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3. Kapitel

Als eine altmodische Glocke das Ende des Vormittagsunterrichtes ankündigte, stöhnte Ana erleichtert auf. Sie massierte sich den Nacken. Ihr Gesicht war schmerzverzerrt. Sie stützte ihre Arme auf dem Tisch vor sich ab und blickte auf die schneeweiße Tischplatte vor ihr. Ihre Gedanken rasten. Was war das nur für eine Stunde gewesen. Was hatte dieser Lehrer mit ihr gemacht?

Rina griff nach Anas Arm und zog sie hoch. Sie hatte bereits alle Schulunterlagen in ihrer Tasche verstaut und nickte Ana aufmunternd zu. " Komm, lass uns zum Mittagessen gehen, dann fühlst du dich gleich wieder besser. Der Unterricht mit Mr. Peters hat es immer in sich." Rina zog sie mit sich über den breiten Flur. Ana erkannte den Weg zum Speisesaal.

Beim Essen war Ana gewohnt schweigsam. Sie hatte genug damit zu tun, nicht über ihrem Mittagessen einzuschlafen. " Dir wird es gleich besser gehen.Nach dem Essen haben wir Schutzrituale. Mr. Bower ist ein fantastischer Lehrer. Alle weiblichen Schüler sind in ihn verliebt und die Jungen möchten so sein wie er. " Rina grinste. Als Ana sie ansah, ahnte sie, dass auch Rina in den Lehrer verliebt war. Eine zarte Röte überzog ihr sonst eher blasses Gesicht. Ana wandte sich ab und widmete sich dem wie immer hervorragenden Essen. Sie betrachtete die Rouladen mit Rotkohl auf ihrem Teller. Das Fleisch war butterzart und das Rotkraut schmeckte auch hervorragend. Die leichte Apfelnote machte es in Anas Augen zu einer Delikatesse.

"Bin ich satt," mit einem Stöhnen schob Ana ihren Teller von sich. Rina grinste, " du hast aber wirklich einen guten Appetit. Aber das Essen war ja auch wieder traumhaft lecker." Ana nickte. " Lass uns jetzt frisch gestärkt in den Unterricht gehen. So satt wie ich bin, haben böse Kräfte keine Chance in mich einzudringen." Rina lachte. Als Rina die bösen Kräfte erwähnte, musste Ana wieder an ihren Traum von der vergangenen Nacht denken. Sie schluckte.

Im Klassenzimmer angekommen, setzte sich Ana erneut auf ihren Platz in der letzten Reihe. Als Mr. Bower den Raum betrat, verstand Ana, was Rina gemeint hatte. Groß, muskulös, braun gebrannt. Der Lehrer war ein wahrer Leckerbissen. " Stop," schalt sie sich, " hör auf zu sabbern. Er ist dein Lehrer." Sie konzentrierte sich auf das, was der Lehrer erzählte.

"Wenn man durch einen Zauber oder Hexerei, schlechte Gedanken oder negative Energien angegriffen wird, so hat man grundsätzlich zwei verschiedene Reaktionsmöglichkeiten zur Auswahl, " erklärte er gerade." Entweder schützt man sich oder startet einen Gegenangriff. Beide Möglichkeiten werden wir uns ansehen. Aber zunächst beginnen wir mit dem Schutz. Da eure Kräfte am Anfang noch nicht so stark ausgeprägt sind, müsst ihr alle euch zur Verfügung stehende Energie nutzen, um euch zu schützen."

Er sah sich im Raum um. Ana strich über ihre Arme. Sie spürte, dass sich die Härchen auf ihren Armen aufgestellt hatten. Sie kam sich vor, als wäre sie ins Mittelalter zurückversetzt worden und befand sich nicht kurz vor dem Beginn des vierten Jahrtausends. Ana atmete tief durch. Das süßliche Rasierwasser des Lehrers zog ihr in die Nase. Sie schüttelte sich. Das roch fürchterlich. Sie ahnte, dass sie nach der Stunde noch stärkere Kopfschmerzen haben würde.

Als hätte der Lehrer ihre Gedanken gelesen, fuhr er fort: " Dies mag dem einen oder anderen von euch seltsam erscheinen, aber nach dem SuperGau ist die Welt tüchtig durchgeschüttelt worden. Die Grenzen der Religionen sind verschwommen und die alten Kräfte sind wieder erstarkt."

