine weitere qualvolle Stunde verging, während Nathalias Schluchzen und Schreien die tödliche Stille des Palastes widerhallte. Sie war in einem anderen Zimmer, aber ich konnte ihre schmerzerfüllten Schreie bis in mein Zimmer hören.
Ich wusste nicht, was der königliche Arzt mir in die Hand gespritzt hatte, aber der Schmerz hatte nachgelassen. Ich wiegte sanft meine gebrochene Hand und wollte Erleichterung verspüren, aber mit jeder Sekunde nagte Unruhe an meiner Brust.
Die Luft im Palast und um ihn herum war erfüllt von der Angst, die die Gefahr eines bevorstehenden Tsunamis mit sich brachte. Angst vor Zerstörung ohne Ausweg. Wir konnten nur den Tsunami vorbeiziehen lassen und hoffen, dass wir danach noch am Leben wären.
Ich blieb allein im Zimmer zurück und war vergessen, da nun jedermanns Aufmerksamkeit auf Nathalia gerichtet war.
Das Geräusch der Uhr war deutlich deutlicher geworden, ebenso wie die hastigen Schritte in den Fluren.
Ich erhob mich vom Bett und ging neben der Frisierkommode auf und ab, wobei ich nervös mit meinen Fingern spielte, während die Unruhe in meiner Brust immer größer wurde.
Ich wollte nach Hause zu meiner Mutter, zu ihren Tagebüchern. Vielleicht würde ich dann etwas Mut finden.
Ich riss den Kopf hoch, als die Tür zu meinem Zimmer quietschend aufging.
Das war es, was ich am meisten befürchtete. Er wurde wieder wütend! Er würde mir wieder wehtun.
Mit angehaltenem Atem sah ich Nikolai an, der die Stirn runzelte, als er den Raum betrat. Doch sein Gesicht wurde ausdruckslos, als er mich musterte.
Seine Augen weiteten sich benommen, während sein Blick an meinem Körper hinab zu meinem Hochzeitskleid wanderte und an jedem Detail verweilte.
Mein Herz hämmerte gegen meine Rippen.
„Ich habe Alpha nichts von meinem Arm erzählt. Versprochen. Er hat es … irgendwie … selbst herausgefunden. Ich habe ihm nichts von dir oder der Sache mit dem Auto erzählt …“, sagte ich in einem Atemzug, mir durchaus bewusst, was kommen würde, egal, was ich sagte. Er würde mir nicht vertrauen.
Er trat näher und ich schloss die Augen, mein Körper zitterte.
Er würde mich schlagen …
Aber er hielt inne. Ich blickte ihn verwirrt an.
Sein Blick huschte kurz zu meinen Brüsten, mit einem höhnischen Grinsen biss er die Zähne zusammen und stürmte wortlos aus dem Zimmer.
Ich nahm einen schnellen Schluck.
Was ist gerade passiert?
Die Stimmen in den Fluren wurden lauter und hastiger. Mein Herzschlag ebenfalls.
Ich schaute auf die Uhr. Es war zehn Minuten vor Mitternacht.
Ich konnte nicht länger in diesem Zimmer sitzen bleiben. Ich verließ das Zimmer. Als ich ein Stück den Flur entlangging, hörte ich Nathalia wimmern.
„Bruder, bitte. Tu etwas. Bitte … sie werden mich töten. Du kennst sie, sie sind Teufel“, Nathalia umklammerte flehend Nikolais Hand.
Sie trug ein funkelndes weißes Brautkleid, das mit den schönsten Diamanten geschmückt war. Etwas, das sie immer zur Schau stellte, etwas, das keinen Wert mehr hatte. Ich senkte den Blick. Wenigstens gab es jemanden, den sie anflehen konnte.
Ich würde es still ertragen müssen. In meiner Brust bildete sich ein Knoten, der sich bei Nathalias Hilferuf noch weiter zusammenzog.
„Sie sind im Rudel, du solltest … dich vorbereiten, Lia. Hör auf zu weinen. Du musst … gut für sie aussehen“, sagte Nikolai und biss die Zähne zusammen. In seinen Augen lag eine ungewohnte Ohnmacht.
Nathalia brach in stummes Schluchzen aus. Sie weinte nun schon seit Stunden. Ihre Augen waren rot, ihre Stimme heiser, aber sie flehte weiter, mal Luna, mal Nikolai. Beide konnten nur zuhören.
„Es ist alles mein Fehler.“ Nathalia sackte gegen die Wand. „Es ist Karma. Deshalb passiert das. Es ist alles meine Schuld. Ich habe ihr die Hand gebrochen. Es war meine Idee …“
Ich riss die Augen auf und spürte bei ihren Worten einen würgenden Schmerz in meiner Brust pochen.
„Ich bin die Schuldige. Es ist alles meine Schuld …“ Sie ließ sich im Türrahmen nieder.
Als die Uhr Mitternacht schlug, läutete die Hauptuhr laut. Nathalias Augen weiteten sich, Tränen strömten unaufhörlich herab.
„Nein, nein.“ Sie rannte in ihr Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu.
Plötzlich wurde der Palast von Schwerkraft erfüllt und die Luft knisterte vor Macht und Dominanz. Die Dämonenfürsten, die Drillinge, waren angekommen.
Nikolai hämmerte an ihre Tür. „Lia! Mach die Tür auf! Lia! Tu das nicht! Scheiße!“, murmelte er und schlug hilflos gegen die Wand.
Einen Moment lang blieb er ruhig, wahrscheinlich verband er sich gerade mit dem Alpha. Dann öffnete er mit einem kräftigen Stoß die Tür und zerrte Nathalia hinaus.