Ana schnappte nach Luft. Sie war plötzlich nicht mehr im Unterricht, sondern befand sich auf einem Berg. Es war dunkel. Über ihr glänzten die Sterne. Sie sass auf einer Bank und blickte auf ein wunderschönes Tal herab. Vor ihr stand ein attraktiver junger Mann mit einem grossen Kasten. Daran war ein Art Joystick, mit dem er rätselhafte Bewegungen ausführte. Sie hörte wie durch Watte seine Stimme. "Ana,du bist mein Werkzeug. Auge um Auge. Zahn um Zahn. Auch du musst deinTeil beitragen."

Sie blickte ihm in die Augen und war fasziniert. Von dem Mann ging so eine Anziehungskraft aus, dass sie sich ihm kaum entziehen konnte. Sie starrte ihn an. Seine Stimme klang wie flüssiges Gold. "Ana, gib dich mir hin. Dann werde ich dich reich beschenken." Die Berührung seiner Hand fuhr wie ein Stromstoss durch ihren Körper. "Nein," mit einem Schrei, schlug sie die Augen auf.

Sie befand sich wieder im Klassenraum.

Alle Blicke waren auf sie gerichtet. Ana spürte, wie sie knallrot anlief. Rina sah den Schrecken in den Augen des Lehrers. Erstaunlicherweise überging er die seltsame Situation. Rina wollte Ana nicht in Verlegenheit bringen. Sie blickte sich in Klassenraum um. Die anderen Schüler warfen Ana irritierte Blicke zu. Keiner traute sich, etwas zu sagen.

Auch Mr. Bower sagte kein Wort, sondern ging zu einem Touchpad, welches neben der Tür an der Wand hing und tippte schnell darauf herum. Schon entstand vor den Augen der Schüler mitten im Raum ein dreidimensionales Bild von einer Einöde. Es lagen Berge von Schutt herum. Einige Trümmer rauchten noch. Dazwischen irrten verloren einige staubbedeckte Gestalten herum. Im Hintergrund hörte man heulende Sirenen.

"Ihr sehr hier den Tag Null. Ihr wißt, dass nur wenige Menschen den GAU überlebt haben. Der große Atomkrieg hat viele Menschenleben gekostet. Die Überlebenden sind die Vorfahren der neuen Menschen. Der Begriff "Neue Menschen" wurde für die Menschen geprägt, die trotz radioaktiver Verseuchung überlebt haben. Der Atomkrieg hat die ganze Welt verseucht. Die Abkürzung GAU steht zwar für größter anzunehmender Unfall. Aber das war der erste Eindruck. Zunächst meinten die Menschen, dass es sich um ein Atomunglück handelte, als die Radioaktivität plötzlich massiv anstieg. Erst später wurde bekannt, dass es sich um einen Angriff handelte und keineswegs ein Unfall vorlag. Heute steht der Begriff für größtes anzunehmendes Unglück. Denn der dadurch ausgelöste dritte Weltkrieg hat das gesamte Leben der Überlebenden verändert. Die durch den GAU entstandenen Gendefekte haben die heutigen Menschen immun gemacht gegen radioaktive Strahlung. Dies geschah aber erst, nachdem mehrere Millionen Menschen gestorben waren." Er zeigte auf eine der Gestalten.

"Nach dem GAU haben die Menschen sich wieder auf die Götter besonnen und die Götter haben uns bei dem Aufbau der Welt, so wie ihr sie kennt, geholfen. Die moderne Technik ist ein Geschenk der Götter. In jedem Gerät steckt göttliches Wissen. Viele Dinge sind heute einfacher als früher. Den neuen Menschen ist es gelungen, Technik und Magie zu vereinen. Doch neben den guten Göttern, die den Menschen wohlgesonnen sind, ist leider auch das Chaos in die Welt zurückgekehrt. Malus ist der Gott des Chaos. Hütet euch vor ihm."

In diesem Augenblick unterbrach die Pausenglocke den Lehrer. Er sah sich im Raum um. Die meisten Schüler standen lachend und schwatzend auf und packten ihre Schulsachen ein, nur in der hinteren Reihe saß eine junge Frau wie erstarrt da. Jetzt packte ihre Banknachbarin sie am Arm. "Ana, was ist los?" Als wenn sie aus einem Traum erwachte, kam Ana langsam wieder zu sich. Sie blickte mit leeren Augen um sich. Rina schüttelte Ana erneut an der Schulter. "Ja?" Sie sah sich fragend um und sah nur noch, wie der Lehrer den Raum verließ. Als sie den auf sie gerichteten Blick von Rina sah, fragte sie: "Wie - was ist los?" " Ana, du siehst schrecklich aus. Und vorhin hast du geschrien. Was ist passiert?" Ana schüttelte sich. Sie öffnete den Mund, um Rina von ihrem Erlebnis zu erzählen, aber in diesem Augenblick durchfuhr sie ein derart starker Stromstoß, dass sie zusammenzuckte. Ein lautes:" Nein, nichts sagen", klang durch ihren Körper. "Ich glaube, ich war kurz eingeschlafen, und muss ... " sie zögerte, " wohl etwas geträumt haben." Fast erwartete sie, wieder einen Stromschlag zu erhalten, doch alles blieb ruhig.

Rina schaute sie fragend an. Ana hatte das Gefühl, dass sie ihr nicht glaubte. Sie wußte, dass es ihr noch nie gelungen war, überzeugend zu lügen. " Frag jetzt bitte nicht weiter. Ich weiß doch selbst nicht, was hier gerade abgeht," bat sie im Stillen. Zum Glück wurde Rina in diesem Augenblick abgelenkt von einem Klingeln , das aus ihrer Tasche kam. Sie zog ihren Neomelder hervor und sah auf den Bildschirm. Neomelder waren die modernen Nachfahren, der im 21. Jahrhundert so beliebten Smartphones. Während damals die Bildkommunikation noch in den Kinderschuhen gesteckt hatte, war es inzwischen selbstverständlich geworden, sich bei der Kommunikation face to face zu verständigen.

Auf dem Bildschirm erschien das Gesicht einer jungen Frau, die Ana nicht kannte. "Rina, hast du an das Treffen der Power Girls gedacht? Heute um 19 Uhr hinter der Bibliothek, aber lasst euch nicht von den Denkern überraschen. Und bring die Neue mit." Mit einem Klicken verschwand das Bild. Rina drehte sich zu Ana um. " Du kommst doch mit?" "Was sind die Power Girls?" fragte sie. " Eine Verbindung einiger Mädchen der Schule. Eine Teilnahme wird von den Lehrern gern gesehen. Aber nicht jede von uns wird genommen." " Warum nicht?" fragte Ana. " Du musst die Aufnahmeprüfung bestehen. Und die ist nicht leicht."

Ana zuckte zusammen. Sie hasste Prüfungen. Und dann irgendwelche Aufgaben vor den kritischen Augen der anderen zu lösen, das war nichts für sie. Als wenn Rina ihre Gedanken gelesen hätte, nahm sie sie in den Arm und drückte sie an sich.

"Ich weiß, wie ungern du im Mittelpunkt stehst, Ana. Aber der Test muss sein. Und keine von uns reißt dir den Kopf ab, wenn du die Aufgabe nicht schaffen solltest. Die anderen Mädchen sind alle sehr nett."

Ana schluckte. Sie wollte so gern dazugehören. Endlich in einer Clique zu sein. Und wenn sie halt so einen bescheuerten Test machen musste, um dabei zu sein. Dann sollte es halt so sein. Sie versprach sich in Gedanken, ihr Bestes zu geben. Und ganz entgegen ihrer Gewohnheit, merkte Ana, dass sie wirklich dringend dazu gehören wollte. Ihr lag etwas daran, in die Gemeinschaft der Mädchen aufgenommen zu werden. Eine Außenseiterin war sie lange genug gewesen.

Nach dem Abendessen verliessen Ana und Rina die Schule und machten sich auf dem Weg durch die Siedlung zur Bibliothek. Als sie dort ankamen, warteten schon einige Mädchen vor der Tür.