Sie schrie nicht mehr. Unterdrücktes Schluchzen war das einzige Geräusch, das über ihre Lippen kam.
Ich beobachtete alles hinter der Mauer versteckt.
Bevor sie weggezerrt wurde, begegnete Nathalias tränenerfüllter Blick meinem, und ihr Gesicht blitzte immer wieder vor meinen Augen auf, als würde es sich für immer in mein Gedächtnis einprägen.
Ich presste die Hände auf den Mund und brach in Tränen aus. Ich lehnte meinen Kopf gegen die Wand und sackte auf dem Boden zusammen.
Ich hielt meinen schmerzenden Kopf in den Händen und weinte, bis ich die Last meines Gewissens nicht mehr bekämpfen konnte.
Mit der Unterstützung der Wand stand ich auf. Ich hob den Saum meines Hochzeitskleides und rannte, so schnell ich konnte, mit meinen verstauchten Knöcheln durch die leeren Korridore des Palastes.
Alle hatten sich zur Trauungszeremonie im Ballsaal versammelt. Sogar die Brautjungfern waren nirgends zu sehen.
Ich rannte durch das Netz von Korridoren und blieb schließlich stehen, als ich die Hintertür des Ballsaals erreichte. Von dort aus würde die Braut den Saal betreten. Ich konnte die schwere Aura in der Luft spüren.
Keuchend zögerte ich einen Moment, bevor ich mich endgültig entschied.
Ich sah Alpha mit der schluchzenden Nathalia in der Dunkelheit warten. Ich wagte nicht, einen Blick auf die Zeremonie zu werfen, die im Ballsaal stattfand.
Der Ballsaal war für die Hochzeitszeremonie hastig dekoriert worden, sah aber dennoch gotisch schön aus.
Dunkle Wolken grollten mit Donner und Blitz am Himmel und verstärkten die wilde Atmosphäre noch.
Die Menge um Nathalia teilte sich, um mir Platz zu machen.
Luna Meesas trüber Blick fiel auf mich, doch sie reagierte nicht wie sonst feindselig.
Ich trat näher an sie heran.
Nikolai versperrte mir den Weg zu Alpha und Nathalia.
„Was machst du hier?“, sagte er mit zusammengebissenen Zähnen. „Bist du hergekommen, um unser Leiden zu genießen?“
Ich sah ihm in die Augen, und meine Stimme klang unerschütterlich. „Nur du kannst im Leid eines anderen Glück finden, nicht ich.“
Nikolai runzelte die Stirn. In seinen Augen wich der Zorn, und Tränen traten hervor.
Ich schluckte den Kloß in meinem Hals hinunter und ging an ihm und allen anderen vorbei, bis ich Nathalia und Alpha gegenüberstand.
Ich sah Alpha in die Augen.
„Ich biete mich den Dämonenfürsten an. Bitte lass Nathalia gehen“, sagte ich.
Die Menge schien im Gleichklang nach Luft zu schnappen. Nathalia starrte mich geschockt an.
„Jetzt kommt die Braut mit Alpha Valdimir herein“, hallte eine Stimme aus dem Ballsaal.
Alle standen wie erstarrt da, bis Luna Meesa Nathalia von Alpha wegriss.
„Thea … Tochter …“ Alpha sah mich mit undurchschaubar warmen Augen an.
Ich hob meine Hand über den Kopf und zog den Schleier über mein Gesicht. Ich hob meine rechte Hand so hoch ich konnte und legte sie auf Alphas Arm.
Alpha sagte kein weiteres Wort.
Ich hatte nichts zu verlieren, und mein Tod würde niemanden etwas kosten. Ich hatte nie eine Familie. Niemand würde über meinen Tod weinen. Ich wäre nicht länger der Grund für jemandes Schmerz.
Wenn ich Glück hatte, traf ich vielleicht meine Mutter. Vielleicht konnte ich mich dann richtig dafür entschuldigen, dass ich sie enttäuscht hatte. Schließlich konnte ich ihre Träume nicht erfüllen. An dem Tag, an dem ich bereits alles verloren hatte, was mir etwas bedeutete.
„Mit Bedauern kann man leben, aber Schuldgefühle … bringen einen jeden Tag um.“
Die Worte meiner Mutter gingen mir durch den Kopf.
Nathalia stolperte auf mich zu und hielt mir mit zitternden Händen den Vergissmeinnichtstrauß in der Hand. Sie senkte den Blick, als ich sie durch den Schleier ansah und ihr den Strauß aus der Hand nahm.
Ich schloss die Augen und atmete tief ein, als das Licht auf mich fiel.
Alpha hielt sanft meine Hand, als wir den Gang entlang stolzierten. Der Ballsaal füllte sich mit lautem Applaus. Mein Blick blieb auf den roten Teppich unter meinen Füßen gerichtet.
Auf halbem Weg zum Altar gerieten meine Schritte ins Stocken.
Ein dunkler Fleck kroch vom Saum meines Kleides bis hinauf zum Stoff auf meiner Brust und meinen Ärmeln und verwandelte das weiße Hochzeitskleid in ein schwarzes Kleid. Sogar der Schleier über meinem Gesicht war schwarz geworden.
Ein Schauder lief mir über den Rücken, als sich die Vergissmeinnicht in meinen Händen in einen Strauß roter Spinnenlilien verwandelten. Ich hätte den Strauß beinahe fallen lassen, mein Herz hob und senkte sich immer schneller.
Ich nahm mein Herz zusammen, umklammerte den Strauß Spinnenlilien fester und machte mich auf den Weg zum Altar.
Alpha ließ meine Hand am Fuße des Altars los.
Auf dem Altar standen drei Figuren.