Ana merkte, dass ihr Herz schneller klopfte, als vier weitere Mädchen in langen Gewändern über den Flur auf die Bibliothek zuschritten. Jedes Mädchen hielt eine Leuchte in Form eines Turmes in der Hand. Die Türme waren einfarbig, jeder in einer anderen Farbe. Einer war nachtblau, einer tiefrot. Der Dritte sonnengelb und der vierte strahlte in grasgrün. Jedes Mädchen trug ein langes Kleid in der Farbe ihres Turmes. Sie stellten sich in einer Art Kreis auf. Ein Platz in diesem Kreis war leer. Auf dem Boden war ein Kreidekreis gezeichnet und es stand dort ein farbloser Leuchter. Die anderen Mädchen umringten den Kreis der Türme und nahmen sich an den Händen bildeten einen zweiten Kreis. Rina gab Ana einen leichten Schubs, so dass sie sich in dem großen Kreis widerfand. Die größte der Frauen im Kreis kam auf Ana zu. "Ich bin Elena, ich leite die Power Girls. Ich soll dich prüfen. Das war eine Aufforderung von der Direktorin. Ich brauche keine Neuzugänge." Ihre Augen sahen kalt auf Ana herab. "Los, komm jetzt. Nimm den Leuchter." Sie blickte mit gerümpfter Nase zu dem auf dem Boden stehenden Leuchter. Ana zögerte. " Nun mach schon, ich hab nicht ewig Zeit." Ana zuckte zusammen, sie erschrak, weil die andere so unfreundlich gesprochen hatte. Aber sie griff schon nach dem Leuchter und drückte ihn ihr in die Hand. " Und nun stell dich vor den ersten Turm. Blicke direkt auf den Turm." Das Mädchen, welches den Turm trug, hob ihn hoch, so dass er direkt bei Ana auf Augenhöhe war. Dann hielt sie den Turm Richtung Norden und sprach:" Ich rufe euch, Wächter der Türme des Nordens" In diesem Augenblick leuchtete die Glühlampe in dem Leuchter auf. Ana hörte von irgendwo her erstaunte Rufe.

Alle Schüler drehten sich gemeinsam in eine Richtung, die wohl, wie Ana vermutete Norden sein musste. Sie drehte sich ebenfalls in diese Richtung. "Nimm deine andere Hand und berühre den Leuchter." In dem Moment, in dem Ana den Leuchter berührte, flammte er auf einmal sehr hell auf. Wie als wenn sie nie etwas anderes gemacht hatte, nahm Ana ihre Hände und kreuzte sie und hielt ihren Turm vor der Brust. Dann ging es im Uhrzeigersinn weiter nach Osten. " Ich rufe euch, Wächter der Türme des Ostens." Und wieder erstrahlte auch der Leuchter im grellem Licht. Ana konnte kaum ihren Blick von dem Licht abwenden. Sie hatte das Gefühl, als wenn das Licht direkt in ihre Seele leuchtete. Sie spürte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen.

Ich rufe euch, Wächter der Türme des Südens." Ana spürte das Licht in ihrem ganzen Körper. Sie hatte das Gefühl, als wäre sie komplett von dem strahlenden Licht erfüllt. Auch der Leuchter des Südens strahlte in hellem Licht. Als auch der Leuchter des Westens aufblitzte und dann strahlend leuchtete, liefen Ana die Tränen über die Wangen. Sie konnte sie nicht zurückhalten. Sie konnte den vierten Leuchter vor lauter Tränen kaum erkennen. " So, jetzt nimm den Leuchter und stell ihn wieder in der Mitte des Kreises ab," hörte Ana eine Stimme von weit her. Dann komm zu mir. Ana folgte der Stimme wie in Trance. Die Frau, die noch immer mit ihr im Kreis stand, legte ihr die Hände an die Schläfen, wie sie es aus dem Unterricht ja schon kannte.

Doch kaum hatte sie diese abgelegt, zog sie sie auch schon wieder weg, als wenn sie sich verbrannt hatte. Ana spürte einen starken Stromstoß durch ihren Körper jagen. Sie hatte das Gefühl, in Flammen zu stehen. Eine unerträgliche Hitzewelle jagte durch ihren Körper. Sie schrie vor Schmerzen auf, dann wurde es schwarz vor ihren Augen und sie sank mitten im Kreis ohnmächtig auf den Boden.

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Langsam wird es spannend. Das Leben wird für Ana nicht unbedingt leichter. Ich freue mich, dass ihr mit ihr den Weg geht, der für sie ausgewählt ist. Schreibt mir eure Meinung zu der Geschichte. Ich freue mich auf Eure Kommentare. Danke.

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